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DAS BUCH

Abschied und Begegnung

Den Vogel - eingesperrt in einen Käfig,

darfst du nie „Vogel“ nennen;

er braucht die Luft und seine Freiheit,

nur dann hörst du ihn wirklich singen.

Er will das Nest – wo er ´s grad will,

gebaut aus Ästen und aus Glück;

lässt du ihn frei – ganz wirklich frei,

kann ´s sein, er kehrt zu dir zurück.

Doch lass es sein, darauf zu hoffen,

die Welt ist groß, der Vögel viele;

ein an-der-er wird zu dir kommen,

schenkt dir in seiner Freiheit neue Liebe.

Yüo Ku, im ersten Jahr des Kaisers Gengshi

(23 n.Chr.)

D E R B A M B U S V O G E L

(c) Stefan H. Weinert (2003 - 2009)

Auf dem Hochland (1)

Am westlichen Rand des Reiches, in der Einsamkeit, nahe dem Flusse, dort wo die Rong-Steppe bald beginnt, hatte Yüo seine neue Heimat gefunden. Das Hochland war nach den Armeepferden benannt. Sie gehörten zum Gestüt der ersten Kaiser. Wegen seiner Grenzlage aber wurde diese Gegend von den späteren Machthabern vernachlässigt. Zwischen der Hütte und der Hochebene lag Baumland – wohl zwölf Li oder zwei fingerbreit Sonne. Schlank waren die Tannen, mächtig die Zedern und sanft die Birken. Dazwischen geduckt, Buschwerk mit schmackhaften Beeren – rot, gelb und blauschwarz. Im beharrlichen Wind erfüllte ein flüsterndes Rauschen die Gegend. Die Hütte war umgeben von schattenspendenden Bäumen und sie reichten nach Norden hin dem Walde die Hand. Äste einer mächtigen Kastanie wölbten sich schützend über das Dach des kleinen Hauses. Samen von Tamarisken und Kameldorn hatte sich mit den herbstlichen Stürmen von der weit entfernten Wüste Gobi nach hier in den Garten verirrt. Yüo ließ sie sich entfalten, und die Erdtriebe gruben sich bis zu hundert Chi tief in den Hang. Die Schoten aber der Tamarisken wurden von den Ziegen gern gefressen, denn sie waren schmackhaft salzig, und auch der Kameldorn wurde regelmäßig seiner bitteren Rinde wegen geschält.

Ben gu zhi rong - wenn die Wurzeln tief reichen, dann gedeihen die Zweige.

Hatte der Wanderer den Wald nach Norden hin durchschritten, lag vor ihm ein atemberaubend schönes Plateau. Grüngoldenes Langhalmgras, das im fortwährenden Wind stöhnte; Achillenkraut, das der Gegend den scharfen Atem gab; Blumen von schönstem Gelb, zart mit Rot umrandet, von hellem Violett kandiert mit Eierschalenweiß, von Blau mit grünem Kranz und schwarz gepunktet; Moos so weich wie Samt; prächtige Schmetterlinge in allen Farben; schöne Libellen, eifrige Bienen, surrende Mücken, im Sonnenlicht blank schillernde Käfer und viel Gewürm.

Eine befestigte Strasse zu der Hütte des jungen Bauern gab es nicht. Ein bepacktes Maultier, angefeuert von seinem Treiber, ein gezogener kleiner Karren, eine Herde von Ziegen und eine Schar von Hühnern mochten sich vielleicht gerade auf den schmalen und versteckten Saumpfaden bewegen - doch nicht ohne Stockhiebe, nicht ohne zurückschlagende Äste, nicht ohne Flüche ging es. So war Yüo nach hier gekommen. Der gesicherte Weg aber, auf dem ein Ochsengespann oder eine Karawane mit Kamelen und Pferden gut vorwärtskommen konnte, führte zwei Tagesreisen jenseits dieser Gegend vorbei. Nur selten jedoch zogen zu dieser Zeit Reisegesellschaften durch das Herzogtum Qinghai. Vor allem galt die Präfektur Qaidam als höchst unsicher. Immer wieder gab es argwöhnische und üble Gesellen am Wegesrand. Das war die Bande des geächteten Prinzen Liu Xiu aus der Familie der Han. Mit seinen beiden Halbbrüdern hatte er gut fünfhundert raue Gesellen um sich geschart. Als Erkennungszeichen hatten sie sich die Stirne mit Henna eingefärbt. Die „Roten Augenbrauen“ aber raubten reiche Händler aus, um davon zu leben und um die restliche Beute unter den Armen zu verteilen. Vom einfachen Volk wurden sie deshalb geliebt und geachtet und von seinen Frauen begehrt. Von Adligen und anderen Wohlhabenden aber gefürchtet. Von den Soldaten des Herrschers wurden sie durch das ganze Land verfolgt. So waren es denn vorwiegend Einfache und Gemeine, Einzelgänger, Pilger und Eremiten, die sich zu dem Anwesen des Yüo trauten oder, wie es manchmal geschehen konnte, gar verirrten.

Auch die wenigen Freunde, vor allem Chang Tou-fa, kamen hin und wieder, um mit dem Sohn des gemeinen Bauern Ku eine Schale Tee zu trinken. Dann gab es eine Zeit des Austausches von Weisheiten und Neuigkeiten, um anschließend das Schweigen zu pflegen. Es konnte aber auch geschehen, dass Yüo - sah er einen Wanderer nahen - so tat, als hätte er diesen nicht wahrgenommen. Oder aber, er ließ ihn kurz verweilen und forderte ihn dann bald grob auf, wieder zu gehen. Er tat alles so, wie es ihm beliebte und Rücksicht auf die anderen oder die allgemeinen Gepflogenheiten nahm er dabei nicht. Er war manches Mal gerne alleine in seiner Welt, voll mit Schwermut, voll mit Kummer, voll mit Hoffnungslosigkeit und Selbstmitleid. An solch einsamen Tagen sprach er mit den Tieren, als wären sie Menschen. Yüo lebte in dem Bewusstsein, dass er sein Verweilen auf Erden jetzt in den Lauf der Geschichte einbringen konnte. Denn wie jedes menschliche Wesen hatte auch er etwas Göttliches in sich, etwas Einzigartiges, das ihm Eltern und Voreltern hinterlassen hatten. Daran glaubte er fest. Alles lag tief verborgen und nur Weniges kam in dieser oder jener Form ans Licht. Der Sohn des Bauern Ku erkannte, dass Vieles verschüttet war, wie die Mauern und Türme einer einst schönen Tempelanlage unter dem Staub der Jahrhunderte. Es war nun seine ureigenste Lebensaufgabe, Schicht für Schicht abzutragen, um sein Selbst und damit die Göttlichkeit zu finden. Durch Besinnlichkeit und Vertiefung wäre es möglich, dachte er und würde er das alles im Dunkel seiner Seele lassen, dem Kosmos entginge damit ein weiterer Funke des ewigen göttlichen Lichtes. Ein kostbarer Edelstein im himmlischen Mosaik würde für immer fehlen. Davon war Yüo überzeugt. So sog der junge Mann mit Dankbarkeit an jedem neuen Morgen die natürliche und wunderbare Luft ein. Mit allen möglichen scharfen, süßen und herben Düften war sie erfüllt - Weltenenergie vom Himmel und Lebenskraft aus dem Boden. Dann dankte er den Göttern für das Wiedererwachen.

Yüo staunte über die Vielfalt der Natur. Er konnte es genießen, den Schmetterlingen nachzusehen, den Vögeln zuzuhören und ihre Gestalt zu bewundern, die rotbraunen Eichhörnchen zu beobachten, und angesichts der dahin ziehenden Wolken in Träumen dahinzuschweben. Das Leben war schön und konnte ein Paradies sein - jedenfalls solange Einfachheit, kindliches Staunen und Vertrauen, Zufriedenheit und Dankbarkeit für die kleinen Dinge seine Weggefährten waren.

Was du im Himmel suchst, das kannst du auf Erden finden.

Manchmal saß Yüo in seinem Garten und dachte bei sich, wie seltsam und wunderbar es doch war, zu leben. Atmen, denken, träumen! Mit den Augen die Fenster zur sichtbaren Welt öffnen, mit den Ohren in die Halle der vielen Klänge eintreten und mit dem Mund Unvergängliches schaffen! Yüo gelangen keine großen Dinge, aber er entdeckte in der unscheinbarsten Blume den Himmel; er brachte es nicht zu Ruhm und Ehre unter den Menschen, aber kaum jemand sprach so vertraut mit den Göttern; er hatte nicht viele Freunde, dafür aber konnte er die Widrigkeiten auf seinem irdischen Weg in Lieder oder Gedichte verwandeln. Aber Yüo war beileibe kein Makelloser, er war kein Engelwesen. Manchmal war er hart und abweisend. Er konnte sehr wohl die Seele eines Mitmenschen durch unpassende Worte verletzen. Dazu war Yüo auch sehr selbstbezogen und dachte im Umgang mit anderen immer zuerst an sich. Dies war die andere Seite der Münze. Dunkle Flecken hatte Yüo genug.

Nur wo ein Licht scheint, gibt es auch Schatten!

Manchmal meinte Yüo sich am Ziel, zuweilen aber zweifelte er über die Richtigkeit seines Weges. Es schien ihm immer, als wandere er auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Blindheit, Überzeugung und Zweifel, Gewissheit und Trugschluss. Tröstend für ihn war die Tatsache, dass auch das größte Meer sich nur langsam zu seiner Tiefe senkt und am Beginn flach ist. Das Meer fällt nicht gleich am Ufer schon steil ab, sondern fällt Schritt für Schritt. So war es auch wichtig, mit sich selbst geduldig zu sein und nicht gleich alles für sein Leben zu erwarten. – Das Tao zu finden, war eine Lebensaufgabe.

Verletzungen (2)

Blutrot hatte die Sonne begonnen, sich vom Tag zu verabschieden. Unbekümmert und auch ungestüm war Yüo an jenem Sommerabend in eine hohe, schlanke Kiefer unweit des Anwesens seiner Eltern geklettert. Nur einen kleinen Moment war er unvorsichtig gewesen. Aus dem Wipfel des Baumes stürzte der Junge in die Tiefe. Niemand war da, der ihn davor bewahrte, niemand war da, der ihn auffing, niemand war da, der dies verhinderte. Als die Geschwister und Freunde den Schrei des Jungen hörten und ihn dann da so leblos am Boden liegen sahen, eilte Yüos kleine Schwester zu der Ma und einer der Freunde lief zu dem Vater auf das Feld. Versammelt unter dem Baum, bot sich allen ein schreckliches Bild. Durch die tiefe Risswunde quer über der rechten Wange und durch den Spalt über dem Auge war das bleiche Kindergesicht mit einem schrecklichen Kontrast versehen. Auch dem herbeigerufenen Lebensheiler gelang es nicht, Yüo zu erwecken. Er tastete Brust und Bauch des Opfers ab. Es gab wohl keine Verletzungen im Innern und auch Beine und Arme schienen unversehrt. Doch ging der Atem des Jungen sehr flach und kraftlos, und verborgen war sein Aderschlag. Erst auf der dritten Ebene konnte der Yisheng den Puls erfühlen. Nachdenklich wiegte er den Kopf hin und her. Auch wenn die Hoffnung weit entschwunden schien, wie die Sonne jetzt hinter den Weinbergen, so gab der Heiler den Jungen doch nicht auf. Kunstvoll vernähte er auf Hoffnung hin und mit großer Sorgfalt die Wunden des Jungen und legte ihm seine Hand auf. Die Eltern trugen das Kind im ersten Schleier der anbrechenden Nacht vor den Hausaltar. Es wurden Lampions und Butterkerzen entzündet und der Junge wurde mit Lotoswasser besprengt. Die Familie legte Weihrauch in die Glut des Herdfeuers und flehte in langen Gebeten zu den Vorfahren und Geistern und zu den Göttern.

War es Schicksal oder Fügung, Glück oder Wollen? Hatten es die Götter so geführt? In jenen Tagen nämlich war eine kleine Schar von Mönchen durch den Ort gezogen und hatte auf dem Nachbargehöft Unterschlupf gefunden. Der Vater begab sich noch am Abend nach dort und bat den ältesten der heiligen Männer in sein Haus. Unterwegs berichtete er dem Mönch von dem, was geschehen war und wie sehr er den sterbenden Jungen liebte. Der Priester aber legte dem kleinen Yüo die Hand auf, salbte ihn mit Olivenöl und tat tief versunken und kaum hörbar Fürbitte. Nach einer Gabe der Eltern in die Almosenschale kehrte der Weise zu seinen Novizen zurück. Dann - nach drei Tagen - erwachte der schon tot Geglaubte auf seinem Lager. Es erschien allen wie ein Wunder vom Himmel. Die Mönche aber waren schon tags zuvor weitergezogen. Morgens und abends flößte nun die Mutter dem kranken Jungen Ren-Shen Tonikum, das bei einem schwachen Puls verwendet wird, ein und mischte Pulver der Süßholzwurzel unter den Hirsebrei. Yüos Gesicht aber war durch die vernähten Wunden entstellt. Doch die Genesung schritt voran. Es war aber nicht nur die Medizin und die Fürsorge des Arztes, und es waren nicht nur die Segnungen durch den Fremden, die ihn genesen ließen. Es war auch der tiefe und feste Glaube seiner Eltern, der ihm das Leben erhielt. Erst nach einem Monat durfte der Junge das Haus zum ersten Male wieder verlassen. Doch bis hinein in das hohe Alter konnte sich Yüo an das Hinaufklettern in den Baum und den Sturz in die Tiefe nicht erinnern.

Im Jahr nach dem Unfall sandten die Eltern den Knaben gemeinsam mit dem älteren Bruder nach Songpan an den See der Kraniche, damit sie sich erholten. Der eine von seinem Unfall, der andere von seiner Arbeit auf den väterlichen Feldern. Das Klima am Kranichsee war mild und heilsam. Doch Yüo weinte drei Tage und drei Nächte, weil er den Verlust von Mutter und Vater befürchtete. Der reifere Bruder, die Heiler, die Pfleger und Erzieher bemühten sich sehr um den Jungen. Der Heiler aber untersuchte jedes der Mädchen und jeden der Jungen gründlich. Als Yüo bei ihm war und der Arzt seinen Puls gefühlt, ihn abgeklopft und ihn befragt und sein Ohr an sein Herz gelegt hatte, sah er den Kleinen besorgt an. „Du darfst nicht wie die anderen herumtoben, du darfst nicht schnell mit den anderen um die Wette laufen. Deine Schritte sollten bedächtig sein.“ Yüo hatte den Yisheng nur mit großen und unschuldigen Augen angesehen und außer einem kurzen „Shi“- ja, jawohl, so sei es - hatte er nichts gesagt, sondern nur brav mit dem Kopf genickt. Doch innerlich war es in seinem kleinen Herzen anders beschlossen. Später im Alter wünschte sich der Sohn des Bauern Ku, er könnte so unbefangen sein wie damals. Wie viel leichter ließ sich damit leben! Besonders tat Yüo die Nähe seiner Aufseherin gut. Zu Beginn der nächtlichen Ruhe kam sie in den Schlafsaal, beugte sich über ihn und küsste ihn auf die Lippen. Er spürte ihren Atem und empfing die unsichtbaren Strahlen ihrer Weiblichkeit. Bei den geistlichen Übungen und Andachten im Betsaal fasste sie seine Hand, oder nahm den Yüo auf ihren Schoß. Die Aufseherin ging auch zu den andern Betten. Dort tat sie aber nicht so.

Die Schrecken der Trennung waren bald überwunden und auch diese Monate vergingen, wie alles im Leben vorübergeht, und beide Jungen kehrten gestärkt in die Heimat zurück.

Bai chuan gui hai – alle Flüsse münden in das Meer; alle Dinge weisen in eine Richtung.

Seelenheil und Seelenqual (3)

Es gab im Leben Yüos noch ein weiteres und bedeutendes Erlebnis. Der Junge war trotz des Unglücks bei der hohen Kiefer ein sehr gelehriger und aufnahmefähiger Mensch. Seine Lehrerin erkannte bald, dass er zu Höherem berufen war. In der Hütte der Erzieherin lernten täglich wohl ein Dutzend Mädchen und Buben, doch der Junge mit den Schmissen im Gesicht übertraf sie mit seinen Kenntnissen und seinem Scharfsinn alle. Aber in einem jener Jahre geriet der Gelbe Fluss durch ein lang anhaltendes Unwetter sehr schwer über die Ufer und zerstörte nicht nur das elterliche Haus, sondern machte auch die Felder und Hänge mit den Weinstöcken um die Stadt Yushu für lange Zeit unfruchtbar. Alles sah hier aus, als müsste die Welt neu geschaffen werden. Der Präfekt dieses Landstriches bot dem Vater der Familie Ku Grund und Boden drei Tagesreisen weit von der bisherigen Heimstätte an. Dieser Flecken lag jenseits des Flusses und war vom Unwetter verschont geblieben. Sehr bald darauf siedelte die Familie also nach der Stadt Qamdo um. Doch Yüos Qi versiegte mehr und mehr. War der Fluss seines Wissens bisher und trotz des Sturzes von der Kiefer in Harmonie, so wurde dieser Einklang durch die fehlende Einfühlsamkeit und das mangelhafte Interesse der neuen Erzieherin bei dem Jungen zerbrochen. Sie gab den Kindern Aufgaben, aber ihre Ergebnisse interessierten sie nicht. Sie überließ sie in vielen Stunden sich selbst und vergnügte sich derweil anderweitig. Sie hatte die Jungen und Mädchen voneinander getrennt und unterrichtete jede Gruppe gesondert. In der Jungenklasse aber herrschte ein grober und sittenwidriger Ton. Dies alles war für die zarte Seele Yüos zuviel. Innerhalb weniger Monate schlug die einstige Begeisterung des Jungen in Gleichgültigkeit und seine Leistungen ins Mittelmaß um. Yüo fühlte sich alles andere als wohl, aber wer weiß, was aus Yüo geworden wäre, hätte es auch dieses Vorkommnis nicht gegeben! War nicht auch der Sturz aus der Kiefer letztlich ein Segen für ihn geworden! War das nicht der Beweis eines lebensbejahenden Gottes! Den Schatten des Berges, gibt es ihn nicht nur deshalb, weil die andere Seite von der Sonne beschienen wird! Waren nicht im Fluss der Zeit, nach der Hälfte des Tages, Licht und Dunkel gewandert! Wurden nicht die hohen und schlanken Bäume geschlagen, um aus ihnen Hütten, Schiffe und Kriegsgerät zu bauen und bleibt nicht der Baum verschont, dessen Früchte ungenießbar, dessen Blätter unansehnlich , dessen Äste knorrig und krumm sind und dessen Stamm bucklig ist! Ja, mitunter galten solche Bäume gar als heilig!

Zai jie nan tao – keine Flucht gibt es vor dem, was der Himmel will.

Nie würde der Junge vergessen, wie der Vater einst unter einer schweren Erkrankung der Nieren litt. Sein Körper war von innen her vergiftet und die Auswirkungen auf sein Gemüt waren furchtbar. Unberechenbar schrie er Weib und Kinder an. Als Yüo einmal alleine mit seinem Vater in der Kammer saß, wurde dieser wieder ungerecht und redete wirre Worte. Er drohte, die gesamte Familie zu töten, denn alle wären mit ihm ungerecht und hätten sich gegen ihn verbündet. Ihn jedoch – Yüo - wolle er leben lassen, denn er sei anders als die Brüder und Schwestern und die Mutter. Das Gesicht des geliebten Vaters war von Wut und Bosheit verzerrt, die Worte klangen wie Hiebe der Axt auf Eisen, die Augen funkelten wie Blitze. Vor dem Jungen saß ein Fremder und er flehte zu diesem, es nicht zu tun und berichtete es später der Ma. Die Ma rief den Arzt. Der gab dem Vater nicht nur Medizin, sondern er sprach auch lange mit dem Weinbauern. Den Göttern sei es gedankt, dass bald Genesung geschah. Der Vater trat vor die Familie und bat um Nachsicht. Natürlich wurde sie gewährt, aber die Drohung blieb in den Seelen haften. Es mussten noch sehr viele Jahre vergehen, bis Yüo seinem Vater von Herzen vergeben konnte, obwohl dieser dann schon in der Schattenwelt weilte. Nun tat es ihm furchtbar leid, dass der Vater gegangen war und vieles von dem, was er noch vorhatte, nicht hatte verwirklichen können. So nahm sich Yüo vor, es an seiner Stelle zu vollbringen. Vor dem Altar der Ahnen sprach er mit dem Vater darüber, bat ihn um Vergebung und gewährte sie auch ihm.

Yüo war dankbaren Herzens für das Geschenk des Lebens. Da aber der große Meister Kong schon vorzeiten davon gesprochen hatte, dass Maß und Mitte das Höchste sind, kämpfte Yüo darum, diesen Pfad zu beschreiten. Ihm war bewusst, dass, wie Körper und Seele, auch Nahrung und geistige Einflüsse untrennbar zusammengehörten. Allein - vollkommen war er nicht.

Die Hütte (4)

Das kleine Haus Yüos hatte ein Vordach, das aus der gegerbten Haut eines Yaks bestand. Die Kochstelle war ein paar Schritte nach rechts von der Hütte verlegt, dort wo das Gesträuch einen Halbkreis bildete. In den zwei hinteren Ecken des Wetterschutzes hatten Schwalben ihre Nester gebaut. Später im Jahr, wenn die Vögel ihre Brut und Aufzucht hinter sich hatten und zum großen Meer aufbrachen, würde Yüo die Nistplätze vorsichtig herunternehmen und den ausgewürgten gelben Schleim aus dem Inneren der Nester heraussammeln. Befreit von Kot und Federn, war er eine köstliche Speise. An den vorderen Stangen des Wetterfanges waren Streifen aus rotem Leinen befestigt. Sie flatterten im Wind, spendeten Trost und gaben Sicherheit. Den Wanderern zeigten sie einen Ort des Göttervertrauens an. Dieses tat auch der Gesang der Windharfen. Yüo hatte Bambusröhrchen in verschiedenen Längen eng nebeneinander an die linke Seite des Vordaches gehängt. In der ständigen Brise des Tages schlugen sie gegeneinander und verbreiteten so einen sphärischen, wohltuenden Klang. Manchmal, wenn ein besonderer Windstoß die Hütte erreichte, schnalzte das Vordach seinen eigenen Takt dazu. Im Reich der Mitte aber gab es zwölf Halbtöne innerhalb einer Oktave. Der Grundton war in einer bronzenen Glocke festgelegt, die sich unter Verschluss am kaiserlichen Hof befand. Dort gab es sogar einen Minister für Musik. Über dem Feuer stand das dreibeinige Gestell, an dem abwechselnd der große Topf für die gute Hühnersuppe oder der weit ausgeladene dünnwandige Kessel hing, in dem Gemüse gegart oder Nudeln und Reis gebraten wurden. Solange Yüo hier an den Terrassen nahe der Hochebene verweilte, erlosch die Glut der Kochstelle nie. Nicht einer, den man nach diesem kleinen Mann fragte, konnte sich erinnern, dass der Sohn des Bauern Ku gerade mal nicht gute Hühnersuppe kochte oder sie zur Seite bereitgestellt hatte. Allerdings lud der junge Bauer keinen seiner Gäste zum Essen der Suppe, obwohl es die Gastfreundschaft geboten hätte. Nur wer beständig beim Trinken des Cha auch zur Feuerstelle schielte, konnte womöglich mit einer kleinen Tasse rechnen.

Die Bäume machten nach Norden einer Weide Platz, die mit langhalmigem Steppengras bewachsen war und aus der sich zwei Felsen wie die Panzer von Schildkröten wölbten. Aus einem der Steinblöcke sprudelte eine klare, kalte Wasserquelle. Eingesäumt war die Lichtung von dem dann beginnenden dichten Wald, der rechter Hand bis an den von Yüo kunstvoll gestalteten Steingarten stieß, durch den sich über Kalksteine sprudelnd die Felsquelle ergoss. Der Garten wurde von einer Steinmauer umgeben und Yüo hatte versucht ihn so zu bauen, dass sowohl das Weibliche, als auch das Männliche in ihm zugegen war. Damit das Qi ungehindert in den Garten und auch durch ihn hindurchströmen konnte, musste der Besucher von Süden her den oben gerundeten Torbogen durchschreiten und so das Reich des Friedens betreten, und er konnte ihn ebenso nach Norden hin durch ein solches Tor in Richtung Wald wieder verlassen. Bächlein und Steine bildeten wie Knochen und Adern den menschlichen Körper ab und erinnerten den Sohn des Bauern Ku immer wieder an die Tatsache, dass alles sich verändert und dass das Schwache am Ende doch über das Starke siegt. Hatte nicht der alte Laozi einst darüber dieses gesagt:

Auf dieser Welt ist nichts so weich

und nachgiebig wie das Wasser.

Doch zum Auflösen des Harten und Starren,

ist nichts besser geeignet.

Das Weiche überwindet das Harte;

das Sanfte überwindet das Starre,

jeder weiß, dass dies so stimmt,

aber nur wenige können danach handeln.

Daher – inmitten des Leides

bleiben die Meister gelassen.

Unheil kann nicht in ihr Herz eindringen.

Weil sie das Helfen aufgegeben haben,

sind sie für die Menschen die größte Hilfe.

Die Wahrheit ist ein Widerspruch.

Wegen seines kristallenen Wassers nannte Yüo den kleinen Fluss, Ming Liang. Und so wird er heute noch genannt. Er entsprang nahe der nördlichen Hügeln des Rong Hochlandes und er war kühl. Nur in den Wochen des regnerischen Spätherbstes färbte sich das Gewässer vom abgeschwemmten rotgelben Löss und brachte diesen in die Tiefebene. Im Frühling und Sommer lief Yüo oft barfüßig im kniehohen tiefen Wasser. Mit den nackten Sohlen konnte er so die Steine am Grund des Flüsschens erfühlen. Die besonders glatten Steine wurden vom Gelben Volk Jade genannt und waren sehr kostbar. Gegen Nierenbeschwerden und Blasenleiden waren sie gut. Es konnte mit ihr Ware bezahlt, oder ein herrliches Gefäß hergestellt werden. Wer Jade besaß, dem sollte das Glück begegnen. In ihr war die Kraft des Universums vereint und sie förderte den heilsamen Schlaf. Die schwarze und grüne Jade gab es hier so gut wie nicht. Diese wurde in Flüssen und Bächen vom Qilian-Shan in den Schilfsee gespült. Am Ming Liang wusch Yüo sich, und hier reinigte er seine Kleider. Oft aber warf er das Netz in das Flüsschen und konnte so mit einer überaus köstlichen Mahlzeit rechnen, wenn ihm nicht Graureiher und Eisvogel den Fang wegstahlen, was manchmal geschah.

Ging der Wanderer einen fingerbreit Sonne Richtung Sonnenaufgang am Flüsschen entlang, war es ihm möglich, den roten Ton vorzufinden. Er war gut zu verarbeiten und Yüo hatte aus ihm nicht nur den Ofen in der Hütte hergestellt, sondern auch so manche Schale aus ihm geformt und im Feuer gebrannt.

Verzauberte Herzen (5)

Die Abendsonne gab eine milde Wärme. Yüo war den Fluss hinab Richtung Osten gegangen, um den roten Ton zu holen. Von dort kam er jetzt zurück und stapfte den gewundenen Pfad hinauf zur Hütte. Bekleidet mit einem blauen Schurz und einem naturbelassenen Überwurf trug er zwei Bottiche gefüllt mit Lehm. Die Eimer hingen an einem Joch aus Kirschbaumholz, und sie waren gerade so schwer, wie es die Stärke eines Mannes erlaubte. Aber an diesem Abend sollte alles ganz anders werden als gewöhnlich. An der Stelle angekommen, dort, wo Yüo einst seinen ersten Teestrauch gepflanzt hatte, vernahm er den Gesang eines Vogels, den er zuvor noch nie gehört hatte. Das Zirpen der Grillen und das Schnarren und Schrillen der Zikaden, das Rauschen der Blätter und das Plätschern des kleinen Flusses untermalten seinen unerhört schönen Gesang.

Der junge Mann hielt inne und suchte mit erstaunten Augen die Gegend ab, doch vergebens. Welches Geschöpf nur konnte so makellose und betörende Töne von sich geben? Die Melodie schien ihm eher auf einem himmlischen Instrument gespielt. Der Bauer versuchte genauer hinzuhören, um herauszubekommen, woher die Stimme kam. Dann, einen Moment später, erblickte Yüo den Sänger auf einem Stapel Bambus, der neben der Hütte lag und noch verarbeitet werden musste.

Es wunderte Yüo nicht, dass der Vogel zunächst unsichtbar geblieben war. Hätte dieser nicht kurz mit den Flügeln geschlagen, wäre er im Schutze des Riedstockes auch weiter unentdeckt geblieben. Sein Gefieder war nämlich der Farbe des reifen Bambus sehr ähnlich. Nur der Hals und ein Streifen auf Brust und Bauch waren von leichtem Grün. Der Schnabel aber war schwarz, gleich dem Ruß der Kieferrinde.

Es mochten vielleicht dreißig Schritte bis zu dem Platz sein, wo sich der seltsame Gast niedergelassen hatte. Mit gerecktem Hals sang er mit ganzer Kraft sein Lied gen Himmel, als wolle er die Götter lobpreisen. Yüo bückte sich, um sein schweres Joch abzusetzen. Er wollte den bezaubernden Sänger eingehender betrachten und ihm in Ruhe lauschen. Doch in dem Moment, als die Behälter den Boden berührten, verstummte der Gesang. Kurz hielt der Vogel inne und flog dann am Waldesrand entlang in die untergehende Sonne. Yüo richtete sich auf. Geblendet stand er da und wie in den Boden verwurzelt. Nie zuvor hatte er solch einen schönen Vogel gesehen, nie so ein wundervolles Lied vernommen.

Welch ein Gesang! Es waren nicht nur Laute für das Ohr – es war auch eine Botschaft für das Herz. Es war nicht nur eine Melodie – es war ein Gedicht. Es war nicht nur Musik – es war Gefühl. Einen Moment dauerte es, bis sich der Sohn des Ku gefangen hatte. Er nahm die Last wieder auf und stapfte hinüber zur Hütte.

Später, als er die Hühnersuppe schlürfte, musste Yüo immer wieder an den seltsamen Vogel denken. Der Wohlklang seines Gesanges wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Lange noch, im Schein des Feuers, lauschte er in die herannahende Dunkelheit , wohl wissend, dass es kaum einen Vogel gab, der des Nachts singt. „Komm wieder,“ flüsterte er. „Komm wieder!“

An diesem Abend entschloss sich Yüo, nicht im Schutze des Hauses, sondern bei den wärmenden Steinen der Kochstelle zu schlafen. Und während er noch einen Scheit nachlegte, dachte der junge Bauer darüber nach, warum ihn dies alles so tief berührt hatte.

Welch ein Gesang!

Yüo schlug das Yakfell um sich und bettete seinen Kopf auf dem Reiskissen. „Es gibt keine Zufälle,“ murmelte er und dämmerte dahin. Als der Morgen kam, fiel es ihm nicht leicht zu unterscheiden, was er geträumt und was er wirklich erlebt hatte.

Als drei Tage später, etwa beim Höchststand der Sonne, Chang Tou-fa zu der Hütte seines Freundes kam, war dieser nicht ausfindig zu machen. Wo Chang auch suchte, er fand Yüo nicht. Er schaute die Terrassen hinunter zum Bach, ging ein paar Schritte in den Wald und schlug sogar den Gong, um auf sich aufmerksam zu machen. Weit konnte Yüo aber nicht sein, denn der Kochtopf mit der guten Hühnersuppe dampfte über dem Feuer. Chang nahm nichts von dem würzigen Gericht, sondern setzte sich nach einer Zeit der Höflichkeit auf das alte Weinfass. Dieses stand zwischen Haus und den Ställen im wohltuenden Schatten der alten Kastanie. Er war bereit zu warten. Mit einem Tuch wischte sich Chang den Schweiß von der Stirn und kämmte sein langes Haar mit den Fingern in den Nacken. Dann nahm er einen Schluck aus dem Lederbeutel und ließ den Fächer aus Sandelholz vor seinem Gesicht spielen.

„Welch ein Genuss“, dachte Chang Tou-fa, „nach der langen Wanderung und der Anstrengung der vergangenen Stunden unter den ausgebreiteten Armen des Baumes zu ruhen.“ Während er eine zeitlang so verweilte, ließ sich nicht weit von ihm in dem aufgeschossenen Ginsterbusch ein Vogel nieder. Dies war nichts Ungewöhnliches, denn in der Nähe von Hütten und Stallungen gab es immer ein paar Krumen zu finden. Der Vogel zog die Aufmerksamkeit des müden Wanderers ganz auf sich. Er war ohne Frage von außergewöhnlicher Schönheit. Chang hatte ein solches Geschöpf nie zuvor gesehen. Um das Tier nicht aufzuschrecken, hatte er mit dem Fächeln innegehalten. Aufmerksam und regungslos betrachtete er den Neuankömmling. Dessen Gefieder war tiefgelb und an manchen Stellen wie Bambus braun gesprenkelt. Von der Kehle abwärts bis über den Bauch lief ein schmaler Streifen von zartem Grün. Die Handschwingen des Vogels lagen eng am Körper, und über den flinken Augen lag ein Streifen kaum merklichen Blaus. Mit zurückgebogenem Kopf begann der Vogel, sein Gefieder zu putzen. Welch ein wunderbares Geschöpf! Niau-Zhuzi, Bambusvogel, wäre der treffende Name für ihn. Chang hatte seinen Hunger ganz vergessen – sogar die heimatlichen Sorgen. Er hatte das Gefühl, dass sich der Abstecher nach hier schon jetzt gelohnt habe. So ging es eine Weile.

Chang lief der Schweiß in die Augen. Doch traute er sich nicht, diesen mit der Hand wegzuwischen. Regungslos war sein Körper – nicht aber seine Seele. Welch ein Geschöpf! Welch ein Moment im Bogen der Unendlichkeit!.

Dann musste Chang seine Betrachtung beenden, denn ganz unverhofft unterbrach der Vogel seine Beschäftigung und stieß sich von dem Ginster ab. In Richtung des Baches flog er. Nun bemerkte Chang seinen Freund Yüo, der aus dem Wald getreten war. Auf dem Rücken trug er ein Bündel dünnen, ebenen Holzes. Der Wartende erhob sich von dem Weinfass und ging auf Yüo zu.

„Wo de peng you. Wo hen gaoxing ni ren shi. Ni hao ma? - Mein Freund, schön dich zu sehen. Wie geht es dir?”, sprach zuerst Chang. Yüo aber ließ das Bündel von seiner Schulter gleiten.

„Danke, auch ich freue mich, dich zu sehen, mein Freund. Und natürlich hoffe ich, dass es auch dir gut geht.“

Beide hatten sich voreinander verbeugt.

„Oh ja, es geht mir immer gut, wenn ich zu Gast bei dir sein darf, wo de peng you.“

„Das freut mich zu hören, wo de peng you. Ich hörte den Gong, den du schlugst.“

Wohl waren dem Gast die Worte der Begrüßung vertraut. Aber an der Art und Weise, wie sie heute von Yüo gesprochen wurden, spürte Chang eine gewisse Bedrückung bei seinem Freund. Er hielt es aber für ratsam, darüber zu schweigen. Stattdessen lächelte er.

„Wie lange wartest du schon auf mich?“, fragte Yüo und fuhr fort: „Komm, setz dich mit mir ans Feuer. Wir wollen uns - wenn es dir recht ist - mit einem Mahle stärken und auch gemeinsam den Cha trinken.“

Mit einladender Armbewegung bat der Gastgeber Chang an das Feuer.

„Setz dich doch!“

Zwei grobe Holzklötze dienten den beiden als Schemel. Dann antwortete der Weitgereiste auf die gestellte Frage:

„Seit ich ankam, ist der Schatten etwa einen Finger weit gewandert.“ Er machte eine bedeutungsvolle Pause und sprach in gesenktem Ton:

„Aber langweilig wurde mir dabei nicht.“

Nun griff Chang in die Kitteltaschen und brachte zur Freude Yüos zwei Jadesteine hervor.

„Da ich weiß, mein Freund, dass grüne und schwarze Jade hier nicht zu finden ist, habe ich sie dir mitgebracht.“

Yüo nickte mit einem breiten Lächeln.

„Xiexie! Ni shi fan le ma? – Vielen Dank! Hast du heute schon etwas gegessen?“

Yüo hatte seinen rechten Arm zum Kessel hin ausgestreckt.

Chang Tou-fa war erstaunt. Diese Höflichkeit war ihm bei seinem Freund so noch nie begegnet. Nicht die Frage war es, denn die gehörte wie der Weihrauch in den Tempel. Es war die Einladung zur dampfenden Suppe! Niemand in der Provinz Qinghai konnte sie so gut kochen wie der Sohn des Ku. Immer hatte Chang mit seinen Augen um eine Schale Hühnersuppe betteln müssen und beileibe nicht immer war er damit erfolgreich gewesen. Später, als sie beim süßen Tee saßen, erzählte Chang seinem Freund von dem schönen Vogel, der ihm im Schatten der Kastanie Gesellschaft geleistet habe.

„Er war da?“

Erstaunt schaute der Sohn des Ku auf.

„Wie ... du hast ihn auch schon gesehen?“

„Ja, dieser Vogel hat es mir angetan und seit drei Tagen warte ich auf ihn.“

Nun sprudelte es aus Yüo heraus. Er berichtete seinem Freund von der Anmut des Vogels und wie vor allem sein Lied ihn so tief berührt hatte. Chang lauschte aufmerksam. Mal nickte er beifällig, mal zog er die Augenbrauen nach oben, mal runzelte er die Stirn, mal schien er abwesend. Als sie die Pfeife rauchten und während Chang in der Glut der Kochstelle stocherte, sprach er:

„Wenn dir so an dieser Kreatur liegt, rate ich dir, ein Netz zu flechten, es dort beim Ginsterbusch auszulegen und ...“

Barsch unterbrach ihn Yüo:

„Er könnte dabei verletzt werden.“

Er zog an der Pfeife, legte den Kopf zurück und blies den Rauch gen Himmel.

„Und du weißt ja, dass die Alten gesagt haben, es sei besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen ...“

„... damit alles zur freien Entfaltung kommt“, ergänzte ihn Chang und meinte weiter ausholend:

„Wu-Wei, nichts tun und doch alles erreichen. Den Dingen ihren Lauf lassen, ohne ihnen etwas entgegenzusetzen, sie nur in Augenschein nehmen, ohne zu urteilen. Nicht gestern, nicht morgen, nur heute. Ja, mein Freund, Recht hast du.“

Sie saßen noch lange zusammen. Sie redeten und schwiegen, tranken von dem Tee und ließen ihre Gaumen von Tabak und Wein verwöhnen - die Seele aber von alten Geschichten und Mutmaßungen über dieses und jenes. Sie verstummten erst, als der Mond seine Bahn vollendet hatte und von dem Feuer nur noch eine blasse Glut geblieben war.

Später am Morgen, nach einem Bad im Fluss und gestärkt durch eine Mahlzeit, machte Chang sich zu seiner Weiterreise nach Golmud auf. Dort wollte er einige nützliche Werkzeuge erstehen und das nahegelegene Kloster aufsuchen.

„Du möchtest also etwas von den Göttern erbeten?“, fragte Yüo seinen Freund.

„Oh ja, das will ich wohl“, sprach dieser und sein Blick verlor sich in der Ferne.

„Dann entzünde bitte auch für mich eine Butterkerze. Den vielen Göttern von Zhong Guo sei jetzt schon gedankt. Denn wir haben ihrer so viele wie unsere Sorgen sind. Du wirst schon Gehör finden, denn dafür sind die Götter da.“

Sie hatten sich zum Abschied umarmt.

„Ich werde es tun.“

„Was?“

„Na, eine Kerze für dich entzünden.“

„Ach so, natürlich. Danke mein Freund.“

„Dafür nicht.“

Fragen (6)

Nachdem der Freund gegangen war, hatte sich auch Yüo am Bach erfrischt. Anschließend suchte er in der Hütte nach der Dizi, der Bambusflöte, die ihm einst die jüngere Schwester Mei zum Abschied geschenkt hatte. Yüo fand sie schließlich in dem Bord über der Reismatte. Er setzte sich an das Feuer und versuchte das Lied des Vogels nachzuspielen. Dies aber erwies sich als sehr schwierig, denn die Melodie des Vogels war unerhört schön gewesen. Dennoch gab Yüo nicht auf, sondern er spielte, so gut er es in diesem Moment konnte. Die vom Odem des Menschen erzeugten Töne können Harmonie unter allen lebenden Wesen herstellen. Vor allem Yüo selbst benötigte diese für sich zuerst. Immer wieder setzte er das Instrument ab, um zu überlegen, was zu tun sei und was das wohl alles zu bedeuten habe. Sollte er eines der Orakel befragen und wenn ja, welches? Den Schulterknochen im Feuer? Die fünfzig Stängel der Schafgarbe? Sollte er die Münzen werfen?

Viele Fragen waren es, die ihm durch den Kopf gingen und die sein Herz noch mehr in Unruhe versetzten. Verwirrt und friedlos beschloss er deshalb, den Rest des Tages beim grünen Hain zu verbringen und also nach dort zu wandern. Es war der Ort, den er für diesen Moment als den besseren empfand. Denn da, wo eigentlich Klarheit sein sollte, war sein innerer Blick getrübt. Das Wäldchen jedoch war eine heilige Stätte und ein Platz, der zur unverdunkelten Einsicht verhelfen konnte. Yüo stand also auf und begab sich in die Hütte. Die Flöte legte er zurück an ihren Platz. Er wand sein schwarzes Haar zu einem Knoten, umwickelte es mit einem Band aus Seide und befestigte es mit einem Haarpfeil. Die Nadel war aus Elfenbein geschnitzt und einem Bambus nachgebildet. An ihrer Spitze befand sich eine Platte, in der zwei mattgrüne Türkise eingelassen waren. Die Haarnadel war ein Geschenk der Mutter an ihren Zweitgeborenen. Die übrigen Strähnen kämmte der junge Mann hinter die Schläfen. Er zog sein dunkelblaues Gewand an und schnürte den breiten, roten Gürtel um seine Hüften. Links und rechts hingen die nötigen Gebrauchsgegenstände, eine Ahle rechts und ein Messer auf der anderen Seite, sowie auch der Hohlspiegel aus blank poliertem Messing. Dann umwickelte Yüo die Beine bis zum Knie und schnürte die Schuhbänder. Zuletzt setzte er seinen Hut aus weißem Leinen auf, wobei er die olivfarbenen Schnüre unter dem Kinn zusammenknotete.

Yüo nahm noch ein paar Samen der Südlanddattel an sich. Er würde sie unterwegs kauen und sicher bald ihre beruhigende Wirkung spüren. Er trat aus der Hütte, legte noch Holz ins Feuer und steckte ein paar Wurzeln in den Gürtel. Er griff zu dem kleinen Wasserbeutel, den er einst aus Ziegenhaut gefertigt hatte, füllte diesen im Garten und warf kurz einen Blick zum Ginsterbusch. Für den Fall, dass ein Wanderer in seiner Abwesenheit in die Hütte trat, hatte er etwas Pemmikan und einen Krug mit kühlem Wasser auf dem Tisch gelassen. Yüo trat zur Hütte und legte den Türriegel so, dass auch jeder Fremdling seine Abwesenheit erkennen musste und trotzdem zum vertrauensvollen Eintritt geladen war. Doch kaum war Yüo am Saum des Waldes angelangt, kamen ihm Zweifel, ob der Riegel wirklich so gelegt war, wie es sein sollte. Also kehrte er um und überprüfte die Tür seiner Hütte. So ging es ein paar mal. Manchmal hatte er diese Anwandlungen und erst nach ein paar Wiederholungen kam er zur Ruhe.

Beim Hain der Träume (7)

Wenn der Wanderer nördlich aus dem Waldgürtel heraus trat, dann erstreckte sich vor ihm eine weite Ebene. Hier wuchs das Achillenkraut. Die vielen weißen Blüten dieser Bitterpflanze bildeten tellergroße Dolden und sie reichten dem Yüo bis an den Bauch. Er würde auf dem Rückweg davon einige Büschel ernten, um später aus den pflaumigen und samtenen Blättern erfrischende Fußsalbe herzustellen. Die Stängel würde er zu Hause säubern, waschen und zurechtschneiden, so dass sie alle die Länge eines Unterarmes erhielten. Nachdem sie dann einige Tage auf einem sonnigen Platz ausgelegt worden wären, könnte er sie mit Hanf zu einem Bündel zusammenschnüren und für spätere Zwecke unter dem Dachvorsprung seiner Hütte aufbewahren. Doch es gab auch noch andere Interessierte an diesem Gras. Es waren die wilden Steppenschafe, die sich an diesen Stängeln und ihren Blättern genüsslich taten. Manchmal standen sie in Gruppen zusammen, manchmal grasten sie zerstreut. Immer wieder waren Eidechsen und Geckos auf dem Pfad zu sehen, die in der Sonne verharrten, um dann flink vor dem Herannahenden in den Schutz der Pflanzen zu fliehen. Yüo schaute den Faltern nach, lauschte auf das Summen der Insekten und strich mit den Handflächen über das Langhalmgras und die übrigen Gewächse am Wegesrand. In jedem dieser Halme, in jeder Blume und in jedem noch so kleinen Käfer, in jedem Blatt und in jedem Stein kam für ihn das gesamte Universum zum Ausdruck. Alles hat seine Bedeutung und war Mittelpunkt des Seienden. Würde er nur einen Halm oder eine Blume pflücken, einen Käfer oder einen Stein auf seine Handfläche legen, so hielte er den gesamten Kosmos in seinen Händen.

Der Sohn des einfachen Bauern Ku machte sich nichts aus den verführerischen und üppigen Blumengestecken, wie sie in den hohen Häusern hin und her geschenkt oder in die Haare feiner Damen gesteckt wurden. Ihm waren unscheinbare Gräser, die niemanden außer dem äsenden Wild interessierten und schlichte Feldblumen, deren Namen kaum jemand kannte, lieber als gezüchtete Orchideen, violette Tulpen, feuerrote Rosen, betörende Lilien oder leuchtende Narzissen. Einmal kreuzte eine der seltenen Schildkröten seinen Weg und nicht weit von ihm entfernt, querte eine kleine Herde schwarzer Yaks die Steppe. Als diese den Wanderer aber bemerkten, stoben sie mit aufgeblähten Nüstern vorwärts. Dabei machten die Yaks Geräusche wie Schweine, weshalb Yüo ihnen auch spaßeshalber den Namen Grunzochsen gegeben hatte. Noch heute werden sie so genannt. Auch Kulane mit ihrem gelbgrauen Fell waren hier und dort in Dreier- oder Vierergruppen zu sehen. Wenn sie vor dem Wanderer flüchteten, stellten sie ihren kurzen Schwanz waagerecht.

Yüo kaute unterwegs ein paar von den mitgenommenen Samen. Doch nur langsam kam die Seele zur Ruhe, klärten sich die Sinne, wurde der Körper, wurde die Seele frei von Verspannungen. Erzwingen konnte Yüo nichts, er musste mit dem Strich gehen, mit dem Stoß rollen, mit der Strömung schwimmen, das Segel nach dem Wind richten und die Gezeiten nutzen – sich erniedrigen, um zu erobern. Das Tao ist nichts, und doch entsteht aus ihm alles. Es ist vom Denken nicht erreichbar und doch kann es vom Leben vollführt werden. Nichtstun und doch dabei nicht träge sein. Nichthandeln und doch dabei nicht lässig sein. Entscheidungen treffen - doch nicht gegen seine Herzensüberzeugungen. Das Tao ist der Schritt zu sich selbst. Yüo war wie ein Stein, der einen Abhang hinab rollte und von dem niemand wusste, wo genau er liegenbleiben und welche seiner Seiten dann nach oben zeigen würde. Er musste den Göttern und Ahnen vertrauen. Es war nicht einfach, an das Licht zu glauben, wenn Dunkelheit herrscht. Es war schwer, sich den Sommer mit seiner Pracht vorzustellen, wenn der Winter alles erstarren ließ. Aber war nicht die Nacht der Bote des Tages?

Der junge Bauer sprach auch mit den Pflanzen und den Lebewesen um ihn herum. Er dankte den Schmetterlingen und Bienen für ihre Lebensfreude und Mühe, er lobte die Vögel für ihren Gesang und gab seiner Sehnsucht nach ihrer Freiheit und Grenzenlosigkeit in Worten Ausdruck. Er wandte sich an die Kräuter und Gräser mit liebevollem Geflüster und rief den wilden Rosen seinen Gruß zu. Dem Wind, der sein Gesicht strich, bekundete er seine Freundschaft und verband sich in Anerkennung mit dem Wasser des Rinnsals, das er überschritt. Dann wieder blieb er stehen, wandte sich der karmesinroten Sonne zu und streckte ihr mit einem Lobpreis für ihre unermüdliche Kraft des Lebens seine Arme entgegen. So erreichte Yüo das Wäldchen. Im Unterholz wuchsen Flechten, Moos und Pilze und es gab Büsche, an denen wohlschmeckende Beeren hingen. In der Mitte des Hains lag ein kleines Gewässer, an dem grüngelbe Binsen wuchsen. Der Wanderer legte ab, was ihn beschwerte, befreite sich von dem Gürtel seines Gewandes und ließ sich am Rande des Rieds nieder. Als Yüo da so entspannt saß, nickte er für kurze Zeit im Halbdunkel der dichten Baumgruppe ein.

Es träumte ihn, er würde auf dem Rückweg zu seiner Hütte sein und er könnte mit einem Male fliegen wie die Störche. Er sähe, wie von einem hohen Berg, die Achillen und das Langhalmgras weit unter sich und nahm einen Wanderer wahr, der Chang Tou-fa ähnlich sah. Dessen Gewand und dessen Haare wehten in der Eile seiner Schritte. Vor ihm selbst flog der wundervolle Vogel und Yüo wollte ihn ereilen. Doch je mehr er sich bemühte, desto weniger gehorchten ihm die Flügel. Chang aber streckte im Lauf seine Hände gen Himmel. Gerade wollte Yüo den Namen seines Freundes rufen und ihm für die entzündete Butterlampe und den Weihrauch danken, als der flüchtige Schlaf, so schnell wie er auch gekommen, beendet war. Der Erwachte wusch sich Arme und Gesicht und richtete seinen Oberkörper zur Meditation auf. Er musste über diesen Traum nachsinnen. So war es seine Pflicht und Gewohnheit - und schon gar nicht an diesem heiligen Orte konnte er einen solchen Traum abtun. Solange er aber auch nachsann – einen Hinweis für die Bedeutung des Traumes in seinem Leben konnte er nicht erkennen. So schloss er seine geistliche Übung flüsternd mit den Worten der Alten:

„Der Wissende redet nicht – der Redende weiß nicht“.

Yüo stand auf, kleidete sich wieder und wollte recht bald seine Heimreise antreten. Er trank aber vorher noch von dem vortrefflichen Wasser, füllte damit seinen Beutel und nahm den Rest der verbliebenen Dattelsamen zu sich. Unterwegs schnitt Yüo das Achillenkraut, las ein wenig wilde Hirse, Wachholder, Preiselbeeren und Nelken vom Rande des Pfades und füllte damit die Taschen seines Gewandes.

Halm im Wind (8)

Die Sonne war bereits untergegangen, als Yüo zurück zur Hütte kam. Er wechselte die widerstandsfähige Kleidung mit den leichten Gewändern und blieb, nachdem er ein wenig von der kräftigen Hühnersuppe und von dem grünen Cha zu sich genommen hatte, in der Hütte. Die Habe auf dem kleinen Tisch aus Birkenholz war nicht angerührt worden und er schob es zur Seite, um Platz für das nun Kommende zu machen. Beim Schein des Lampions nahm Yüo den kleinen schwarzen Quader vom Bord und ebenso nahm er die Schieferziegel und stellte beides rechter Hand auf den niedrigen Tisch. Noch zwei Kissen legte er auf die Reismatte, damit er erhöht sitzend später den Pinsel besser führen konnte. Den Tuscheblock hatte er im vergangenen Herbst aus der Asche der Kiefer und aus Knochenleim hergestellt und mischte daraus nun die zum Schreiben notwendige Tinte. Dazu ließ er ein wenig von dem noch warmen Teewasser auf den Schiefer tropfen und begann, den schwarzen Quader auf dem feuchten Untergrund im Kreise zu schleifen. Immer und immer wieder drehte sich seine Rechte, bis die Tinte von dem gewünschten Schwarz war. Yüo hatte beschlossen, die Unwissenheit um den Traum im Hag, seine Gefühle und Sehnsüchte, die leichte Verwirrung und die leise Hoffnung auf dem Pergament festzuhalten. So griff Yüo also nach der Rolle auf dem Bord und schnitt mit dem Messer sorgfältig einen Bogen heraus. Dieses Blatt legte er vor sich auf den Tisch und glättete es mit der linken Hand. Er entschied sich für den Bambuspinsel mit den Borsten aus Ziegenhaar, nahm ihn fest mit dem Daumen und den beiden ersten Fingern in der Mitte und tauchte den Pinsel zunächst in den Becher klaren und kalten Wassers. Dann strich er das überflüssige Nass ab und tauchte ihn vorsichtig in die tiefschwarze Tusche. Mit sanften, aber auch kraftvollen Strichen begann er zu schreiben. Es war zu bedenken, den Borstenstiel weder zu hastig zu führen, noch mit ihm inne zu halten. Denn wie die Gebilde am Himmel gleichmäßig schnell oder langsam dahin ziehen, ohne jemals auch anzuhalten, wie die Wasser des Flusses, die nicht stillstehen, Felsen und harten Boden umgehen, um sich ihren ureigensten Weg zu bahnen, so musste es beim Schreiben sein. Und wie bei einem Schiff, dessen Segel im Fließen des Windes prall gefüllt sind, um den Reisenden zu neuen Ufern zu führen, an jene Gestade, die am Beginn der Reise womöglich noch nicht bekannt sind, so steht beim ersten Wort das letzte noch nicht fest.

Wer dem Atem der Natur folgt, hört auch die Stimme seines Herzens.

Es ging dem jungen Mann nicht nur um die Worte – er wollte gleichzeitig auch seine Gefühle und Empfindungen auf dem Pergament festhalten. War es nicht wunderbar, mit Pinsel und Hand etwas Unvergängliches zu schaffen! Wie die Alten schon sagten: Die Hand führt aus, was das Herz will. Daher war das Schreiben auch ein Malen und der Betrachter hätte, ohne die Sprache zu kennen, fast erraten können, was geschrieben wurde und wie es um den Seelenzustand Yüos stand. Das Blatt war wie das Feld einer bevorstehenden Schlacht und der Pinsel wie Lanze und Schwert. Sobald der Schreiber, der Dichter oder Komponist diesen in die Hand nahm, entschied sich das Schicksal wie bei einem Gefecht. Die Linien, Kurven, Tupfer, Häkchen und Schnörkel, die das Tanzen des Pinsels hinterließ, konnten das unhörbare Gespräch mit den Göttern, ja, ein Schöpfungsakt sein. So führte Yüo sein Schreibwerkzeug zu Worten von Kopf und Herz, gemeinsam geschaffen. Auch in dieser Nacht, in dieser einsamen Gegend, fanden neue Schriftzeichen Eingang in die Sprache des Reiches. Zu diesem besonderen Anlass stand auf dem Tisch neben dem Krug und dem zur Seite geschobenen Yakfett auch ein Becher aus Ton, in dem sich gekühlter Wein befand. Ab und zu griff der Schreiber mit der Linken zu dem Becher und führte ihn zum Mund, ohne aber seine Augen dabei von dem Pergament abzuwenden und das Schwert der stillen Worte, die in Herzblut getauchte Lanze, hielt dabei nicht still. Dieses hatte der Sohn des Ku in dieser Nacht geschrieben, gemalt und erfochten:

Ich weiß nicht, wo ich steh’ - wohin mein Weg mich führt,

das Ziel hab’ ich verloren - ich kenn’ mich nicht mehr aus.

Oh, ich bin ein Halm - im Wind meiner Gefühle.

Gestern noch ein Kind des Lichts, - und heute bin ich nichts.

Ich bin schon viel zu lang - allein in meiner Welt,

tagaus, tagein der Rhythmus - meiner Einsamkeit.

Wäre doch am Horizont - ein neuer Stern,

dann würd’ ich nach der Nacht – vielleicht den Morgen sehn.

Ich weiß nicht, wo ich steh’ - wohin mein Herz mich führt,

das Ziel hab ich verloren, - ich kenn’ mich nicht mehr aus.

Oh, wenn doch die Sehnsucht stirbt, - ja, dann lebe ich,

ich glaube an die gute Macht, - die Macht, die mich beschützt.

Nach getaner Arbeit betrachtete der junge Mann noch einmal sein Werk und las Zeichen für Zeichen laut vor sich her. Manches traf seine Gefühlslage, manches schien ein wenig sehr dunkel, ohne Glauben an Besserung und schlechter hingestellt, als es in der Wirklichkeit war. Dies war für Yüo bezeichnend. Der spärlich erleuchtete Raum war erfüllt vom Duft der abgebrannten Riechhölzer. An seiner Südseite, gleich neben dem Eingang, hing über dem kleinen Altar für die Verehrung der Ahnen, die viersaitige Yueqin. Sie hatte einen mondförmigen Klangkörper aus Platanenholz. Yüo nahm das Instrument und zupfte bedächtig seine Saiten. Die anfangs etwas wehmütige und später heiter werdende Melodie schwebte auf den Vorplatz der Hütte und wurde vom Wind hinaus an den Bach getragen. Der Mann saß noch lange im beruhigenden Licht des Lampions.

Über seinen Oberkörper hatte er ein eierschalenweißes Gewand geworfen, das aber die linke Schulter und die muskulösen Arme freiließ. Die Robe reichte bis zu den Knien und seine Borte hatte das tiefe Grün der Wiesen im Frühsommer. Als Gürtel diente ein aus Hanf dreifach geflochtenes, erdfarbenes Seil. Auch die Unterbeine und die Füße waren nackt. Das runde Gesicht mit den tiefliegenden und wachen Augen, den auffälligen Backenknochen und den sinnlichen Lippen war mit einem spärlichen Kinnbart ausgestattet. Die auffällig zum Mund hinunter gebogene und etwas schiefe Nase teilte sein Gesicht in zwei ungleiche Hälften. Es hätte schöner und harmonischer sein können, wenn nicht die Narben auf der rechten Wange und über dem rechten Auge gewesen wären. Zwar waren sie im Laufe der Jahre verwachsen, aber doch noch zu sehen. Schöne und glatte Gesichter gab es in Zhong Guo genug. Schmisse in männlichen Antlitzen machten diese für die Weiblichkeit interessant. Doch das war Yüo bisher nicht bewusst. Die lieblichen und eng am Kopf liegenden Ohren waren durch das offene halblange, dunkle Haar zum Teil bedeckt. Um den Hals lag eine Kette, an der türkise Jade und Bernsteine aufgereiht waren. Sie strahlten Ruhe aus. Die kleinen Hände waren – obwohl von der körperlichen Arbeit erprobt – mit feingliedrigen, feinfühligen Fingern ausgestattet. Der Körper war leicht über den niedrigen Tisch gebeugt. Gegen Mitternacht nahm Yüo den Ruhesitz ein und zählte seine Atemzüge. Wenig später legte er sich befreit auf seine Reismatte und schlief sofort ein.

Prägung (9)

Es verstrichen die Wochen. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und der Herbst zog in das Land und schon nahten mit leisen Schritten Vorboten des Winters. Es war die Zeit der Mogus. Yüo sammelte viele davon, um sie für die kommende Zeit zu trocknen. Von Norden zogen Kraniche, Störche und Rotgänse in gewaltigen Schwärmen gleich Keilen in Richtung des Südmeeres. Jetzt mussten auch Weißkohl, Gurken und Lauch geerntet und dann gut gelagert werden. Die Luft war erfüllt von Harz. Wachteln mit scharf gewürztem Reis waren in dieser Zeit eine willkommene Bereicherung der Speisekarte. Bald würden die grauen, nassen Tage kommen – Boten des Wirbelsturms Taifeng. In der Hütte brannte schon das Herdfeuer und legte eine angenehme Wärme in den Raum. Auf den schönen Vogel wartete Yüo zu dieser Zeit vergeblich. Des Abends saß er oft noch lange allein draußen am Feuer und stampfte das getrocknete Achillenkraut in einem Gefäß zu feinem Pulver. So hatte es ihm die Mutter einst gezeigt. In den mondlosen Nächten konnte er besonders gut die Himmelsgestirne beobachten. Es war der Zeitpunkt, den Ahnen zu opfern. Dies war für Yüo Pflicht und Ausdruck von Ehrfurcht. Die Geschichte seiner Familie zu kennen und ihre Traditionen zu pflegen, waren bedeutsame Voraussetzungen, um auf dem richtigen Weg zu bleiben. Yüo hielt sich das Lächeln auf dem mit Falten übersäten Gesicht seines Großvaters vor Augen und vergegenwärtigte sich die hohe und zittrige Stimme der Großmutter. Er sah die Wohnung seiner Vorfahren und er dachte an das, worüber sie sich einst gefreut hatten und was sie gerne aßen.

Doch Yüo dachte auch an seinen Vater und an seine Ma. Sie war es gewesen, die ihn – als die Zeit gekommen war – aufforderte, die Familie zu verlassen, um endlich das Leben selbst zu gestalten und dem eigenen Tao zu folgen. Die Ma machte ihm deutlich, dass die Zeit, den weißen Reis zu essen, nun endgültig vorbei sei. Sehr gerne wäre Yüo im Schutze seiner Familie geblieben, doch das Gesetz gebot ihm zu gehen, auch wenn es ihm nicht gefiel. Es galt, was seit dem Leben des großen Meisters Kong feststand: die Pflicht der Kinder gegenüber den Eltern. Yüo liebte seine Ma und doch blieb Bitterkeit in seiner Seele. Denn die Mutter hatte bei ihm, wegen ihrer eigenen Ängste, ein Gefühl von Schuld hinterlassen. Als die Ma ihn, das ersehnte zweite Kind unter ihrem Herzen getragen hatte, wurde sie von schweren, aber unerklärlichen Ängsten geplagt. Sie meinte, sie müsste sterben, oder in das Freie hinaus flüchten. Sie litt unter Atemnot und ihre Seele verdunkelte sich für Tage. Oft hatte Yüo gemeint, er sei für die Ängste der Mutter verantwortlich. Weil er bei ihr unter dem Herzen war, habe sie um seinetwillen die Ängste gehabt. Aber war es nicht umgekehrt? Yüo liebte seine Mutter sehr, denn sie hatte ihm auch viel Wärme gegeben und ihn in die Kraft der Musik eingeweiht. So nahm er damals, als er von zu Hause fortzog, neben seinem Hab und Gut auch die Ahnentäfelchen mit sich. Es war vollkommen richtig gewesen, ihm, dem Kind der Sorgen, den Weg mit Nachdruck zu weisen. Yüo benötigte eigentlich immer jemanden, der ihm einen Stoß in den Rücken gab, damit er das tat, was zu tun war. Die Familie des Ku gehörte zu der Klasse der Bauern. Doch wie die Eltern und Geschwister, so fühlte sich auch Yüo zu den Gelehrten hingezogen. Die Ma erschuf wunderbare Bilder auf Leinen und auf Seide, und sie überzog ihre eigenen Keramikarbeiten kunstvoll mit Lack. Oft, wenn sie am Herd stand, Reis und Nudeln garte oder eine Fleischsuppe kochte, sang sie mit dem kleinen Yüo Lieder über den Frühling und Winter, weshalb er bis in das Alter besonders diese Jahreszeiten liebte. Der Vater war an dieser Stelle ohne Begabung. Doch dafür konnte er, neben dem fleißigen und aufopfernden Anbau von Hirse, Reis und Wein, abenteuerliche Geschichten erzählen. Solche, die er selbst erlebt und solche, die er sich ausgedacht hatte. Yüo vergaß diese Erzählungen sein Leben lang nicht und auch sie regten seine Phantasie sehr an. So war in dem jungen Bauern viel an Gestaltungskraft verborgen und sie war nicht einseitig, sondern in seinem Leben auf vielen Gebieten wieder zu finden. Keine von ihnen ragte weit über alle anderen hinaus. Es war, als hätte jemand eine unsichtbare Grenze gezogen.

Nie war der Sohn des Bauern Ku darum verlegen, etwas zu erfinden, zu gestalten oder auch wieder instand zu setzen. Aber war dies nicht auch genug? War das Leben nicht schön! War es nicht ausreichend, jeden Tag genießen zu können! Obwohl der junge Mann aus Qamdo wusste, dass die Toren von den Wissenden betrogen werden.

Nicht für tausend Saphire (10)

Am Morgen des sechsten Tages nach dem Herbstmond, aber wurde Yüo vom Gesang seines ersehnten Vogels geweckt. Erst ganz leise und unwirklich hörte er die kostbare Stimme. Doch dann war sie ganz nah und war sie ganz wirklich. Yüo schlug die grobe Schlafdecke zurück und ging sehr vorsichtig nach draußen. Der Bambusvogel saß dort, wo ihn der junge Bauer das erste Mal gesehen hatte. Noch unter dem Vordach der Hütte kniete Yüo vorsichtig nieder, hielt die offenen Hände nach oben und flüsterte kaum hörbar: „Oh du höchstes Wesen, du treibende Kraft, du göttliches Licht und letzte Wahrheit - ich danke dir für diesen Tag.“ Mit einem Male waren alle Zweifel, war aller Zwiespalt, war alle Zerrissenheit, waren Kummer und Seelenlast von ihm gewichen.

Ja, es gab sie noch, die Götter, die Ahnen, das Schicksal, es gab ihn noch, den Ort, wo die Sehnsucht mitempfunden wurde.

Die ersten Sonnenstrahlen spielten mit dem Staub vor der Wand aus Schilfrohr. Fast so wirbelten Yüos Gedanken, wogten und fluteten seine Gefühle, umspülte ihn Wärme. Er war da, einfach so – der langersehnte Vogel. Diesmal, so hoffte und betete Yüo, sollte es anders sein, diesmal sollte der Vogel bleiben, auch wenn er aufstünde und zur Feuerstelle ginge. Und genauso geschah es. Als Yüo aufstand und sich zum Feuer hinüber begab, blieb der Niau-Zhuzi und sang sein Lied weiter. Ja, er war es. Das Gefieder, mit den Färbungen von Kehle und Brust, sein tiefdunkler Schnabel, seine Anmut und die wunderschöne Melodie betrogen ihn nicht. Es war kein Traum.

Die Zeit schien nun dahinzufliegen. Zeit, was ist Zeit? War der Mensch bedrückt und voller Sorgen, schien sie fast stillzustehen. In Momenten der Seligkeit aber zerrann sie wie in einer zerbrochenen Sanduhr. Gerade so war es, wie man es nicht wollte. Umgekehrt sollte es sein! „Ich müsste die Zeit anhalten können“, dachte der Mann bei sich. Zeit lag hinter dem Menschen, in all dem, was sich ereignet hatte. Zeit lag vor dem Menschen, in all dem, was noch kommen würde. Doch der Augenblick war flüchtig wie ein Fisch, der im Fluss vorbeischwamm und für immer entglitten war - er war hauchdünn wie ein Bogen Pergament. Seit diesem Tag ließ sich der Sänger allmorgendlich neben der Hütte nieder, und bald begleitete er Yüo hinunter zum Bach und gelegentlich sah er ihm auch bei der Arbeit an den Trassen zu. Seine Gesänge beflügelten den Zuhörer, ließen ihn tagträumen und immer öfter zum Blasinstrument greifen, wenn er nach dem Tagewerk beim Schein der Papierlaterne Entspannung suchte. Es gelang auch immer besser, die Tonfolgen auf der Dizi nachzuspielen und mehr und mehr wurden sie mild und zart, mehr und mehr kamen sich Mensch und Vogel, kamen sich Himmel und Erde näher.

Nun waren auch Schwalben, Lerchen und Stare in die Tiefebene gezogen und die Blutfasane suchten die Nähe der Menschen. Der Ostwind trieb dunkle Wolken ins Land und endgültig waren es nun die Tage des weißen Tigers. Doch noch war es trocken. Der erste Baum, der zu dieser Zeit sein Gewand abwarf, war Wutong, die Trauerpappel. Ihre Blätter waren breit und gezähnt. Es war aber auch die Zeit der Süßkartoffeln, die der guten Hühnersuppe den Herbstgeschmack gaben und es war die Zeit der dritten Ernte, die den Tee zum beruhigenden Getränk machte. Der Bambusvogel aber blieb bei der Hütte und sang sein Lied in den Herbst hinein.

An einem jener Vorwintertage verlegte Yüo das Kochen in das Innere des Hauses. Das Feuer im Freien brannte jedoch weiter. Das kleine Haus hatte nur einen Raum. Der Ofen war aus dem roten Ton gebaut und befand sich in der Ecke, die nach Süden und ein wenig nach Osten zeigt. In dieser Jahreszeit und der ihr folgenden erlosch die Glut dieser Feuerstelle nie. Und selbst wenn dies später geschehen sollte, wie es dann in den Sommermonaten der Fall war, so blieben doch die Götter bei dem erkalteten Ofen wohnen. Neben dem Feuer stand ein Becken voll mit Kraft spendendem Wasser. Der Geruch des Birkenholzes, die immer dampfende Suppe und der Rauch der glimmenden Riechhölzer vermischten sich zum sicheren Gefühl von Schutz und Geborgenheit. Denn wer jetzt die Hütte als Gast betrat, wusste, dass die Kälte mit großen Schritten nahte und auch nicht mehr aufzuhalten war. Die Unterkunft hatte nur ein Fenster, das gleich neben dem Eingang lag. Beide Öffnungen der Hütte waren gen Mittag ausgerichtet. So war Yüos Heimstatt im Frühling und Herbst vor den feuchten östlichen Winden des Gelben Meeres und im Winter vor den kalten Stürmen aus dem Nordgebirge geschützt. An der Wolkenbildung erkannte Yüo, dass dies heute die vorerst letzten trockenen Stunden sein würden. Er pflückte die schrumpelig gewordenen süßen Trauben von den Reben und kostete dabei ab und zu eine von ihnen. In der roten Abendsonne ließ Yüo die dichten Schilfmatten zur Wetterseite hinunter und lockte das Federvieh in den Stall. Dabei musste er noch einmal an das denken, was am Vortage geschehen war.

Da war der Händler Mai zu ihm gekommen. Beide hatten beim regen Tausch einen abwechslungsreichen Zeitvertreib gehabt. Der Reisende bot ihm wie immer seine Waren an: Geräucherte Bärentatze, gedörrtes Schildkrötenfleisch, Mandeln und Walnüsse, Chili und Pfeffer, in Heilkräutern gegarte Entenfüße, Pemmikan, gebratenen Lotos und polierten Reis. Mai hatte auch Schlangenhäute, Edelsteine, Porzellanerde und Kupfer dabei. Keiner von beiden wollte beim Handel das Gesicht verlieren und keiner von ihnen war darauf bedacht, den anderen zu übervorteilen. Geben und Nehmen, Austeilen und Empfangen, Gewähren und Entrichten sollten sich in jeder Lage die Waage halten. Keiner von ihnen wollte als Benachteiligter erscheinen, jeder von ihnen wollte das Gefühl haben, beschenkt und bereichert worden zu sein. Besonders der Tausch der von Yüo so heiß begehrten Bärentatze gestaltete sich als schwierig. Und als sie sich nicht einig werden wollten, meinte Yüo:

„Schau, mein Freund, was ich hier habe.“

Er zog den kleinen Lederbeutel hervor. Dieser enthielt Samen des Maulbeerbaumes.

„Es sind wohl ein halbes Jin und ich habe sie den ganzen Sommer über gesammelt.“

Mai wiegte seinen Kopf hin und her.

„Ich gebe dir die Entenfüße dafür und einen Pinsel aus Affenhaar.“

„Aber bedenke doch, wie widerstandsfähig die Maulbeerbäume aus diesen Samen werden und wie nahrhaft deren Blätter sind“, wendete der Sohn des Ku ein und meinte weiter:

„Wenn du die Blätter zerhackst und die Larven des Seidenspinners damit ernährst, werden sie zu ansehnlichen und einträglichen Raupen. Ihre Seide wird von bester Qualität sein. Im südlichen Blütenland gibt es dergleichen nicht.“

„Du brauchst mich nicht darüber zu belehren, wo de peng you“, meinte der Händler ein wenig schnippig. Dabei schaute er an Yüo vorbei und meinte wie nebenbei:

„Wenn du mir diesen Vogel dort fängst, gebe ich dir zwei Bärentatzen und einen Saphir.“ Yüo schaute sich um und sah den Bambusvogel bei einem Teestrauch sitzen.

„Nein – niemals. Nicht für hundert Bärentatzen und nicht für tausend Saphire. Er ist mir sehr lieb geworden und mein ständiger Begleiter.“ Ihre Blicke trafen sich wieder und mit ernster Miene meinte der Händler: „Dann passe sehr gut auf ihn auf. Ich bin in Zhong Guo sehr viel herumgekommen. Ich war nicht nur im Blütenland, ich war auch in den nördlichen Provinzen, bis hinauf zu den Wüsten, ich war in Xizang und bin an das große Meer bis zu der berühmten Stadt über dem Wasser Shang-Hai gekommen, und ich bin durch das Tarimbecken gezogen. Aber nie habe ich einen so wunderbaren Vogel gesehen.“

„Du meinst, es gibt ihn vielleicht nur einmal?“

Der Kaufmann warf ihm nun einen bejahenden Blick zu.

„Ich denke eigentlich auch so“, meinte Yüo nachdenklich.

Mai nahm den Lederbeutel in seine Rechte, wog ihn mit der Kenntnis und Weisheit eines halben Lebens und lächelte. Auch Yüo lächelte, als Saat und Bärentatzen ihre Besitzer wechselten. Beide waren zufrieden. Beide fühlten sich als Gewinner dieses Tausches. Beide blieben gute und verlässliche Partner.

Der Prinz von Sind (11)

Die Regenzeit war kurz, aber gewaltig und ungestüm. Der scharfe Wind aus Osten trieb das Wasser in dichten Schleiern über das Land und überall bildeten sich im feuchten Boden Rinnsale und Pfützen. Chang Tou-fa kam in der zweiten Woche, nachdem die Tage des kalten Taus vorüber waren. Die runde Mütze hatte er - als Schutz vor dem Unwetter - mit dem weit ausladenden Bambushut getauscht. Sein Gewand war von der Brust ab durchnässt und seine Schuhe aus Schweinsleder trugen die feuchten Spuren des rotgelben Sandes. Fast hätte Yüo das Klopfen seines Freundes an der Tür nicht vernommen, denn der Regen wurde vom Wind gegen die Wände getrieben und die Äste der Kastanie schlugen fortwährend auf das Dach.

„Wo de peng you - du hast sicher Hunger. Komm schnell herein, wir wollen deine Kleider zum Trocknen aufhängen.“

Yüo hatte die Tür schnell von innen geöffnet und Chang am nassen Gewand in die Hütte gezogen. Der Duft von Hühnersuppe, geschmorten Pilzen, verbranntem Kiefernholz und Weihrauch erfüllte den angenehm warmen Raum und Chang erschauderte ob der wohltuenden Stimmung. Der Gast legte seinen Rucksack und die Hängetaschen ab, entkleidete sich und erhielt vom Unterrock bis zum Gewand neue und trockene Wäsche und, oh Wunder, eine Schale heißer Suppe und ein Glas stark gesüßten Tees bot ihm der Hausherr an, während draußen der Sturm um so mehr an den Wänden des Hauses zu rütteln schien. Sie rauchten die Pfeife und entzündeten weitere Riechhölzer, aßen von den Pinienkernen und freuten sich über den Schutz des Hauses und das Wiedersehen.

Auch an diesem Tag und in dieser Nacht gab es viel zu berichten: „Allerdings lässt sich der schöne Vogel bei diesem Wetter nicht bei mir sehen. Ich mache mir Sorgen, wo er sich aufhält, wo er sich vor Sturm und Nässe birgt.“

„Es wird wohl nicht an mir liegen, lieber Yüo?“

„Wie meinst du?“

„Ach, nur so.“

Und Yüo sah in den Worten seines guten Freundes mehr einen Scherz und er lachte. Da lachte auch Chang und Yüo vergaß diese Worte. Doch dann wurde Langhaar ernst und sprach von der Geduld und von dem Wasser, das solange steigt, bis es jedes Hindernis überwunden hat. Er sprach aber so, als ginge ihn der Vogel nichts an. Nach einer Weile des Nichtredens dann setzte der Gast sein Teeglas ab, nahm noch einen Zug aus der Porzellanpfeife und sprach:

„Mein guter Freund, ich möchte dir etwas erzählen.“

Er legte die Pfeife zur Seite und fuhr sich mit den Fingern, so wie er es immer gerne tat, durch das lange, schwarze und noch feuchte Haar und kämmte es nach hinten.

„Bevor ich die Reise zu dir antrat, war ich in Golmud, wie ich es oft tue, um dort Handel zu treiben und wichtige Dinge zu erstehen.“

Yüo nickte wissend.

„Dort hörte ich von jungen Novizen des nahe gelegenen Klosters, dass es eine wundersame neue Lehre gibt, die aus einem Land weit westlich von Zhong Guo stammt.“

„Eine neue Lehre? Aus Turfan oder Miran oder Niya?“

„Oh nein, mein Freund. Nicht aus Turfan oder dergleichen, sondern viel weiter entfernt.“

„So. Und – erzähle.“

„Die neue Lehre klingt recht sonderbar, aber auch anziehend.“

„Worum geht es in dieser Lehre? Um das Bogenschießen, wie der Tee richtig zubereitet und dargebracht wird, um die Musik, oder ...“

„ ... Nicht doch, wo de peng you. Es geht in dieser Lehre um viel tiefer gehende Dinge. Es geht um Frömmigkeit.“

„Um Frömmigkeit? Die haben uns doch die Alten überliefert.“

„Ja, aber hier geht es um eine ganz andere und neue Richtschnur des Lebens.“

„Du meinst, wie wir zu wandeln haben auf Erden, um nach dem Tode nicht dem Bösen ausgeliefert zu sein?“

„Ja, so ähnlich, aber...“

Yüo ließ Chang nicht ausreden.

„Was, ja, aber? Sind nicht unsere Vorfahren weise genug gewesen? Gaben sie uns nicht genug kluges Wissen!“

Der Sohn des Ku begann sich zu ereifern und Chang Tou-fa kannte sehr wohl diese Art des Freundes. Er machte deshalb eine beschwichtigende Bewegung mit beiden Händen.

„Natürlich, aber unser Reich ist nicht das Einzige, und um uns herum leben Menschen, die andere Erfahrungen und deshalb auch andere Weisheiten haben.“

„Ich bleibe bei meinem Glauben“,

gab Yüo nun ein wenig heftig und trotzig zugleich zur Antwort.

„Ich selbst ja auch, mein lieber Yüo. Aber gerne würde ich dir ein wenig von dieser fremden Lehre erzählen. Höre doch einfach nur zu, und dann magst du deine Fragen stellen.“

Yüo überlegte kurz. Dann nickte er und sprach etwas zögerlich:

„Wei le wo de yuan gu – sei es drum.“

Nun berichtete Langhaar von dem Prinzen, der zu Füßen des Urgebirges, im Lande der Schafkamele in behütetem Herrscherhaus aufgewachsen war. Wie er aber eines Tages auszog, um zu sehen, ob es allen im Lande Sind so ginge wie ihm, musste der Prinz bald erkennen, dass das wirkliche Leben ganz anders zu sein schien. Leiden und Kranksein, Armut und Ungerechtigkeit, Angst und Hoffnungslosigkeit, Sehnsucht und Qual waren so gegenwärtig wie die nach Reis ausgestreckte Hand. Alles dies hatte er zuvor nicht gekannt und der Königssohn war zutiefst darüber erschüttert, wie es draußen in der Welt zuging. Doch er beließ es nicht bei seiner Bestürzung. Immer wieder zog es ihn hinaus in die Welt, immer wieder verließ er die schützenden Mauern des väterlichen Palastes. Eines Tages war er nicht mehr zurückgekehrt, sondern hatte sein Bett getauscht gegen die staubigen Straßen, hatte seine feinen Gewänder abgelegt und wandelte in schlichten, gelben und bald dreckigen Leinengewändern. Bald war er ein Armer und Leidender, ein Kranker, der mit Schwären übersät war wie andere und wurde wie sie ungerecht behandelt.

Chang nahm von dem Tee und sprach:

„Der Prinz aber fragte sich, wie der Mensch aus dieser Armseligkeit herausfinden könnte. Zwar wäre es ja für ihn ein Leichtes gewesen, dem Elend den Rücken zu kehren, und der Vater hätte den verlorenen Sohn mit offenen Armen wieder aufgenommen. Es musste aber, außer dem Weg zurück in das Fürstenhaus, eine andere Strasse aus der Erbärmlichkeit zum immerwährenden Glück und beständiger Zufriedenheit geben. Denn sonst wären ja all die Menschen, die keinen reichen Vater haben und einen Arzt bezahlen können, für immer zu einem Leben in Kümmernis verdammt.“

Yüos Mund stand offen. Eine solche Geschichte hatte er nicht erwartet. Dann fragte er den Erzählenden:

„Und diese Strasse hat er gefunden?“

„Ja, nach vielen Jahren der Wanderschaft und des Suchens hatte er eine Erleuchtung“, fuhr Chang fort.

„Ihm wurde klar, dass das Leben des Menschen immer auch mit Entbehrungen aller Art verbunden ist. Leid gehört zum Dasein. Erst wenn wir sterben, können wir ohne das Leid weiterleben.“

„Aber wie sollen wir leben, wenn wir gestorben sind? Das verstehe ich nicht.“

Es vergingen die Abendstunden, es verging die halbe Nacht. Chang Tou-fa sprach von dem Prinzen, sprach von seiner Frömmigkeit, sprach von seinem Weg ins Glück. Er sprach aber von dem, was er von anderen gehört hatte, wissend, dass auch dies nicht alles war. Die jungen Mönche aus Golmud hatten dem Chang auch berichtet, dass der Abt des Klosters schon seit langem auf die Rückkehr eines Abgesandten aus dem Lande Sind wartete, um noch Genaueres über den Prinzen zu erfahren. Chang Tou-fa sprach weiter zu Yüo, sprach über das Begehren, durch welches das Leid erst Besitz von den Menschen nimmt. Begierde und Verlangen seien es, die sterben müssten, nicht der Mensch selbst. Dann wäre das Leid überwunden.

„Wenn der Mensch leidet, mein lieber Freund, dann leidet er an sich selbst!“

Chang nippte nun an dem Becher mit Traubenwein und schaute vielsagend. Yüo runzelte seine Stirn, kniff die Augen etwas zusammen und sagte spitz:

„Das klingt, als seiest du auch schon ein Jünger des Prinzen und willst nicht mehr auf dem alten Pfad bleiben, wie du vorhin noch beteuert hattest. Willst du etwa auch mich bekehren und vom rechten Glauben abbringen?“

„Oh nein, soweit ist es noch nicht.“

Chang lachte.

„Ich habe nur wiederholt, was ich gehört habe. Doch ich will dir weiterberichten, wenn ich darf.“

„Du darfst, wenn du beteuerst, mich nicht bekehren zu wollen und dass du selbst auf dem Weg unseres Glaubens bleibst.“

„Ich beteure beides!“

„Gut. Dann erzähle mir weiter.“

„Also: Der Fürstensohn lehrte einen achtfachen Pfad, um diesen Zustand des leidfreien Daseins erreichen zu können, und dass der Mensch nach seinem leiblichen Tod als neuer Mensch, oder als Tier oder irgendeine Kreatur nochmals auf diese Erde kommt, bis dieser vollkommene Zustand erreicht ist, und ...“

„... du meinst“,

unterbrach ihn Yüo,

„dieses unser Leben sei womöglich nicht das erste und auch nicht das letzte?“

„Nicht ich, sondern der Prinz meint dies“,

äußerte da der Chang Tou-fa schelmisch und führte seinen angefangen Gedanken fort.

„Manche zwar schaffen es in ihrem ersten Leben in den leidlosen Zustand zu gelangen und sie brauchen auch nicht noch einmal geboren zu werden. Doch das sei eine Ausnahme. Die meisten Menschen benötigen viele irdische Aufenthalte, bis sich ihre Seele dann nach dem Irren durch die Meere des Wahns auflöst und Frieden hat. Selbst der Prinz musste viele Leben leben, um sein Ziel zu erreichen.“

Yüo war nun verwirrt. Wie schön müsste es sein, wenn dieses Leben nicht das Einzige wäre, und er vielleicht ein weiteres geschenkt bekäme und dann noch eines und so fort. Er hatte Angst vor dem Jenseits. Er stellte sich die Welt der Ahnen eher rätselhaft dunkel und kalt vor. War dagegen nicht die Wiedergeburt etwas Verheißungsvolles! Yüo liebte das Leben, die Blumen, die Schmetterlinge, die reifen Kornfelder und den Duft der gepflügten Äcker. Er liebte den Schnee und die Stürme. Die Dunkelheit und den Nebel liebte er nicht. Chang unterbrach die Gedanken Yüos und sprach:

„Ich will dir noch genauer von dem achtfachen Pfad berichten.“

Doch Yüo machte eine freundliche Handbewegung und meinte mit einem lächelnden Gesicht:

„Es ist nun doch genug für heute. Berichte mir ein andres Mal davon, denn es ist doch alles sehr viel Neues, über das erst nachgedacht und meditiert werden muss.“

„Aber hattest du mich nicht eben gebeten, weiterzuerzählen – und nun doch wieder nicht.“

„Ja doch, du hast recht. Aber ich mag im Moment nicht mehr.“

„Wie du meinst, wo de peng you.“

Sie sprachen noch lange über dieses und jenes – nicht aber sprachen sie über den Prinzen. Chang nahm den Freund mit seiner Bitte ernst. Die Nacht war schon weit vorgerückt, als sie sich zur Ruhe betteten.

(12)

Als der Freund weiter gezogen war und Yüo seinem Tagewerk nachging, merkte er, wie ihn die Lehre des Prinzen tief berührt hatte. Er bereute, Chang nicht weiter zugehört zu haben, aber so war er nun einmal – voller Widersprüche. Yüo war zweifelnd, war voller Fragen und war voller Zwiespalt. Auch an den folgenden Tagen dachte der Sohn des Bauern Ku immer wieder über das nach, was ihm der Chang berichtet hatte. Trotzdem waren auch Zweifel da. Denn was sollte das Reden von einer neuen und immer neuen Geburt? Dann wären die Hauchseelen der Verstorbenen ja als Lebende mitten unter Ihnen. Es könnte sich dann auch in mancher Kreatur ein Ahne verbergen und das Töten einer Ziege oder eines anderen Geschöpfes wäre dann ganz unmöglich. Wie sollte er auf ein Stück Fleisch und wie auf die Hühnersuppe verzichten? Wie sollte er keine Blume mehr pflücken dürfen? Und hatte nicht der alte Laozi für immer klargestellt, dass der Mensch nur dann aus dem Netz der Täuschung, Nichtigkeit und Begierde befreit werden kann, wenn er im Einklang mit den Gesetzen der Natur lebt, so wie er es auch Tag für Tag versuchte? Ja, das würde er beim nächsten Treffen mit Chang Tou-fa zur Sprache bringen. Er war gespannt auf die weiteren Erzählungen über den Prinzen und dessen Lehre, denn trotz seiner Zweifel reizte ihn der Gedanke an ein Wiedererscheinen auf dieser Erde, wie es jener Prinz lehrte. Und etwas zu tun für den Schutz auf Erden, ohne Angst und ohne Furcht zu haben, das wäre auch nicht schlecht. Yüo spürte seine Zuneigung zu dem Prinzen von Sind.

Als der Tag des Neumondes gekommen war, opferte der Bauer wieder seinen Vorfahren an dem kleinen Hausaltar. Längst aber hatte Yüo erkannt, dass es Angst war, die ihn zum Opfern bewegte. Es war nicht Liebe oder Freiwilligkeit. Es war die Furcht, der Schutz der Götter könne ausbleiben, wenn er die Gebete nicht sprach. Es war die Angst, es könne ihm oder anderen etwas Ungutes und Bedrohliches widerfahren, wenn er das Räuchern unterließ. Es war der Zwang, der ihn dazu bewegte, den Opfertisch nicht leer zu lassen. Es waren Allmachtsgedanken, so als wäre er einer der Götter selbst. Denn wenn er betete, für dieses und jenes, dann blieb die Welt um ihn herum in Ordnung. Ja, er durfte nichts auslassen und vergessen, dann könnte genau dort etwas Schlimmes geschehen. All dies hatte er wohl im Kopf verstanden – allein, in seiner Seele war es noch nicht angekommen. Es war ihm wohl bewusst – aber er hatte nicht den Mut zur Umkehr. Vielmehr wünschte Yüo sich, er bräuchte nur an einem Rad zu drehen und alle Gebete, alle Opfergänge, alle Bräuche wären damit erledigt. Denn all das Flehen und die heiligen Handlungen waren ihm zur Last geworden.

Dunkle Wolken, der schwarzen Schildkröte gleich, brachten Schneeflocken von Osten mit sich. Die nun folgenden Wochen gaben der Natur neue Kraft für die bevorstehende Zeit von Blüte und Ernte. Es kamen auch die Stürme, eisig, trocken und zornig, so als wollten sie dagegen das Leben auslöschen. Sie trieben Sand und Staub der Wüste vor sich her und wirbelten sie bis hoch in die Sphären. Ihr Brüllen klang wie das Lärmen der Kamele zur Brunft und die Sonne war tiefrot, als wollte sie den bösen Geistern Einhalt gebieten. Der Landstrich war nun in ein unwirkliches Licht gehüllt. Doch die Hütte am Rande der Rong-Steppe hielt all dem Stand und war ein Ort der Geborgenheit. Yüo freute sich auf die folgenden klaren Nächte, wenn er – eingehüllt im Yakfell - am knisternden Lagerfeuer sitzen konnte.

Der Wunsch, den Bambusvogel als Gast zu haben, war groß und Yüo litt unter dieser Entbehrung. Aber hatte nicht sein Freund davon gesprochen, dass Verlangen Leid mit sich bringt? War der Prinz vielleicht doch auf den richtigen Weg gelangt? Yüo hatte an manchen Tagen des Winters darüber nachgedacht. In vielen Stunden hatte er versucht, durch Meditieren und Konzentration die Sehnsucht nach dem schönen Vogel aufzugeben. Jedoch gelang es ihm nicht und der junge Mann ertappte sich bei dem Gedanken, dass ein Sterben dieses Wunsches noch mehr Gram für ihn bedeuten könnte und er dieses Verlangen deshalb gar nicht ablegen wollte.

„Wenn du doch nur noch einmal kommen würdest“, flüsterte Yüo in die Nacht, als er wieder einmal am Feuer saß und in diesem Moment wusste er, was er tun wollte für den Fall und für den Augenblick in dem der Bambussänger den Weg wieder zu ihm finden würde. Ja, wenn!

B o t e n (13)

Stürme und Kälte ließen nach. Warme und feuchte Luft kam als erstes Zeichen des herannahenden Frühlings. Das Yin begann, sich im Zyklus der Veränderungen dem Zustand des Yang zu nähern. Ein Ringkampf, der unvermeidlich war und dessen Ausgang doch vorhersehbar schien. Ein verständnisvoller Austausch der widersprüchlichsten Kräfte vollzog sich. Schlaf wich dem Wachsein, Stillstand dem Wachstum, Einhalt der Bewegung, Schweigen dem Gesang, Nahesein dem Auseinandertreiben! Wie immer würde der blaue Drache den Sieg erringen und die schwarze Schildkröte für die nächsten Monate nach Norden noch hinter das große Gebirge verdrängen. Der Atem des Südwindes erwärmte den Boden und das üppige Kraut fing an zu sprießen. Als Erste blühten die Pflaumenbäume im Steingarten – sie waren die Freunde des Winters, denn noch während die letzten Schneeflocken fielen, schwollen ihre Knospen bereits. Ihnen folgten die Birken mit ihren zartgrünen Ansätzen und dann die zarten Sprossen des Bambus. Yüo begrüßte die ersten Mücken, die um noch graugelbe Grasbüschel kreisten. Er lauschte dem Gesang der Vögel, die aus ihren Winterquartieren zurückgekehrt waren.

Noch immer war der Stapel des Bambus neben der Hütte nicht verarbeitet. Aber an einem jener ersten wärmeren Tage begann Yüo dann aus dem befeuchteten Riedstock, dem Bündel ebenen Holzes und einem Hanfseil ein Vogelgitter zu flechten. Den Rat der Vorfahren, den Dingen ihren Lauf zu lassen und den natürlichen Fluss nicht zu hindern, sah er dadurch nicht verworfen. Wu Wei bedeutete ja nicht das vollkommene Untätigsein! Sein Herz hatte ihm gezeigt, dass er den Vogel, käme er denn zurück, für immer bei sich haben wollte. Deshalb war es nur folgerichtig, diesen Käfig zu bauen. Sprang der Vogel hinein, dann wäre es gut. Wenn der Wind des Lebens sein Schiff an neue und unbekannte Ufer treiben sollte, dann musste er zumindest die Segel auch aufspannen und dies tat Yüo. Damit erzwang der Sohn des Ku nichts. Er schaffte nur die Voraussetzungen. Aber ob der Bambusvogel noch einmal geflogen kam? Hatte er den Winter denn überlebt? Vertieft in seine Arbeit, war Yüo mit solchen Gedanken beschäftigt.

„Oh, ein Handwerker und ein Künstler bei der Arbeit!“

Yüo fuhr herum. Ein stattlicher Mann stand vor ihm. Er maß wohl fast sechs Chi und der junge Bauer musste etwas aufschauen, um seinem Blick begegnen zu können. Die Kopfform war von auffälligem Oval. Der Fremde trug keine Kappe und das lange schwarze Haupthaar war nach hinten zu einem Zopf zusammengebunden. Seine hohe und breite Stirn schien offen für die Gaben des Himmels. Aus dem Gesicht mit der etwas platt gedrückten und gebogenen Nase sahen ihn zwei funkelnde, tiefliegende und doch gütige Augen an. Die Backenknochen waren etwas hervorstehend und sanft gewölbt. Die Gesichtshaut war vom Wetter gegerbt und doch von feiner Struktur. Die Lippen des Mannes waren voll und leicht geschwungen. Sie zeugten von einer gewissen Lebenserfahrung, Zufriedenheit und doch auch Ernsthaftigkeit. Die Brauen lagen in einem leichten Rund üppig über den Augenhöhlen und reichten etwas über diese bis zu den Schläfen hinaus. Das Kinn war von einem spärlichen Bart bedeckt. Der Überwurf aus Schweinsleder konnte das blaue Untergewand nicht ganz verbergen. Von beiden Schultern hingen große Ledertaschen herab und ebenso trug er auf dem Rücken einen Sack aus grauem Leinen. Er musste ein Tempelpriester sein!

Der Priester hatte zwei Begleiter – junge Männer, die wohl kaum ein paar Jahre weniger als Yüo zählten und die rundäugig waren. Auch sie trugen schweres Gepäck über den Schultern und auf dem Rücken, denn die Gurte strafften sich sehr. Auch ihr Haar war schwarz und reichte ihnen bis auf die Schultern. In respektvollem Abstand standen sie hinter dem Mönch. Yüo hatte das Herannahen der drei Wanderer nicht bemerkt.

„Oh, Xian Sheng - vornehmer Fremder - hast du, habt ihr heute schon euren Geist und Körper gestärkt? Ich habe eine Schale gedünsteten Reis und etwas Hühnersuppe für euch. Verzeiht mir, ich hörte euer Nahen nicht. Zu vertieft war ich in mein Werk. Qing yuan-liang – bitte entschuldigt! Ihr seht ein wenig müde und erschöpft aus.“

Yüo überschlug sich vor Freundlichkeit und war selbst erstaunt über seine Einladung zur Suppe. Die Neuankömmlinge machten einen überwältigenden Eindruck auf ihn.

„Danke, mein Sohn, für diesen Empfang und verzeih’ ebenfalls, dass wir dich so begrüßt und erschreckt haben. Aber ich räusperte mich und du nahmst es nicht wahr.“

Yüo nickte. Sein Gesicht zeigte dabei sowohl Entschuldigung, als auch Verständnis.

„Wir sind schon eine lange Zeit unterwegs und deshalb sind wir erfreut über deine Worte und wir danken dir daher für die Einladung zum Essen.“

Der Priester neigte seinen schwer bepackten Oberkörper dem jungen Bauern entgegen. Während dieser Verbeugung hob er die Rechte seiner Stirn entgegen. Yüo antwortete mit der gleichen Geste und auch die beiden jungen Männer taten es.

„Dürfen wir?“, Yüo nickte.

Die Wanderer streiften ihre umgehängten Taschen und die Rückensäcke ab und ließen sie auf den Boden gleiten. Ebenso legten sie auch ihre Überwürfe ab und warfen diese über das Gepäck. Nun traten sie ein paar Schritte zum Feuer vor. Die beiden jungen Männer aber waren mit einem naturbelassenem Untergewand bekleidet.

Sie saßen bei gekochtem Reis und gebratenen Nudeln, fischten mit den Stäbchen Pilze, Hühnerfleisch und Gemüse aus der dampfenden Suppe und tranken den schwarzen Cha.

„Ward ihr lange unterwegs? Habt ihr an Stürmen und Frost leiden müssen?“, fragte Yüo die Reisenden..

Der Mönch antwortete :

„Wir kamen entlang der Bergzüge südlich der Wüste Taklamakan zum Pferdehufkloster und nach der Stadt des hellen Feuers. Wir wandten uns dann weiter nach Süden, bis wir auf einen Fluss stießen. Dann sind wir dem Pfad durch das Baumland gefolgt und gelangten so zu dir.“

Der Wandermönch legte eine Pause ein und seine Gedanken schienen dabei in die Ferne zu schweifen. Der Ton aber, in dem er gesprochen hatte, war mild, warm und rhythmisch. Yüo schien es daher, dass der Mann eine großzügige, weiche und zuverlässige Seele haben müsse und dass Menschen sich ihm anvertrauen könnten. Und der Priester sprach:

„Zuvor haben wir uns zwei Jahre im fernen Lande Sind aufgehalten...“

„Sind?“, unterbrach ihn Yüo und fuhr fort: „Ich habe schon von dort gehört.“

„So? Wie du dann vielleicht auch weißt, ist das Land nach einem mächtigen Fluss, dem Sind, benannt. Von uns aber, den Menschen des gelben Volkes, wird es Tienchou genannt.“

„Ja, Herr, davon habe ich gehört.“

„Nun denn, ich will dir etwas erzählen. Das Wasser des Sind gilt den Menschen dort als heilig. Wer sich in seinen Fluten badet – so wird berichtet – wird von seinen Verfehlungen gereinigt. Vom Lande Tienchou drang das Gerücht einer neuen Lehre an den Kaiserhof. Nun hatte aber der erhabene, hochwürdige und unsterbliche Herrscher unseres Reiches, er möge zehntausend Jahre leben, einen Traum. Ihn träumte von einem großen Mann von goldener Farbe und einem ebenso goldenen Vogel, der sich aus der untergehenden Sonne kommend auf den Mauern seines Palastes niederließ. Als nun der Kaiser seine Berater über das Geträumte befragte, sprachen sie von einem Erleuchteten, den es in einem fernen westlichen Land geben sollte.“

„Und weiter“, sagte Yüo gespannt, als der Mönch eine Pause eingelegt hatte, um von dem Tee zu trinken.

„Der Kaiser nun sandte einen Boten nach Westen. So kam er auch zu uns in das Kloster und berichtete von seinem Auftrag. Unser Abt bat den Hofbeamten, mich mit auf die Reise zu nehmen, damit wir vereint auskundschafteten, was es mit dieser Lehre und ihrer Entstehung auf sich hat. Dieser hat zugestimmt und so zogen wir gemeinsam weiter. Du musst wissen: Unser Abt ist ein Suchender.“

„Du bist ein Mönch vom Kloster in Golmud?“

„Ja, das bin ich.“

„Ich habe bereits von Dir gehört.“

„So, von wem?“

„Von meinem Freund Chang Tou-fa.“

Sprach der Tempelpriester:

„Wir werden von hier weiter ins Reich ziehen bis hin zu den Fünf Heiligen Bergen, um dort den Ahnen für die geglückte Rückkehr zu danken. Es ist auch die Gelegenheit, meinen beiden Begleitern diesen ehrwürdigen Ort zu zeigen.“

Die beiden Männer nickten beifällig und dankbar. Gesprochen hatten sie bisher immer noch nicht. Der Wandermönch aber fuhr fort:

„Dann wollen wir zurückkehren nach Golmud, um unserem Tempelherrn Bericht zu geben.“

„Aber solltet ihr nicht erst nach Golmud wandern und dann...“

Der Mönch unterbrach Yüo.

„Sicher ist dies ein sehr großer Umweg und er scheint wider die Vernunft. Doch solltest du wissen, dass wir auf der Rückreise vom Lande Tienchou in Gefangenschaft gerieten und unsere Rückkehr ein unerwartetes Geschenk der Götter ist.“

Erstaunt blickte Yüo vom Priester abwechselnd zu den beiden jungen Begleitern, kniff leicht die Augen zusammen und wandte sich dann wieder an den Wandermönch.

„Ihr wart eingekerkert?“

„Ja, und der Fürst, in dessen Gewahrsam wir uns wohl zwei Monate befanden, ließ uns – wie du siehst - am Leben. Er richtete uns nur deshalb nicht hin, weil er die Schwester einer Mätresse unseres Kaisers zur Frau genommen hatte. Nun kam ein Tag, an dem der Fürst eine ausgelassene Feier veranstaltete. Während des festlichen Treibens gelang uns die Flucht, und wir wanderten fünf Tage und Nächte fast ohne Rast und Schlaf, um den Häschern zu entkommen. Aber bis heute sind wir uns nicht sicher, ob diese überhaupt je unsere Verfolgung aufgenommen haben. So wollen wir unsere Freiheit nicht für selbstverständlich nehmen und sie an zweite Stelle setzen.“

Nach einer Zeit des Schweigens räusperte sich der Mönch und es war ihm so, als wüsste er nicht recht, was sprechen. Doch dann redete er so:

„Als wir zu dir kamen, haben wir dich in deiner wichtigen Arbeit unterbrochen...“

„Nun, mein Herr. Ich sah vor einiger Zeit einen wunderschönen Vogel, der mir hier auf meinem Besitz Gesellschaft leistete. Seine Melodien verzauberten mich. Nie hatte ich so seltsam schöne Tonfolgen gehört. Doch den ganzen Winter über kam er nicht zu mir und ich fürchte, es ist ihm Schlechtes widerfahren.“

Yüo beschrieb den Vogel in all seiner Pracht. Dann hielt er inne, um dem Gesagten Nachdruck zu verleihen. Ließ sich denn die Anmut des Vogels und ließ sich der Liebreiz seiner Melodien überhaupt in Worte fassen?

„Vielleicht habt ihr unterwegs einen solchen Vogel gesehen? Denn sollte er zurückkommen, dann möchte ich, dass er für immer bleibt. Deshalb bin ich dabei, für diesen Fall einen Käfig zu bauen.“

Die beiden Jünglinge hatten den Worten aufmerksam gelauscht. Schon beim ersten Blick auf die beiden hatte Yüo erkannt, dass sie nicht vom Gelben Volk stammten. Sie waren wohl einen Kopf kleiner als ihr Herr. Die Nasen waren scharf und die runden Augen tiefliegend und listig, aber nicht böse - eher begabt. Dunkle Brauen wölbten sich über den Augen und ihre Stirn ließ auf Klugheit schließen. Die Farbe ihrer Haut war wie Bronze und die Lippen waren übermäßig voll und geschwungen. Einen Bart aber trugen sie nicht. In gewisser Weise sahen sich die beiden ähnlich und schienen gleichaltrig zu sein. Sie hatten bei den Ausführungen des jungen Bauern interessiert und erwartungsvoll geschaut. Der Lehrer aber gab zur Antwort:

„Oh nein, wir haben ein solches Geschöpf bisher nicht gesehen.“ Auch seine Begleiter schüttelten den Kopf.

„Und ich will dir auch nicht hereinreden“, fuhr der Priester fort.

„Wir wissen erst ein paar Augenblicke voneinander und es ist daher nicht gut, dir Ratschläge zu geben. Dennoch, wenn ich dich recht verstehe, hat die Lieblichkeit des Vogels dich überwältigt. Ich sah deine Augen leuchten, als du erzähltest.“

Die beiden Novizen nickten nun wissend.

„Bedenke jedoch“, fuhr der Herr fort und er sah dem Yüo fest in die Augen,

„ist nicht die schillernde Muschel gleich einer farblosen Hülse, nachdem man sie aus dem Wasser gezogen hat? Und der Mohn - wenn er so prächtig blüht und er dich zum Pflücken einlädt, was bleibt von ihm, wenn du es denn getan hast? In der Hälfte des Tages fallen seine roten Blätter zu Boden. Und...“ er legte eine kurze Pause ein und vollendete den Satz, „nur wenn du der Prinzessin nicht zu nahe trittst, ist sie schön.“

Yüo blickte den Wandermönch nicht an, sondern sah verschämt zu Boden. „Dui – Recht hast du - du meinst es wäre nicht richtig, den wunderbaren Vogel einzusperren?“

Vorsichtig wagte er nun einen Blick nach oben.

„Nun, jeder von uns muss tun, was sein Herz ihm sagt. Ich würde wohl anders handeln und meine Begleiter wiederum würden es wohl vielleicht tun wie du.“

„Ja. Und ich möchte auch keinesfalls Gewalt anwenden. Sollte dieser Vogel noch einmal nach hier kommen, dann überlasse ich es ihm, ob er sich in das Gitter begibt.“

Botschaft (14)

Es war nun Zeit für die kleine Gesellschaft ein wenig zu schweigen und gemeinsam den heißen Cha zu schlürfen. Der Gastgeber hatte mit den Teeblättern auch solche des Bitterkrautes mit aufgebrüht. Sie waren gut zur Stärkung von Leib und Seele. Als Yüo seine Schale zum zweiten Male abgesetzt hatte, sagte er zu seinen Gästen gewandt:

„Es muss also die Lehre des Prinzen sein, die ihr eurem Tempelherrn überbringen sollt. Ihr werdet ihm von dem Königssohn berichten, der auszog, um das Leben außerhalb des Palastes kennenzulernen und der den achtfachen Pfad lehrte.“ In Yüos Gesicht legte sich ein wenig Stolz.

„Du weißt demnach von dem Weg, den der Prinz lehrte“, bemerkte sein Gegenüber. Er hatte es nicht fragend gesagt. Es klang eher herausfordernd, so als wollte er sagen: Wenn du also um die Lehre weißt, dann handle auch danach!

„Nun ja“, antwortete Yüo deshalb etwas verlegen, und Röte glitt ihm ins Gesicht, „der Freund vom Schilfsee hat mir berichtet, dass der Prinz die Quelle der Glückseligkeit und der Zufriedenheit sein soll. Doch von der reinigenden Kraft des Flusses sprach er nicht. Ich mag auch kaum glauben, dass es sich so verhält.“

„Warum meinst du dies?“

„Herr, wenn wir Menschen fehlen, dann geschieht dies doch in unserem Inneren, in unserem Herzen. Wie kann dann eine körperliche Waschung uns davon reinigen?“

„So, und wie meinst du, kann dann unser Herz wirklich gereinigt werden?“

„Durch Opfergaben, Gebete und Fasten, denke ich.“

Die Jünglinge schauten gespannt auf ihren Herrn. Sie saßen rechts und links von ihm. Ab und zu während der Unterredung hatte der Mönch seine Hände auf ihre Oberschenkel gelegt. Nach den letzten Worten Yüos blieb der Mönch still. Er schaute nur milde auf den jungen Bauern. Yüo erkannte, wie unsinnig seine Bemerkung gewesen war, und glaubte zu spüren, dass der Tempelpriester seine Abneigung gegen all diese Bräuche erkannt und ihn durchschaut habe. Daher bat er:

„Könnt ihr mir von dem Prinzen und seiner Lehre erzählen! Ich weiß bestimmt nicht alles über ihn.“

Yüo dachte bei seinen Worten auch an seine nächste Begegnung mit Langhaar und wie er diesen mit seinem neuen Wissen verblüffen könne.

„Ich bin dir dankbar“, meinte der Mönch, bevor er auf die Bitte des Hausherrn einging, „wenn du mich nicht mehr mit ‚Herr’ ansprichst und auch ich will dich nicht mehr ‚mein Sohn’ nennen. Mein Name ist Luanxing und, wie ich schon sagte, bin ich Mönch vom Kloster bei Golmud, und ich bin gerne dein Gast. Ebenso fühlen sich auch meine Begleiter bei dir sehr wohl.“

Die beiden nickten begeistert mit dem Kopf und der Mönch fuhr fort: „Sie werden Guang und Jiao von mir genannt.“

„Wir stammen aus dem Land am äußersten Bogen des Westens“, sagte endlich der eine von ihnen. Es war der Jiao. Seine Art, die Worte des Gelben Volkes auszusprechen, war so, dass der Sohn des Bauern Ku lächeln musste. Aber er verstand den Fremden trotzdem sehr gut.

„Und ich bin Yüo, Sohn des Bauern Ku aus Yushu und Qamdo.“

„Sei gegrüßt, Yüo, und danke noch einmal, dass wir deine Gäste sein dürfen.“

Sie nickten sich leicht zu und der Alte fuhr fort::

„Du fragtest micgegangen ist?“

„Ja, Herr, ich bin von großer Neugier.“

„Nun - dann will ich dir erzählen: Es ist schon sehr viele Menschenleben her, da der Sohn des Königshauses aus dem Geschlecht der Quanxian im Lande Tienchou unter den Menschen wandelte. Über vierzig Jahre hatte er seine Erkenntnisse gepredigt, aber seinen Jüngern und seinen Zuhörern untersagt, die Lehren aufzuschreiben. Viele von ihnen wollten so leben wie er. Deshalb wurden seine Worte von einem Geschlecht zum nächsten mündlich überliefert. Die Schar seiner Anhänger aber ist mit der Zeit so sehr angewachsen, dass der Urgroßvater des gegenwärtigen Königs von Sind befohlen hatte, die Überlieferungen des Prinzen doch nieder zu legen.“

„Und?“

„Zunächst schrieben die Anhänger des Prinzen dessen Reden auf getrocknete Palmenblätter.“

„Palmenblätter“, wiederholte Yüo langsam und gedehnt und fuhr sich dabei mit der Rechten durch den Bart.

„Ja, die Blätter wurden dann mit dünnen Fasern aus Hanf aneinander gebunden. So wie es unsere Alten auch mit den Bambusholzstreifen getan haben.“

Yüo nickte.

„Es entstanden damit die berühmten Fadensammlungen, die in Körben aufbewahrt wurden.“

„Wie viele Körbe wurden gefüllt?“, wollte Yüo nun wissen.

„Oh, es sollen zwölf große Körbe gewesen sein. Aber manche behaupten, es seien noch viel mehr. Denn was der Prinz gelehrt habe, könnten alle Körbe von Sind nicht fassen.“

Ein schelmisches Lächeln funkelte bei diesen Worten in den Augen des Mönches als er fortfuhr:

„Wie dem auch sei. Jedenfalls haben in den nachfolgenden Jahren schreibende Mönche von diesen Sammlungen Abschriften auf Pergament gefertigt und sie in jedes Kloster des Landes geschickt.“

Yüo schenkte frischen Tee nach und reichte seinen Gästen das Gefäß mit dem braunen Zucker. Der Rauch des Feuers erfüllte die Luft mit Würze und mit Harz.

„Es gibt nun unzählige Rollen von Pergament im Lande Sind. Sie sind eng beschrieben, denn es wurden nicht nur die Predigten des Erleuchteten wiedergegeben, sondern auch viele Anmerkungen von weisen Männern hinzugefügt.“

Luanxing drehte seinen Oberkörper ein wenig nach hinten, deutete mit seiner Rechten auf sein abgelegtes Obergewand, unter dem sich seine Ledertaschen und der Rucksack befanden, und sprach weiter:

„Wir haben einige der Schriften in Tienchou erstanden und – den Göttern sei es gedankt – sie durch die Zeit der Gefangenschaft und der Flucht hindurch retten können. So dürfen wir Bewohner von Zhong Guo nach fast fünfzig Dekaden von Jahren vielleicht eine Zeitenwende durch diese Botschaft erleben.“

„Glaubst du, dass unsere Gläubigkeit nicht ausreicht, um den Göttern zu gefallen?“

„Doch, aber darum geht es nicht.“

„Sondern?“

„Es geht darum, ob wir in diesem Leben glücklich sein können, ohne dem Mitmenschen zu schaden und ob wir trotz des eigenen Leides den anderen nicht belasten.“

„Mmmh.“

Yüo war betroffen. Mit dieser Antwort hatte er nicht gerechnet. Er wollte das Thema wechseln und fragte deshalb den Mönch:

„Aber schreiben die Menschen aus dem Westen denn auch so wie wir und ist ihre Sprache ähnlich der des Gelben Volkes?“

Yüo warf abwechselnd einen Blick auf die beiden jungen Männer. Luanxing ging darauf ein.

„Oh nein, ganz und gar nicht. Die Aufzeichnungen des Westens unterscheiden sich von der Art unseres Volkes, wie sich Mann und Weib unterscheiden und es ist auch keine Ähnlichkeit mit der Art, wie wir sprechen, zu erkennen. Ich werde die Schriften Zeile für Zeile übertragen müssen.“

„Du denkst also“, sprach dann Yüo, „die Botschaft ist es wert, befolgt zu werden und wir sollten unsere Lehre in einem neuen Lichte sehen.“

„Keinesfalls werden und können wir unsere alten Überlieferungen vernachlässigen. Wir sollten aber hinzutun, was ihnen nicht widerspricht und was uns hilft, besser zu verstehen, was in diesem Leben wichtig und was unwichtig ist. Deshalb will ich mich auch mit meinem Herrn im Kloster zu Golmud beraten und ihm die Lehre vortragen, damit wir den gottgewollten Neuerungen nicht im Wege stehen.

So höre nun aber, wie die ganze Geschichte begann: Nach der Geburt des Prinzen gab ihm der Vater die Beinamen ‚der groß sein wird’ und ‚der sein Ziel erreicht hat’. Von seinen Anhängern wurde er aber später der ‚Weltflüchtige’ genannt. Warum, das erzähle ich dir jetzt.“

Yüo richtete seinen Körper kerzengerade auf und hörte gespannt weiter zu.

„Nun, sieben Tage nach seiner Geburt starb die Mutter, da das Kind, das sie geboren hatte, ein einzigartiges sein sollte. Zehn Monate zuvor hatte sie ihrem Gemahl bedeutet, dass sie beabsichtige, keusch zu leben und wenig später träumte ihr, ein weißer Elefant ginge in sie ein. Tatsächlich wurde sie ohne Zutun eines Mannes schwanger und gebar den Prinzen.“

„Du meinst ...“, sprach der junge Bauer verhalten und blickte dabei verschämt zu Boden.

„Ja genau, es ging kein Mann zu ihr ein.“

Der Mönch machte eine Pause. Yüo schaute auf und bemerkte, wie Guang und Jiao wissend schauten. Der Alte aber lächelte weise und fuhr fort:

„Von den Gelehrten des Landes wurde über ihn vorausgesagt, er würde einmal ein großer König, ein Feldherr, ein Welteneroberer, oder der Führer einer neuen Erkenntnis. Seine Zukunft sei die eines Weltenerleuchters; er würde einer, der die Welt verändert.“

„Von dieser Weissagung allerdings hörte ich noch nicht“, bemerkte Yüo. Der Tempelpriester erzählte weiter:

„Der Vater des Prinzen war Herrscher über ein kleines Königreich im Lande Xizang und er ließ den Jungen in der Kunst des Krieges und der Staatsführung unterrichten und wollte natürlich, dass sich die Weissagungen auch erfüllten. Der Prinz war umgeben von schönen Frauen und nannte eine von ihnen sogar sein Eigen. Sie war eine Prinzessin und sie hatten einen gemeinsamen Sohn. Der Prinz trug hübsche Kleider und ihm wurden die besten Köstlichkeiten zu Tische getragen. Aber da du ja schon ein wenig von seinem Leben erfahren hast, ist dir bekannt, dass dieser Tagesablauf ihn langweilte und nicht erfüllte und dass er sich für den anderen Weg entschieden hat.“

Luanxing ließ sich von seinem Gastgeber noch einmal von dem grünen Cha nachschenken und wollte fortfahren, doch Yüo warf eine Frage dazwischen:

„Der Sohn des Herrschers hat also das Erbe seines Vaters nicht weitergetragen?“

„Ja genau, der Sohn ging einen anderen Weg. Er verzichtete auf den Besitz und darauf, ein König zu werden. Die Erleuchtung aber, die er eines Tages erlangte, ist ebenfalls nicht vererbbar wie ein Titel, wie Gold oder wie Ländereien. Diejenigen, welche den Weg des Prinzen gehen, sind seine wirklichen Erben.“

Yüo saß mit halb geöffnetem Mund und lauschte den Worten des Luanxing.

„Dreimal verließ der Prinz den Hofstaat des Vaters, um immer verstörter und trauriger in die Geborgenheit zurückzukehren. Doch beim vierten Ausritt blieb er unter den gebeugten Menschen und kehrte nicht zurück. Der Sohn des Königs scherte sich selbst sein Haupthaar und legte das gelbe Gewand der Asketen an. Er ließ die Seinen zurück, um in den Wäldern über den Sinn seines Lebens nachzudenken. Er durchzog das Land von Ost nach West und von den Bergen bis an das Meer. Er, der eigentlich Herrscher hätte sein können, wurde Sklave. Er, dem hätte gedient werden können, stellte sich in den Lohn eines anderen. Der Prinz lebte bei den Menschen, aber auch bei den Tieren, er war Einsiedler, aber auch Liebhaber schöner Frauen und verschleuderte seinen Samen. Sein Gewand aber war bald grau von Dreck.“

Yüo nickte wissend und war etwas errötet ob der Worte des Mönchs. Der aber fuhr fort:

„Du weißt sicher, wie viel Sinnlosigkeit, wie viel Leid, wie viel Gebrechlichkeit er selbst erlebt und gesehen hat - und den Tod dazu. Wie er darunter litt und voller Zweifel war. Der Prinz begann zu erkennen, dass er nur dann über andere herrschen könnte, wenn er zuerst von seinen eigenen Zweifeln befreit würde und eine Antwort für den Grund von Leid, Krankheit, Alter und Tod gefunden habe. Mit anderen Worten: wenn er also zunächst Herr über sich selbst geworden wäre. Du weißt vielleicht, dass er es in der Folge tatsächlich geschafft hat, alle und alles zu besiegen, ohne je das Schwert gezogen zu haben. Allein gegen sich selbst benutzte er es, um sich sein langes Haar, wie ich schon erwähnt habe, abzuschneiden.“

Auch die beiden Fremdländer baten noch um etwas Tee und lauschten gemeinsam mit dem jungen Bauern den Worten des Meisters, so als hörten sie das alles zum ersten Mal.

„Der Sohn des Königs ließ sich unterrichten in Weisheitslehren und Meditationen. Doch auch nach vielen Jahren war ihm aus der Ungewissheit heraus zu kommen keinerlei Hinweis gegeben. So begann er, sich in noch schärferer Askese zu üben und es kam soweit, dass er über eine lange Zeit täglich nur ein Reiskorn oder einen Samen des Sesam zu sich nahm. Alles, was er versuchte, auch das Anhalten des Atems, um die Wahrheit zu erkennen, war vergebens.“

Der Mönch nahm noch etwas von dem lauen Reis und fragte mit leicht hochgezogenen Augenbrauen:

„Langweilige ich dich ..?“

„Oh nein ...“, sagte Yüo rasch,

„... überhaupt nicht. Erzähle weiter. Ich möchte alles über den Prinzen hören.“

„Nun gut, wenn du es willst. Eines Tages kam der Prinz geschwächt und am Ende seiner Kräfte und Weisheiten an einen kleinen Fluss. Hier ließ er sich mit untergeschlagenen Beinen und den Blick nach Osten unter einer Ziegenhirtenfeige nieder und war entschlossen, solange zu verweilen, bis er wüsste, wonach er suchte. Es vergingen viele Tage. Manche sagen, er verbrachte sogar einige Monate unter diesem Baum. Doch eines Morgens beim Anblick des Frühsternes durchfuhr ihn die Erkenntnis. Er sah den leuchtenden Punkt am Himmel das erste Mal ungetrübt, frei von Selbsttäuschung und ledig aller Sinnesträgheit. Dieses reine Sehen aller Dinge brachte ihm die Gewissheit.“

„Und wie gelangen wir an diesen Punkt unseres Lebens?“,

wollte der junge Bauer nun wissen.

„So höre weiter. Von dem Baum, unter dem er nun so lange gesessen hatte, begab er sich ein Stück des Weges und ließ sich unter einem anderen nieder. In dem Geäst dieses Baumes aber befand sich eine Schlange. Dort also nun versank der Prinz sieben Tage und sieben Nächte in vier Stufen der Meditation hinab, bis seine Seele ganz ruhte. Ja, bis er nur noch Seele war. Deshalb nun nannten ihn seine Freunde den Weltflüchtigen.“

„Und dann?“

„Dann durchlief er in den Stunden der siebenten Nacht im Inneren all seine früheren Leben. Von Geburt bis Tod und Wiedergeburt. Endlos durch alle Zeitalter. Mal war es ein schönes, mal war es ein grausames Leben. Mal war er reich, mal war er arm. Hier ein berühmter Herrscher, da ein Bettler. Einmal geachtet und voller Adel, dann wieder verpönt und verspottet. Mal war er Mensch, mal war er ein vierfüßiges Tier. Ein anderes Mal lebte er als Blume und dann wieder als Schmetterling. Je nachdem, wie er sich in dem vorherigen Leben als Mensch geführt und anderen gegenüber verhalten hatte.“

„Aber wie kann das sein? Ich mag so etwas kaum glauben.“

„Nun, das zu prüfen, werden wir dem Abt von Golmud diese Dinge ja vortragen. Das Leben ist voller Geheimnisse und auch wir glauben doch, dass unsere Seele unsterblich ist. Der Prinz von Sind jedenfalls hat den ewigen Kreislauf von Wiedergeburten endlich durchbrochen...“

„... so behauptet er“, unterbrach in Yüo. Luanxing lachte laut auf und verblüffte damit nicht nur seinen Gastgeber.

„Warum lachst du über mich?“

„Oh nein, ich lache nicht über dich, im Gegenteil! Ich bewundere nur deine Standfestigkeit und die Verteidigung des althergebrachten Glaubens. Ich habe es bereits vorhin, als wir über die Waschung im Fluss sprachen, bemerkt.“

Yüo hätte gerne etwas erwidert, doch er schwieg für diesen Moment. Stattdessen sprach der Luanxing.

„Aber natürlich hast du auch recht. Das, was ich dir berichtet hatte, ist das, was der Prinz den Überlieferungen nach erlebt hat. Nach dem Glauben seiner Jünger ist er in das ‚Tiefland der Liebe’ eingegangen. Nun höre, wie wir zu diesem Punkt gelangen können, denn dies ist der Weg zur Überwindung des Leides und zum Leben:

Erlange die rechte Erkenntnis; habe dazu die rechte Gesinnung; übe die rechte Rede und führe die rechte Tat aus; lebe von der rechten Arbeit und befleißige dich rechter Anstrengung; dazu habe noch die rechte Achtsamkeit und die rechte Sammlung.“

Der Mönch schwieg nun. Er spürte, wie sein Gegenüber Mühe hatte, alles das, was er gehört hatte, zu erfassen. Er wollte Yüo etwas Zeit verschaffen und mit einem Zeichen das gesprochene Wort unterstreichen. So beugte er sich leicht vor, legte seine Rechte auf die Brust und nickte Yüo aufmunternd zu.

In der Tat war es viel Neues, was hier zur Sprache gekommen war. Manches hatte Yüo schon von seinem Freund Chang gehört, oder dieser hatte das eine oder andere angedeutet. Yüo war beeindruckt und sein Herz hatte Mühe, alles aufzunehmen. Der achtfache Pfad, von dem er endlich gehört hatte, die vorherige Erleuchtung des Prinzen und sein Leben im Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt - das alles war doch recht erdrückend für ihn.

Aufgewühlte Seele (15)

Luanxing ließ seinen Blick von dem Yüo ab und lehnte sich zurück, um nun in einer der Ledertaschen etwas zu suchen. Er wurde bald fündig und es kam eine wunderbar bemalte Dizi zum Vorschein. Yüo nahm es verblüfft wahr, und die Höflichkeit gebot es, auf den Wink des Mönches einzugehen. Er legte daher seine Erlaubnis, spielen zu dürfen, in eine Frage:

„Du spielst die Dizi, oh Herr, mein Freund?“

„Oh ja – und wie“ hob nun Jiao an. Er tat es, bevor Luanxing auch nur die Möglichkeit hatte, zu antworten. Dann aber sagte der:

„Gerne möchte ich etwas zu deiner Erbauung auf der Dizi spielen. Doch bevor ich dies tue, muss ich dir doch noch erzählen, was geschah, nachdem der Erleuchtete sich vom zweiten Feigenbaum entfernen wollte. Ich weiß, dass deine Seele meinen Bericht nicht ganz fassen kann. Doch das Musikstück, das ich dir spielen möchte, gehört zu dieser Begebenheit.“

„Ja, erzähle. Was geschah?“ Yüo war ein wenig müde des Zuhörens. Doch er wollte höflich bleiben.

„Die Schlange,“ so begann nun der Mönch, „die sich im Laufe der Zeit um den Stamm gewunden, zuletzt aber sanft um den Körper des Prinzen gerollt hatte, legte am Morgen des siebenten Tages ihre Gestalt ab und verwandelte sich in einen Jüngling. Dieser spielte auf einer Flöte eine herrliche, in Tienchou bis dahin nie vernommene Melodie, die bis heute in den Klöstern dort am Flusse Sind von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird.“

Während seiner letzten Worte hatte der Luanxing die Dizi mit dem Saum seines Gewandes abgerieben, hatte sich vom Boden erhoben und war zwei Schritte über das Gepäck zurückgetreten. Bevor er nun das Instrument an seinen Mund führte, sprach er in feierlichem Ton so etwas wie eine Erklärung.

„Vernehme nun diese Weise – sie wird ‚Erleuchtung’ genannt, ein Lied aus Tienchou.“

Dann verzog er die Lippen leicht zu den Mundwinkeln hin, wie es auch Yüo tat, wenn er die Flöte spielte, und ließ das Instrument durch den Hauch seines Mundes erklingen. Es war eine wunderschöne Melodie. Die Tonfolgen mit den ausgeschmückten Wiederholungen, mit den Trillern und dem Stakkato, das Überblasen und die Triolen – das alles entlockte der Luanxing der Flöte. Sein Schüler hatte bei weitem nicht übertrieben. Sie hatten ihre Körper zur Seite gewandt und schauten ehrfürchtig in seine Richtung. Yüo aber saß ihm gegenüber und schaute auf zu ihm. Er hatte seine Fertigkeit auf der Flöte ja in der vergangenen Zeit verbessert. Doch bei weitem reichte sie nicht heran an das, was der Mönch zu bieten hatte. Eine unerhört schöne Weise nämlich vernahm er da! Sie erinnerte ein wenig an den Cantus des Bambusvogels. Yüo durchfluteten Wellen des Wohlseins. Er schien entrückt, war berauscht und doch war er ganz bei Sinnen. Der Mönch hatte derweilen seine Augen geschlossen und sein ganzer Körper war im Takt der Melodie in Bewegung. Leicht wippte er mit einem Fuß, ging etwas in die Knie, beugte seine Schultern nach rechts und links und schien so eins mit dem schönen Lied zu sein. Dann ließ der Luanxing die Abfolge der Töne langsam ausklingen, die Melodie verhallte und trieb vom Wind begleitet hinunter zum Fluss.

Der Priester setzte nun die Flöte ab, öffnete seine Augen, schritt nach vorne und nahm wieder am Feuer Platz. Er sah den Yüo an. Dieser schaute verdutzt.

„Was ist? Spiele ich nicht so, wie du es gewohnt bist, zu hören? Spiele ich schlecht?“, meinte er nun wieder ein wenig schelmisch.

„Oh nein, du spielst wunderbar, doch ...?“

„Ja?“

„Ich habe nie ein so anmutiges Flötenstück vernommen. Einzig das Lied des herrlichen Vogels, von dem ich euch berichtete, war so betörend schön, wie es dein Lied eben war. Ich bewundere dich. Es war köstlich, dir zuzuhören. Es war eine Botschaft an mein Herz.“

„So, wie es auch der schöne Vogel war?“

Yüo zögerte aus Überraschung kurz. “... Ja genau - aber wie kommst du darauf?“

„Nun, uns ist deine Begeisterung, als du von ihm berichtet hast, nicht verborgen geblieben.“

„Das stimmt, der gelbe Vogel hat es meinem Herzen angetan.“

Da sprach Luanxing: „Bedenke dabei aber auch, dass die Melodie, die ich gerade gespielt habe, aus Tienchou stammt. Könnte da nicht auch …“

„… du willst damit sagen und du meinst, auch der Bambusvogel kommt vielleicht von dort?“

„Möglich ist es doch, oder?“

„Ja - wenn ich es recht besehe...“ Yüo sprach die Worte gedehnt und dachte dabei auch an das, was ihm der Händler Mai über den Bambusvogel gesagt hatte und so er fuhr fort zu sprechen:

„Jetzt ahne ich, dass die Erscheinung des Vogels für mich eine noch tiefere Bedeutung haben könnte.“

„Nämlich - welche?“

„Dass ich mich der Lehre des Prinzen öffne?“

Die Antwort war mehr eine Frage. Yüo versuchte, in seinem Innern zwei Dinge in Zusammenhang zu bringen.

„Das mag schon sein,“ entgegnete ihm der Mönch und beugte sich bei diesen Worten noch einmal zu einer seiner Taschen, verstaute dort zunächst die Flöte und entnahm dem Beutel stattdessen ein kleines, in Pergament eingehülltes Päckchen. Als er das Papier entfernt hatte, kam eine wunderbar verzierte zylinderförmige Tasse zum Vorschein. Sie war aus Jade. Er reichte sie dem Guang zu seiner Rechten, der bisher die ganze Angelegenheit schweigsam betrachtet hatte und nun staunend zum Priester schaute. Der Alte aber strich das Pergament glatt, beugte sich vor und legte es dem Yüo in die Hände.

„Dort auf dem Papier sind die acht Zeichen des Heilspfades aufgezeichnet“, sprach der Mönch in das fragende Gesicht des Yüo.

„Du wirst vielleicht ein Leben dafür brauchen, sie wirklich verstehen und befolgen zu können. Die Erleuchtung wird kommen, aber den Zeitpunkt weiß niemand im Voraus. Auch ich“, er sah erst nach rechts und dann hinüber zur anderen Seite, „auch wir sind noch am Anfang des Weges und warten auf die rechte Offenbarung.“

Yüo legte den Bogen vor sich auf die Schenkel. Auf ihm waren die acht Speichen eines Rades aufgezeichnet. Um den Kreis herum verteilt standen – auf Höhe jeder einzelnen Unterteilung - die rechten Tugenden. Sie waren kunstvoll gezeichnet, wie es unter dem Gelben Volk üblich war. Doch unter ihnen befanden sich Zeichen, die er zuvor nie gesehen hatte. Waren es die Runzeln auf seiner Stirn oder der ungläubige Blick? Der Meister erkannte die stille Frage des Betrachters und ergriff noch einmal das Wort.

„Es ist die Art der Menschen in Tienchou zu schreiben, so wie ich es dir vorhin sagte und wie du siehst, habe ich bereits mit der Übersetzung begonnen.“

Ein schalkhaftes Schmunzeln glitt über sein Gesicht.

„Die Menschen am Flusse Sind halten nur die Laute ihrer Worte fest. Sie sagen aber nicht mehr aus, als gerade dieses. Es ist nicht die Schrift und auch nicht die Sprache, die dem Lauf der Natur und des Herzens folgt, und von den kosmischen Dingen redet. Bei all ihrer Klugheit befürchte ich, dass sie versuchen, so das Tao zu ergründen und es womöglich dabei zerstören. Aber den Sinn, welchen wir aussprechen könnten, ist ja das Tao nicht mehr, wie es Laozi einst gesagt hatte. Deshalb habe ich die Schrift unseres Reiches zum Verständnis hinzugefügt.“

Luanxing machte eine Pause und fuhr dann fort:

„Die Speichen zeigen den achtfachen Weg, von dem ich dir bereits erzählte. Sie können dir nur die ungefähre Richtung angeben, in die du dein Lebensqi bewegen solltest. Den rechten Weg dagegen musst du selbst finden und ... auch selbst gehen. Aber wie das Bild des Rades es schon sagt, bewegen sich alle diese Dinge im Kreise – sie wiederholen sich, sie bedingen sich, sie ergänzen sich und...“

Der Wandermönch blickte seinem Zuhörer tief in die Augen. Sein Blick war mild und doch ernst, als er weiter sprach.

„… bei allem, was du heute Neues gehört haben magst, mein Freund, gebe ich dir einen guten Rat: Sei, der du bist. Versuche nichts, was der Stimme deines Herzens widerspricht. Was du durch Worte anderer im Kopf aufbewahrt hast, wirst du auch schnell wieder vergessen. Nur an das, was du mit deinem Körper und deiner Seele festhalten kannst, an das wirst du dich dein Leben lang erinnern und nur von ihm lasse dich leiten.“

„Und was ist mit dieser schönen Jade?“, wagte Yüo nun zu fragen und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Guang. Der Priester antwortete nicht sogleich. Stumm bat er den jungen Begleiteter, ihm das Gefäß zu reichen. Guang tat dies und der Luanxing schaute wie abwesend auf seine Hand mit der Tasse, so als horche er in sich hinein. Das Gefäß schimmerte grünlich und war so lichtdurchlässig, dass der Betrachter meinte, seinen Inhalt erraten zu können. Der Deckel des Gefäßes war mit einem eleganten Knauf, der einen geöffneten Blütenkelch der Persimone darstellte, versehen. Nach einer kleinen Weile bemerkte der Mönch:

„Dies ist ein Geschenk aus Tienchou für meinen Herrn in Golmud. In ihm befindet sich ein wertvoller Gegenstand, von dem dir zu erzählen mir nicht erlaubt ist. Mag sein, dass du eines Tages davon hörst. Die Tasse selbst soll einen unerhörten Wert besitzen. Es wird gesagt, wer sie sein Eigen nennen darf, wird sein Lebensalter verdoppeln können. Ich glaube dies auch, denn dieser Stein ist eine Gabe der mächtigen Berge.“

Der Priester legte das Gefäß vorsichtig zurück in den Beutel und zog stattdessen ein kleines mit Hanfseil gebundenes Seidenbündel aus ihm hervor und sprach:

„In dieser Seide befindet sich Samen, den ich ebenfalls am Flusse Sind für den Allweisen in Golmud als Gabe erhielt. Wir wollen ihn dort in unserem Klostergarten aussäen, wenn es der Herr erlaubt, als Erinnerung und gleichfalls auch Fortführung unserer Reise.“

„Was genau für ein Same ist es, den du da bei dir trägst?“, wollte nun Yüo wissen. Des Mönchen Augen funkelten liebevoll, so als wollte er nicht nur gute Worte sprechen, sondern hätte bei sich auch einen Entschluss gefasst. Er sagte so:

„Nun – es ist Same von der jener Art des Feigenbaumes, von dem ich dir erzählte, dass der Prinz unter ihm im Angesicht des Morgensternes seine tiefe Erleuchtung hatte.“

Die beiden Jünger nickten beifällig und dem Yüo entfuhr ein hörbares „Oh“. Nun nickte auch der Mönch und begann an dem Hanfseil zu nesteln. In der Runde sprach niemand, bis die Seide nach einer Weile geöffnet war und nun wieder Luanxing das Wort führte.

„Wir wollen dir aus Dankbarkeit für deine Gastfreundschaft ein paar von den Samen hier lassen, damit du sie in deinem Garten - oder wo es dir beliebt - aussäen kannst.“

Er griff in das Säckchen und fingerte drei Samen heraus. Yüo schaute ungläubig. Doch der Mönch reichte ihm die Hand mit den Samen herüber und forderte die geöffnete Rechte. Yüo tat so und hielt nun die Kostbarkeit in seiner Hand.

„Danke, mein Herr, danke.“ Der Alte lächelte mild und vergebend. Dann sprach er :

„Wir müssen nun aufbrechen und unsere Reise fortsetzen. Nicht nur die Samen, sondern auch das Pergament mit dem achtfachen Pfad magst du behalten.“

„Aber,“ entgegnete Yüo, „brauchst du das Pergament nicht für deine Übersetzungen?“

Luanxing antwortete: „Keine Sorge, ich habe das alles in meinem Herzen.“

Die Worte aber von dem Aufbruch und der Fortsetzung der Reise kamen für alle unvermittelt. Die beiden Jünger schauten etwas ungläubig zu ihrem Meister auf und es war Yüo, der gerade etwas sagen wollte, als der Mönch schon fortfuhr:

„Vor Beginn der Dunkelheit wollen wir noch ein ordentliches Stück wandern und voran kommen.“

Yüo ergriff nun doch das Wort und sprach:

„Aber ihr könnt Morgen weiterziehen und bei mir nächtigen. Sonst müsst ihr euer Lager irgendwo im Walde aufschlagen - und der wilden Tiere und auch der rauen Gesellen sind viele.“

„Wir wissen durchaus deine Gastfreundschaft zu schätzen, wo de peng you, aber wir werden jetzt weiterziehen.“

Luanxing hatte diese Worte mit einer solchen Klarheit und Reinheit gesagt, dass Yüo nicht noch einmal wagte, sie für die Nacht zum Bleiben zu bewegen.

„Deine Hühnersuppe war schmackhaft, wie sie Himmelswesen nicht hätten besser machen können“, sprach der Tempelpriester, als sich die Gruppe zum Gehen erhob. „Du solltest die Rezeptur mit all den Zutaten auf Pergament festhalten“, ergänzte ihn nun auch der Guang. Der Ton seiner Stimme war angenehm und die Worte erbauten die Seele des Yüo.

„Wartet, ich gebe euch einen Tuscheblock und einen Pinsel aus Wolfshaar und etwas getrocknete Datteln und Pinienkerne als Wegzehrung mit.“

Yüo eilte, die drei Samenkerne in der Faust, zur Hütte. Luanxing wusste nur zu gut, was es bedeuten würde, wenn sie blieben. Eigentlich gebot es die Sitte, zu verweilen. Jedoch war er sich sicher, dass dann Vieles nur zerredet und dem Yüo die Zeit zum Nachdenken gestohlen würde. Dieser trat alsbald wieder zu ihnen ins Freie. Er hatte die Samen mit den Reisegaben getauscht.

„Bitte füllt eure Beutel noch mit frischem Wasser. Euren Besuch, das Lied, eure Worte, die Handschrift mit der Lehre des Prinzen und die Saat kann ich zwar damit nicht aufwiegen, aber...“

Der Tempelpriester unterbrach ihn:

„Wir danken dir dafür. Zai jian, wo de peng you – Auf ein Wiedersehen, mein Freund.“

Sie verbeugten sich dreimal vor ihrem Gastgeber, schulterten ihr Hab und Gut und stiegen auf dem gewundenen Pfad die Terrassen hinab zum Bach, um dann an ihm entlang weiter nach Osten ihrem fernen Ziele entgegen zu ziehen. Sie drehten sich noch einmal um und bedeuteten dem Yüo, dass sie später von dem Wasser nehmen würden. Yüo sah ihnen noch lange nach und selbst, als sie seinen Blicken entschwunden waren, stand er noch in Gedanken versunken. Die angefangene Arbeit am Vogelkäfig mochte er heute nicht mehr fortsetzen. Das, was er eben gehört und auch erlebt hatte, brachte sein Inneres Gleichgewicht ein wenig durcheinander. Die Harmonie war gestört.

„Ihr Ahnen“, murmelte er, „was hat das alles zu bedeuten?“

Die Fremden waren, so schnell wie sie gekommen waren, auch wieder gegangen. Das alles schien Yüo ein wenig unwirklich und ihm war in diesem Moment so, als stehe sein Leben an einem Wendepunkt: Das Lied und die Erscheinung des Bambusvogels, das wunderbare Flötenstück, die Lehre des Prinzen, erst verkündet durch den Freund Chang und nun durch den fremden Tempelpriester mit seinen beiden Begleitern, die Lehre des achtfachen Pfades und all das andere, was er gehört hatte, waren doch zuviel, um alles beim Alten zu lassen. Er war sich in diesem Augenblick sicher, dass das alles gewiss eine Botschaft an ihn war.

Auch wenn Yüo nicht alles durchschauen und sich erklären konnte, so wusste er doch, dass er an einem Wendepunkt seines Lebens angelangt war. Dort, wo sich zwei oder mehrere Wege vereinten, dort stand er nun und eine Entscheidung, welchen dieser Wege er einschlagen sollte, war vonnöten. Hatte nicht auch Luanxing von einer Neuerung der Zeit gesprochen? ‚Und sei es zunächst auch nur für mich ganz allein’, dachte er bei sich. Es war ihm, als läge eine Spanne vor ihm, die zu durchschreiten nicht ungefährlich, dafür aber lohnend sein könnte. Dem Sohn des Bauern Ku schien es unmöglich, diesen Tag vergessen zu machen, so als wäre dies alles nicht geschehen. Allein, der nächste Schritt für diese Reise war ihm heute nicht gegeben, und so entschloss er sich, unten am Fluss ein ausgiebiges Bad zu nehmen. Das Wasser perlte von seinen Muskelsträngen ab und das nasse Haar glänzte in der Sonne. Nachdem er nackt dem Wasser entstiegen und wieder mit dem Schurz und dem Überwurf aus Leinen bekleidet war, nahm der junge Bauer den Pfad hinauf zur Hütte und begann vor dem Feuer mit den Körperübungen.

Das Lied der Fragen (16)

Die Reise war beschwerlich gewesen. Doch einmal in seinem Leben sollte jeder aus dem Gelben Volk, der dazu in der Lage war, die Stätte der Fünf Heiligen Berge besucht haben. Zwar war Luanxing schon einmal diesen Weg gegangen, doch wollte er, dass auch die beiden Fremdländer, waren sie zurück in ihre Heimat gekehrt, von diesem heiligen Ort berichten konnten.

Trotz ihrer Eile benötigten die drei Pilger, nachdem sie das Heiligtum besucht hatten, einen und einen halben Monat, bis sie Golmud erreichten. Ihre Ankunft eilte ihnen zum Tempel voraus und der Gong, sowie die Glocken des Klosters, begrüßten sie schon von weitem. Der Großmeister des Heiligtums war selbst an das Tor geeilt und hatte Luanxing umarmt. In der Frühe des nächsten Tages wollte er ihn und seine fremdländischen Begleiter ordentlich empfangen und sich berichten lassen.

Doch zunächst wurde den weit Gereisten nach ihrer Heimkehr ein erfrischendes Bad gewährt und sie erhielten neue Untergewänder. Das anschließende reichliche Mahl bestand aus Hirsefladen, Bambusspitzen, gebratenen Hasenpfoten und Gemüse, sowie aus mit Pflaumensaft vermischten frischem Quellwasser. Anschließend wurden noch getrocknete Aprikosen gereicht. Dabei wurde Luanxing ununterbrochen höflich und ehrerbietig mit mannigfachen Verbeugungen begrüßt und verehrt und seine beiden Begleiter standen dabei im Licht seiner Anerkennung. Der Lehrer ließ es lächelnd zu. Priester und Diener, Tempelschüler und Gäste, der Zeremonienmeister und der Astrologe - sie alle freuten sich aber auch auf eine musikalische Vorstellung des Luanxing, die er noch an diesem Abend mit der Dizi geben wollte. Sein Ruf als Künstler auf der fünflöcherigen Bambusflöte war ein außerordentlich guter. So ließ Luanxing sich zu diesem Anlass nach dem Mahle aus der Garderobe des Klosters einkleiden. Ihm wurde ein Turban aus dunklem Tuch umgelegt. Sein Obergewand war aus purpurner Seide und die Ärmel waren mit goldenen Aufschlägen verziert. Die Hose war aus ziegelrotem Stoff und um die Taille wurde ein Gürtel aus Schlangenhaut gebunden. Seine nackten Füße steckten in Sandalen aus ungefärbtem Rindsleder.

Luanxing wurde bei seinen Darbietungen von dem Tanzou unterstützt und begleitet. Dieser lebte seit vielen Jahren im Kloster und lehrte die Novizen die Musik. Auch er war kunstvoll gekleidet, doch sein Turban hatte die Farbe der Narzissen und er spielte die Fischtrommel oder eines der Zupfinstrumente oder den großen Gong zu den Tönen der Dizi. Beide Künstler untermalten die Musik mit rhythmischen Bewegungen des Oberkörpers und mit Tanzschritten. Manchmal sogar sang Tanzou und folgte bei der Melodie den Tönen des Windes. Die erstaunt hochgezogenen Augenbrauen Luanxings aber ließen die Zuhörer ahnen, dass diese Worte frei erfunden waren. Dann hatte Tanzou auch zur viersaitigen Yueqin gegriffen und entlockte ihr mehr als dreimal zwölf Töne. Musik ist Erziehung von innen. Ja, Musik war mehr als dieses, denn sie ist Abbild der Harmonie und der Ordnung für den Einzelnen, aber auch für das ganze Reich und darüber hinaus sogar für den Kosmos. Im Moment des Hörens war sie die Pforte zum Paradies, durch sie öffnete sich das Tor zum Kloster der Ewigkeit, sie war der Pfad in das Königreich von Shambhala und mit ihr betrat der Zuhörer die Fähre zu den drei Inseln der Unsterblichen. Aber es gab im Reich der Mitte noch etwas, was der Musik in diesen Dingen gleichstand und für den Moment Tür und Tor ins Reich der Seligkeit öffnete. Dieses aber war den Mönchen von Golmud untersagt und sie hatten es durch das Gelöbnis der Keuschheit besiegelt. Vielleicht deshalb lauschten sie mehr als inbrünstig den köstlichen Darbietungen der beiden Musiker.

War es ein Lied der Freude, dass die beiden spielten, dann kamen die Töne laut und zerstreuten sich. War die Melodie scharf und ersterbend, dann bedeutete sie Trauer des Künstlers. Zorn drückte sich durch grobe und grausame Laute aus, Liebe aber durch Milde und Zartheit. So spielten Luanxing und Tanzou das Lied vom ‚Igel und der Mimose’, den ‚Tanz der fünf Löwen’ und das ‚Liebeslied der Prinzessin Wencheng’; die Zuhörer waren ergriffen von der Melodie ‚Der Kranich und die Schlange’, vom ‚Mann des Grimms’ oder von dem ‚Lied der Fragen’. Sie lauschten der Weise vom ‚Schnee im Frühling’. Die Worte aber zu dem Lied der Fragen waren alt und nicht frei erfunden. Die Worte gingen so:

„Ich frage dich, oh Wind,

wo kommst du her?

‚Ich komme von denen, die dich lieben.’

Ich frage dich, oh Wind,

wo gehst du hin?

‚Ich gehe zu denen, die dich liebten.’

Ich frage dich, oh Wind,

sage mir, wer ich bin!

‚Du bist es, oh mein Sohn, der Geliebte.’“

Doch die geheimnisvolle Melodie aus Tienchou spielte der weitgereiste Mönch heute nicht. Gerne aber hätte die Versammlung noch mehr von diesem Künstler und seinem Begleiter gehört. Jedoch sollte der Abend nicht zu lang werden, denn der nächste Tag würde für alle sehr früh beginnen und niemand als die Neuankömmlinge hatten die Ruhe der Nacht mehr verdient.

Der Weg der Mitte (17)

Der große Lehrer saß auf einem breitflächigen Stuhl, der zu beiden Seiten offen und mit einer hohen Rückenlehne versehen war. Hinter diesem Sitz gab es eine gelb getünchte Wand, die mit Sprüchen des großen Meisters Kong versehen war. Die Schriftzeichen waren in Schwarz gehalten, außer an einer Stelle. Denn dort stand, kunstvoll mit roter Tusche geschrieben:

„Qiang zhong zi you qiang zhong shou – so mächtig du auch bist, immer gibt es einen, der noch mächtiger ist.“

Auch das Gewand des Da Daoshi war heute ein anderes als am Vortag. Schwarz war es, schwarz wie ein Tuscheblock und durchwoben mit goldenen Fäden. Zur rechten und zur linken Seite des Erhabenen standen auf rot bemalten Hockern Schalen, gefüllt mit Wasser auf denen Lotosblüten schwammen. Der Raum war mit einem quadratischen Teppich ausgelegt. Er war mit purpur- und blaugefärbter Wolle gewebt. Jenseits des Teppichs befand sich der Thron des Tempelherrn – diesseits aber auf grünen Kissen, die mit einem blauen Zierband versehen waren, saßen mit untergeschlagenen Beinen Luanxing und seine fremdländischen Begleiter. Die Wände rechts und links waren mit bunter Seide behangen und über ihnen, an der reich verzierten Decke, war der himmlische Drache von einem wohl begabten Künstler farbenreich und wie lebend festgehalten worden.

Nun sprach der Herr des Klosters ein Gebet:

„Sage mir, wer sind die Menschen dieses Landes?

Lehre mich, die Erinnerung zu pflegen.

Erzähle mir von der Größe dieses Volkes.

Erzähle es mir leise.

Wer erzählt mir von der Stille der Wüste

und von der Majestät der fünf Berge?

Und wer sagt mir, dass die Steine vom Berg Tai

immer noch geduldig fallen,

und das der Gelbe Fluss noch immer ruhig strömt.“

Es trat eine Pause ein und nach einer Weile hob der große Lehrmeister sein Haupt. Er räusperte sich als Zeichen des Beginns ihrer Unterredung.

„Nun, Luanxing, ich bin erfreut, dass du nach so langer Zeit wohlbehalten nach Golmud zurückgekehrt bist. Zwar sahen wir uns bereits gestern, aber da war nicht die Zeit zu reden.“

Der Angesprochene nickte seinem Herrn zu. Dieser fuhr mit seiner Rede fort.

„Wir hatten bereits beabsichtigt, eine Delegation von Priestern nach Westen zu senden, falls du nicht bis zur Sonnenwende erschienen wärest. Deine beiden Begleiter magst du nachher in deinem Bericht vorstellen, denn ohne sie zogest du aus, und auch sie sind sicher ein Teil deiner Geschichte.“

Er beugte seinen Oberkörper zu den Wandermönchen hin in die Richtung Jiaos und dann begrüßte er in gleicher Weise Guang. Dem Guang aber lächelte er zu. Luanxing wartete das Ende dieser Zeremonie ab und begann zu sprechen:

„Vater, bevor ich von unserer Reise berichte, möchte ich dir ein Geschenk aus jenem fernen Land darbringen. Darf ich zu dir treten, Laoshifu und es dir übergeben?“

Der Angesprochene nickte leicht und Luanxing begab sich zu seinem Herrn und sprach:

„Vater, du hattest schon von dem Prinzen gehört, wie er auf der Suche nach dem rechten Weg des Lebens war. Das war ja auch der Grund, warum du mich mit dem Gesandten des Kaisers nach Westen ziehen ließest, damit ich dir und euch im Kloster mehr berichten kann.“

Der Da Daoshi nickte, und schaute seinem Priester erwartungsvoll in die Augen.

„Nun, was der Prinz aber auch tat und versuchte und kostete – die Strasse zur wahren Erkenntnis blieb ihm versperrt.“

„Ja, aber dann hatte er doch eine große Erleuchtung“, ergänzte ihn der Großmeister und blickte ihn nun fragend an.

„Du willst mir sicher mehr darüber erzählen.“

„Gewiss, mein Herr, doch schau!“

Luanxing öffnete die Schnur, faltete die Seide auseinander und reichte sie seinem Herrn. Der Tempelherr schaute abwechselnd auf das Tuch in seinen Händen und auf den Sprecher. Dieser aber fragte, ob er sich wieder setzen dürfe und der Alte gewährte es ihm. Als Luanxing wieder Platz genommen hatte, berichtete er seinem Da Daoshi, was er auch schon jenem jungen Bauern auf dem nördlichen Hochland weitergegeben hatte und wie der Prinz den Weg der Erleuchtung fand. Er sprach von dem Übel des Leides und dass dieses überwunden werden muss. So sprach er zu seinem Herrn über die vier edlen Wahrheiten des Prinzen: Vom Leiden, von der Entstehung des Leides, von der Vernichtung des Leides und von dem achtfachen Pfad der zur Vernichtung des Leides führt:

„Und dies dort in deiner Hand sind Samen von jener Art des Feigenbaumes, wie ihn schon der Fürstensohn gesehen hat und unter welchem er bis zu seiner Erlösung verweilte.“

Der Alte hatte das Bündel mit den Samen zur rechten Seite auf den Hocker neben die Schale mit dem Lotuswasser gelegt. Er hörte, wie sein Mönch weiter von dem Prinzen erzählte.

„Wie du schon vernommen hattest, Großer Lehrer, lebte der Prinz wohlbehütet am Hofe seines Vaters. Aber erst in dem Alter, indem er schon selbst Vater eines Sohnes geworden war, gelang es ihm, mit seinem Diener heimlich den Königspalast zu verlassen. Der Sohn des Königs ist so das erste Mal dem Leid begegnet. Er sah einen alten Mann, der sich gebeugt und unter Schmerzen, gebrechlich und geknickt wie ein Giebeldach über die staubige Straße bewegte; er sah auch einen kranken Mann auf seinem Lager, mit schütterem Haar und abgebrochenen Zähnen, der sich unter Schmerzen wand und zu ersticken drohte; der Prinz erlebte mit, wie man einen Leichnam fort trug, aufgeschwemmt und blauschwarz gefärbt, den geliebten Mann und Vater einer großen Familie. Zuletzt traf er noch auf einen Asketen mit zerschundenem Körper.“

„Und bis zu diesen Tagen hatte er von all dem nichts gewusst? Er war also vermählt und ist in die Kammer eines Weibes eingetreten? Er war nicht enthaltsam?“

„Ja Herr, bis zu diesem Tage war er ein Unwissender der Welt gegenüber, nicht aber war er es den Weibern gegenüber – er war ganz und gar nicht keusch. Er hatte viele Frauen ausprobiert“, der Mönch sah für einen Moment beschämt zu Boden, „bis er sich für die eine entschieden hatte. Er ergötzte sich mit seinen Freunden bei Gelagen, war behangen mit Gold und Edelsteinen und wurde von Dienern umsorgt. So blieb ihm der Blick für das Leben außerhalb seiner heilen Welt versperrt.“

Luanxing ließ eine Pause folgen und fuhr dann fort:

„Enthaltsam wurde er erst später und wenn du willst, werde ich dir weiter erzählen.“

Der Klosterherr schenkte ihm einen freundlichen Blick.

„Ja, natürlich, berichte weiter.“

„Nun war es zu der damaligen Zeit in jenem Land üblich zu glauben, dass alles Unglück und alles Leid durch die Untaten aus diesem oder einem früheren Leben komme. Denn der Mensch lebt immer fort, sei es als Tier oder als Pflanze oder in einer anderen Person und, dass das Böse das Gute überwiege. In diesen unendlichen dämonischen Kreislauf von Geburt und Tod und wieder neuer Geburt, diesem Karma – wie sie es nennen - ist der Mensch auf ewig verdammt. Der Prinz aber konnte diese Kette Dank seiner Erleuchtung zerschlagen und in den ewigen Frieden eingehen. So wie meine beiden Begleiter und ja auch ich, sind viele von der Lehre des Prinzen begeistert. Im Lande Sind gibt es nur sehr wenige Menschen, die sich nicht zu den Anhängern des Fürstensohnes zählen. Auch ich, Vater, wie du es sicher schon gemerkt hast, bin ergriffen von seinen Ideen.“

„Ja, es ist zu spüren, denn wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über.“

„Auf keinen Fall aber“, fuhr der Wandermönch fort, „will ich die Ahnen erzürnen und mich aus dem Schutz der Götter begeben. Doch reizt es mich, den achtfachen Pfad zu beschreiten, um an der Erleuchtung teilhaben zu können.“

„Nun, mein Sohn, wir werden das alles in unseren Beratungen mit Sorgfalt behandeln und vielleicht auch eines der Orakel befragen.“

Gott und das Tao (18)

Der Tempelfürst deutete nun auf die jungen Fremdländer:

„Du wolltest mir noch von deinen Begleitern berichten.“

„Vater, ich war im Begriff, dem Treiben am großen Fluss Sind den Rücken zu kehren, als diese beiden jungen Männer zu mir herantraten. Ich war ihnen, so berichteten sie mir hernach, in einem Traum erschienen, und deshalb baten sie, sich meinen Wegen anschließen zu dürfen. Der Eine ist spielerisch und lächelt oft. Man meint, in seine Seele schauen zu können. Ich nannte ihn also später Guang. Der Andere kann gewand reden, auch da, wo er lieber schweigen sollte, und er mag kein Fleisch essen. Deshalb gab ich ihm den Namen Jiao.“

Liebevoll sah der Abt auf die beiden jungen Männer und sprach zu ihnen:

„Erzählt mir von dem Traum, um dessen Willen ihr dem Luanxing nach hier gefolgt seid.“

„Ja, mein Herr“, antwortete nun der Jüngere von beiden. Als er begonnen hatte zu sprechen, war er leicht errötet und er fuhr mit einer Frage fort:

„Darf ich von Anbeginn erzählen?“

„Aber ja doch, natürlich.“

„Nun denn. Vor fünf Sommern und Wintern kamen wir aus einer sehr fernen Gegend an den Fluss Sind. Wir stammen nicht aus dem Lande des Prinzen, sondern unsere Vorfahren und wir kommen vom Mittelländischen Meer am äußersten Bogen des Westens. In unserem Dorf traf eines Tages eine Karawane ein und wir lernten Kaufleute kennen, die Seide und Jade, Brokat und Reis und allerhand uns fremde Gewürze feilboten. Den Männern am Brunnen berichteten sie von den Gepflogenheiten, Heilkünsten und anderen geheimnisvollen Dingen im ‚Reich der Mitte’, wie euer Land bei uns genannt wird. Getrieben von unserer Neugierde gesellten wir uns zu der Versammlung und stellten viele Fragen. Wir baten unsere Eltern und Familien, den Händlern in ihre Heimat folgen zu dürfen, um für das Leben zu lernen, dann zurückzukehren und unserem Volk eure Weisheiten zu verkünden. Wir hatten aber keine Vorstellung davon, wie weit euer Reich von unserem Land entfernt liegt.“

„So?“

„Ja, wir meinten, es wäre vielleicht eine Reise von ein oder zwei Monaten.“

„Nun, das reicht gerade einmal, um von hier an das Gelbe Meer zu gelangen.“

Es war immer noch der Guang, der sprach.

„Die Karawane blieb drei Tage in unserer Gegend, und am Ende hatten wir unsere Eltern überzeugt, mitreisen zu dürfen. Sie gaben den Kamelreitern Reben von den besten unserer Weinstöcke mit, denn du musst wissen, der Wein vom Mittelländischen Meer ist wohl kaum zu übertreffen.“

Bei diesen Worten ging ein mildes Lächeln über das Gesicht des Abtes. Doch sagte er nichts, sondern hörte weiter zu, was der Guang zu sagen hatte.

„Auf dem Wege zu euch nun gelangten wir an den riesigen Fluss, den Sind, und hörten dort die Botschaft der Erleuchtung. Wir waren sehr ergriffen und baten daher, dass die Karawane ohne uns weiterziehe. Zwei Sommer schon war Tienchou unsere neue Bleibe geworden, als wir dann Luanxing trafen. Wir erkannten, dass er aus der Fremde kam, und sprachen ihn an - seine Aura war so wohltuend, dass wir ihn baten, bei ihm bleiben und mit ihm gehen zu dürfen. Nun, wo wir hier bei Euch im Kloster weilen, wissen wir auch, woher diese gute Kraft kommt.“

Luanxing hatte mit einer Handbewegung dem Lobpreis Einhalt geboten. Der Abt aber nickte zustimmend, ging auf das Gesagte ein und sprach nun an den Guang gerichtet:

„Seid ihr inzwischen von eurem alten Glauben abgefallen? Ihr habt doch sicher auch eure Ahnen, die ihr verehrt, dort - wir ihr sagt - im Land am äußersten Bogen des Westens?“

Der Guang aber sprach:

„Nein, mein Herr. Ganz gewiss haben wir unsere alten Überlieferungen nicht vergessen. Wir glauben immer noch an unseren Gott und ihn allein ehren wir.“

„Hmh, erzähle mir mehr von eurem Gott.“

„Ja Herr, das will ich gerne tun. Obwohl es von dem Höchsten heißt, dass er an Güte und Huld nicht zu übertreffen sei, ist der Weg zu ihm doch steinig und beschwerlich und er besteht aus Opfern Tag für Tag. Blutende Stiere und Schafe fordert er von den Reichen und Tauben von den Armen. Nur durch Befolgung vieler schwerer Regeln können wir ihm vielleicht wohl gefallen. Er gebot uns, die Feinde bis auf den letzten Mann zu vernichten, wenn sie nicht auch ihm zugeneigt sind. Deshalb hat es uns die Lehre des Prinzen so angetan, denn all das Schwere hat er nicht gepredigt.“

Jiao fügte etwas aufgebracht hinzu:

„Es plagt uns deshalb auch unser Gewissen, denn von unserem Gott heißt es, dass er furchtbar eifersüchtig sei.“

„Was für Regeln sind es, die euer Gott euch gegeben hat?“, wollte nun der Da Daoshi wissen. Nun sprach Jiao weiter, ohne seinen Bruder zuvor zu fragen:

„Natürlich sollen wir keinem anderen Gott dienen und wir sollen seinen Namen nicht missbrauchen. Wir sollen unsere Eltern ehren und niemanden dürfen wir töten und auch nicht begehren, was dem anderen eigen ist, weder Hab und Gut und auch nicht das Weib.“

Der hohe Lehrer hatte aufmerksam zugehört und fragte dann:

„Welches ist das höchste dieser Gebote?“

„Nun, Herr, eigentlich sind es zwei Gebote. Dass wir keinem anderen Gott als dem unserem dienen und dass wir niemanden töten.“

„Das ist interessant zu hören“,

meinte nun der Tempelfürst und fuhr fort,

„denn in unseren Überlieferungen steht an erster Stelle auch die Empörung gegen den Himmel. Der Mord allerdings wird an letzter Stelle der Gräueltaten genannt. Zuvor stehen noch die Verbote der Lästerung gegen die Weisen, Empörung gegen andere Menschen und Lästerung gegen die Ahnen und Geister.“

Es trat eine kurze Pause in die rege Unterhaltung ein. Dann meinte der Da Daoshi:

„Verzeiht mir, aber ist euch aufgefallen, dass zwar euer Gott das Töten unter Strafe stellt, aber er andererseits auch befiehlt zu töten. Ob er wohl gar Freude an vergossenem Blut hat?“

Guang und Jiao pressten ihre Lippen zusammen und hoben gleichzeitig ihre Schultern, so als hätten sie um ihres Gottes Willen ein schlechtes Gewissen und so als wollten sie ihn in Schutz nehmen. Jiao wollte nun antworten und Guang sah es in seinen Augenwinkeln. Er hob beschwörend die Hand, gebot dem Jiao Einhalt und ergriff stattdessen selbst das Wort:

„Herr, wenn ich ehrlich bin, muss ich dir sagen: Du hast Recht mit deinem Einwand. Gerade deshalb sind wir ja auch, wie ich es zuvor schon bemerkte, so von der Lehre des Prinzen ergriffen. Es ist ein Zwiespalt in uns, und Jiao und ich müssen wohl noch über Vieles nachdenken. Mag auch sein, wir haben unsere Überlieferungen hier und da missverstanden.“

Der Da Daoshi schaute mit offenem Gesicht in die Augen erst des Guang und dann des Jiao und meinte:

„Oh nein, ganz gewiss habt ihr eure Schriften nicht falsch verstanden. Dafür seid ihr viel zu ernsthaft und zu klug. Ich denke eher, dass weder eure Schriften, noch unsere Überlieferungen, noch die Lehren des Prinzen die ganze Wahrheit enthalten.“

Sowohl die beiden Fremdländer, als auch Luanxing nickten dem Alten zu, sagten aber nichts. Dieser nun richtete seinen Blick wieder auf Guang und stellte ihm diese Frage:

„Sag mir, wie ist der Name eures Gottes?“

„Unser Gott hat keinen Namen,“ antwortete dieser.

Erstaunt schauten sich Mönch und Abt an und dieser bemerkte: „Gerade jedoch sagtet ihr noch, dass der Name eures Gottes nicht missbraucht werden soll. Aber wenn er keinen Namen hat..?“

„Herr“, sagte nun Jiao, denn er fühlte sich angesprochen und sein Bruder ließ ihn auch gewähren, „unsere Schriftgelehrten legen es so aus, dass niemand Gott für sich beanspruchen soll, um ihn als Waffe gegen den anderen zu benutzen.“

Und Guang fügte hinzu:

„Unsere Alten lehren zudem, dass wir unseren Gott nicht mit einem Namen benennen sollen, da er sonst kein Gott wäre, sondern sterblich wie wir alle.“

Sprach Luanxing:

„Wir haben auf unserer langen Reise so manches Gespräch geführt und uns über dieses und jenes ausgetauscht. Ja, diese beiden jungen Männer haben mir erzählt, wie einzigartig sie ihren Gott sehen und wie eifersüchtig er über diesen seinen Anspruch wacht. Bei allem, oh Herr, klingt es, wie du dir denken kannst, ähnlich der Worte des alten Meisters Laozi - darf ich?“

Der Da Daoshi nickte zustimmend und Luanxing rezitierte:

„Das Tao, das mitgeteilt werden kann,

ist nicht das ewige Tao.

Der Name, der genannt werden kann,

ist nicht der ewige Name.

Das Unnennbare ist das ewig Wirkliche.“

„Das erinnert doch wiederum sehr an die Überlieferungen von unserem alten Vater Mo“, fand Guang zuerst Worte und fuhr fort:

„Ihm war unser Gott erschienen und er hatte ähnlich gesprochen, wie Luanxing es eben sagte.“

„Nämlich?“

„Nun Herr, als unsere Väter vor zehn mal zehn Dekaden von Jahren im Land der Pyramiden unter der Knechtschaft des dort herrschenden Königs lebten und Gott gedachte, sein Volk zu befreien, fragte ihn eines Tages Mo nach seinem Namen. Da soll der Höchste so geantwortet haben:

‚Ich bin, der ich bin,

ich bin der Seiende!’“

Der Abt nickte und sprach:

„Abgesehen davon, dass ich noch nie gehört habe, wie ein Mensch mit den Göttern Zwiesprache halten kann: In der Tat, es klingt ähnlich wie das Wort vom Tao. Aber darüber können wir uns später einmal unterhalten.“

Guang reizte es aber, ein wenig zu streiten, deshalb sprach er:

„Wenn nun aber das Tao und unser Gott Ähnlichkeiten aufweisen, wie passt dies mit der Tatsache zusammen, dass es viele Götter unter euch gibt und was ist mit dem Weg der Erleuchtung des Prinzen, der uns in das Paradies führen soll?“

„Ihr verehrt zudem noch die verstorbenen Ahnen und fragt das Orakel“, ergänzte ihn Jiao. Auch ihm war nach Streit.

Der Abt aber antwortete nicht und ließ die Worte der Ungestümen im Raum verhallen. Hatte er nicht gerade zuvor davon gesprochen, dass in keiner der ihnen bekannten Lehren die ganze Wahrheit liege, sondern dass sie in allen Schriften zu erkennen sei? Hatten nicht alle auf seine Worte hin zustimmend mit dem Kopf genickt? In die Stille hinein erröteten die beiden Jünger und es war Guang, der zuerst Worte fand. Etwas kleinlaut sprach er:

„Recht hast du, Herr, mit deinem Schweigen und ich muss deiner vorherigen Worte gedenken ... Die Frage ist in der Tat, was denn nun Wahrheit ist?“

Er streckte seine Arme mit den geöffneten Händen dem Abt entgegen und fuhr fort:

„Wir wissen es in der Tat auch nicht und sind deshalb unserem Traum gefolgt.“

Auch der Herr des Tempels zog seine Schultern leicht an und meinte:

„Allein der Himmel ist im Besitz der Wahrheit. Es ist aber die Aufgabe der Menschen, sie zu suchen.“

„Und sie dann auch zu finden?“, fragte nun Guang.

„Nun, ich bezweifle, dass wir sie jemals finden werden.“

„Warum?“, wollte jetzt Jiao wissen.

„Weil unser Herz uns dabei im Wege steht. Die Wege des Herzens sind unergründlich. Der alte Meister Kong meinte einmal, dass es im Herzen ist, wie im Innern eines Baumstammes: Myriaden von Fasern gibt es dort und ebenso viele Verzweigungen.“

Der Daoshi seufzte bei diesen Worten und meinte dann weiter:

„Aber solange wir auf der Suche nach der Wahrheit sind, befinden wir uns auf dem rechten Weg. Habt Acht vor denen die sagen, sie hätten die Wahrheit gefunden.“

Guang schien nachzudenken, als wollte er noch etwas dazu sagen. Doch er schwieg und nickte fast unmerklich mit dem Kopf. Es gab keinen weiteren Versuch eines Streitgespräches.

Der Abt wechselte das Thema und kam damit auf das Ursprüngliche zurück:

„Sagt mir endlich, wer von euch beiden hatte diesen Traum, von dem mein Priester sprach?“

„Mein Herr. Wir träumten es beide in derselben Nacht“, antwortete Jiao.

„Beide?“

Sprach Jiao so:

„Ja, jeder von uns hatte ein anderes Bild im Schlaf, aber beide Bilder haben das Eine gesagt. So träumte ich und sah ein großes Rad, in dem viele Speichen zusammengefügt waren. Mein Blick wurde auf die Mitte des Rades gelenkt, dort wo diese zusammenlaufen. Da begann der Reif, sich um die Leere in der Mitte zu drehen. Mein Bruder aber erblickte im Schlaf ein Gefäß aus Ton, das von außen reich verziert und mit schönen Farben versehen war. Doch sein Blick wurde auf das Innere des Kruges gelenkt und blieb dort haften. In jenem Moment ergoss sich ein wundervoll duftendes Öl in die Leere des Kruges“.

„Wir beide aber erblickten in unseren Träumen ein Gesicht, das dem deines Dieners sehr ähnelte“, sprach nun Guang, neigte seinen Kopf in Richtung des Mönches und fuhr fort, „und wir beide nahmen einen goldenen Vogel wahr, der nach Osten flog und der sich auf der

Mauer eines solchen Tempels, wie der eure einer ist, niederließ. Als wir deinem Boten dann in Wahrheit begegnet sind, baten wir, ihm

folgen zu dürfen. Jetzt wissen wir, dass unsere Entscheidung richtig war.“

Der Blick des Erhabenen glitt zwischen den beiden jungen Männern

prüfend hin und her.

„Ihr seid Brüder?“

„Nun“, antwortete der Guang, „meine Mutter und der Vater des Jiao kommen von dem gleichen Stamm, von denen es in unserem Volk zwölf gibt. Wir sind deshalb vom Ursprung her Anverwandte und nennen uns folglich Brüder. Als ich geboren wurde, war meine Mutter noch ein Mädchen und auch die Geschichte des Jiao ist wundersam. Wenn du erlaubst, werden wir dir später davon berichten.“

Der Angesprochene nickte und schaute sie wohlwollend an.

Verwandtschaft von Gut und Böse (19)

Der Priesterkönig griff zur Teeschale und nahm einen Schluck von dem lauen, erquickenden Getränk. Seine Gegenüber taten es ihm gleich. Dann sprach der Herr des Tempels:

„Ich will euch etwas erzählen. Es ist eine Geschichte, die ich in jungen Jahren erlebt habe. Luanxing kennt sie zwar bereits und er hat dazu auch ein Lied verfasst, das er uns gestern Abend dargeboten hat. Aber ich bin sicher, er hat nichts dagegen einzuwenden, wenn ich noch einmal davon berichte.“

Der Wandermönch schaute etwas verlegen, nickte aber zustimmend. Da begann der Da Daoshi zu erzählen:

„Meine Familie und ich wohnten im Blütenland und wir hatten einen wunderbaren Garten mit Sträuchern und Bäumen, mit Wiesen und bunten Blumen und mit einem Teich. Eines Tages beobachtete ich eine Schlange und einen Kranich. Beide waren miteinander im Streit. Der Vogel versuchte die Schlange mit kraftvollen Schnabelhieben zu bearbeiten und trat mit den Füßen nach ihr. Dabei schützte er sich selbst mit kreisenden Flügelbewegungen. Das Reptil jedoch wich all diesen Attacken geschickt aus. Es zog den Körper zurück, beugte ihn zur Seite, um dann wieder nach vorne zu schnellen. Jedes Mal schlug der Vogel ins Leere. So ging es eine ganze Weile und kein einziges Mal hatten sie einander berührt. Dann, nach einer ganzen Zeit, flog der Kranich ergeben und müde davon und die Schlange hatte gesiegt ohne dem Gegner eine Verletzung zugefügt und vor allem, ohne selbst Schaden genommen zu haben. Seit diesen Tagen versuche ich, es der Schlange gleich zu tun. Wer diese Kunst wirklich beherrscht, benötigt kein Schwert – der Gegner erledigt sich am Ende selbst. Besser aber noch ist es, einen Feind zu überzeugen, denn er wird dein Freund. Ein Gegner aber, den du besiegst, bleibt für immer dein Feind.“

Die beiden jungen Männer hatten andächtig den Worten gelauscht und waren ohne Zweifel tief beeindruckt. Guang lag noch eine Frage auf der Zunge. Der Weise spürte es und sprach an ihn gerichtet:

„Du wolltest noch etwas dazu bemerken, oder?“

„Ja Herr, ich frage mich..?“

„Ja?“

„Ich frage mich, warum du uns diese Geschichte eben erzählt hast.“

„Nun, - bitte seid nicht erbost und verletzt - weil ich bestürzt bin über die Blutrünstigkeit eures Gottes. Ich wollte euch nur vor Augen halten, dass es auch ohne Blutvergießen geht.“

Guang und Jiao nickten und zeigten durch ihre stille Geste Zustimmung und Verständnis.

„Ja Herr, du hast wohl recht und gerne würden wir diese Fertigkeit des ‚Siegens ohne zu kämpfen’ erlernen...“, meinte Guang und Jiao fügte hinzu:

„Die Schlange scheint ein kluges Tier zu sein.“

„Ja, das ist sie wohl.“

„In den Erzählungen unserer Urzeit erscheint sie allerdings auch als böse und als eine Verführerin“, sagte mit Nachdruck Guang.

„In unserer Sprache bedeutet das Wort für Schlange auch gleichzeitig ‚wahrsagen’“, belehrte dann noch Jiao die Anwesenden.

Der Da Daoshi schmunzelte leicht und sprach: „Nun, wie ihr selbst erkennen müsst, ist dieses Reptil ein höchst interessantes Wesen und ein Abbild von so manch gegensätzlichen Dingen.“

„Ja, das ist sie wohl.“

Es war wieder Guang, der gesprochen hatte und er sagte diese Worte sehr nachdenklich. Er wurde nämlich an eine der überlieferten Erzählungen erinnert, in der die Schlange Verderben brachte, aber auch Bürge für die Genesung seines alten Bundesvolkes gewesen war. Die Väter hatten in Urzeiten auf der Wanderung durch die Wüste gegen Gott und seinen Gesandten, den alten Mo, gemurrt und daraufhin hatten sie Böses erlebt. Sie wurden von feurigen Schlangen gebissen und viele starben an ihrem Gift. Doch Gott sprach zu Mo und sagte ihm, er solle eine Schlange aus Bronze gießen und sie an einen Pfahl heften. Jeder, der von einer dieser feurigen Nattern gebissen wurde, aber auf ihr gegossenes Ebenbild schaute, wurde gerettet und musste nicht sterben.

„Gut und Böse liegen auch eng beieinander,“ sprach der Herr, unterbrach damit Guangs Gedanken und fuhr fort:.

„Das Gift einer Schlange kann, verdünnt zubereitet, auch als Medizin verwendet werden. So jedenfalls tun es unsere Ärzte. Doch lasst uns für heute dieses Thema beenden und lasst uns zum Ende kommen. Ich werde euch in die gute Kampfart der Schlange einweisen lassen. Ich denke doch, dass ihr ein wenig bleiben werdet.“

„Erhabener“, sprach nun wiederum Guang und schüttelte innerlich seine sinnenden Gedanken ab, „gerne würde ich von dem rezitieren, was in unseren heiligen Rollen geschrieben steht. Es ist auch eine Art von Gebet, wie du es am Anfang gesprochen hast. Würdest du es mir erlauben?“

Gespannt wie die Sehne eines Kaiserbogens mit halboffenem Mund sah Jiao vorgebeugt zuerst zu seinem Bruder hinüber und dann zu dem Herrn des Klosters. Dieser sagte kein Wort, lächelte auch nicht, sondern machte nur eine kurze Handbewegung der Zustimmung. Es war vielleicht unhöflich gewesen, in dieser Form das Wort zum Schluss zu ergreifen, aber Guang hatte nicht anders gekonnt und vielleicht war es noch unhöflicher aufzustehen, aber Guang tat es. Er zog ein schwarzes Seidentuch aus seinem Gewand und legte es sich über das Haupthaar. Jiao tat es ihm gleich. Priester und Hausherr wechselten einen kurzen Blick miteinander und erhoben sich ebenfalls. Dann sprach der Guang mit geneigtem Haupt und mit ehrfurchtsvoller Stimme diese Worte:

„Du, der du der hellste Stern am Himmel bist,

du schaust in mein Inneres;

alles weißt du über mich, sogar meine tiefsten Absichten,

nichts ist dir bei mir verborgen.

Kein Vorhang, kein Schleier kann dich hindern.

Alle Wege, die ich gehe,

du bist sie zuvor gegangen;

alle Worte, die ich spreche,

zuvor hast du sie schon gehört.

Wohin soll ich noch gehen,

an welchem fernen Ort Zuflucht nehmen?

Wartest du dort nicht schon auf mich?

Schaue ich nicht auch dort in deine Augen?

Wenn ich zum Himmel hinaufsteigen würde,

oder mein Weg mich zu den Toten führte;

ja, hätte ich Flügel und könnte zum fernsten aller Meere fliegen,

dort wo die Sonne ihren Tag beginnt,

auch dort würde deine offene Hand auf mich warten.“

Als der junge Fremdländer geendet hatte, blieb es für viele Herzschläge so still, wie es auch in der tiefsten und dunkelsten Nacht nicht lautloser hätte sein können. Guang traute sich nicht, aufzuschauen und war darauf gefasst, aufgrund der Worte, die er gesprochen hatte und der Geste des Aufstehens Schelte zu empfangen. Doch der Tempelvater sagte erlösend, sanft und leise:

„Obwohl ihr unsere Sprache noch nicht perfekt beherrscht, habe ich selten, ja sehr selten so schöne Silben vernommen. Ihr müsst mir mehr von eurem Gott erzählen, denn wie passen diese Worte zu seiner Härte? Wer ist euer Gott denn nun – will er die Einhaltung von Vorschriften oder will er das grenzenlose Vertrauen?“

Guang und Jiao zuckten leicht mit den Schultern und letzterer meinte:

„Dies herauszufinden, haben wir uns ja auf den Weg gemacht. Mag sein, wir finden die Antwort bei Euch.“

Der Erhabene schien tief berührt, aber auch erstaunt über den Mut des Guang. Die Rede am Schluss noch einmal aufzunehmen, ohne seine Zustimmung aufzustehen und ein Gebet zu sprechen: das hatte bisher nie jemand gewagt. Er erkannte jedoch dahinter nicht den Leichtsinn eines jungen Menschen, sondern vielmehr die Ehrfurcht vor dessen eigenem Gott. So gebot nun der Da Daoshi, sich wieder setzen zu sollen - um des Ausgleichs willen von Nehmen und Geben, Standhalten und Nachgeben, Zulassen und Gebieten. Nun hatte auch Luanxing den Mut und bat noch um das Wort. Der Abt gewährte ihm diese Bitte und so sprach der Mönch:

„Wir wollen nicht versäumen, dir noch von jener Begegnung mit dem jungen Bauern im Hochland der Rong-Steppe zu berichten.“

„Ja, erzähle. Was hat es mit dem Bauern so Wichtiges auf sich?“

Der Mönch begann nun von dem Yüo, dem angefangenen Käfig, dem Bambusvogel und der Melodie aus Tienchou zu erzählen. Die beiden jungen Männer lauschten gespannt, als hörten sie zum ersten Mal davon.

Zerbrochene Freundschaft (20)

Während der nächsten Tage, an denen Yüo die Erde umpflügte und den Kot der Ziegen unter den Boden brachte, hatte er immer wieder in sich hineingehorcht. In gebückter Haltung und mit freiem Oberkörper riss er die Ackerkrume auf, zupfte mit der bloßen Hand das überflüssige und schädliche Kraut heraus und warf es auf den Haufen, der mehr und mehr wuchs. Ebenso griff er nach Steinen und nach altem Wurzelwerk und tat beides zur Seite. Es war sehr wohltuend, im Boden zu graben, den rotgelben Humus zu riechen und die Herkunft des Menschen in ihrer Ursprünglichkeit zu spüren. Aus dieser Scholle kam jeder und Yüo wusste, dass der Erdbewohner zu ihr zurückkehren würde. Doch für ihn, so hoffte er, würde dies nicht gelten, oder zumindest noch in sehr weiter Ferne liegen. Beim morgendlichen Bad im kalten Wasser des Flüsschens, beim Einnehmen des Mahles, beim Teetrinken und beim Melken der Tiere, beim Zubereiten seiner Mahlzeiten und vor allem beim Kochen seiner Hühnersuppe, in der Ruhe des Abends und auf dem nächtlichen Lager, stellte der Bewohner des Hochlandes sich dieselbe Frage: „Was willst du, mein Herz – was ist deine Absicht, oh du meine Seele?“ Die Sehnsucht nach dem Bambusvogel war groß. Wo war er geblieben? Wo würde er jetzt sein? Wäre er doch in seiner Herrlichkeit hier bei ihm!

Manchmal wollte Yüo Angst und ein bedrückendes Pflichtgefühl befallen, weil er sich in dieser Angelegenheit nicht an die Ahnen wandte. Auch die Rede Luanxings von der Muschel, dem Mohn und der Prinzessin, die allesamt den Glanz und die Herrlichkeit verlieren können, vermochte ihm nicht zu helfen. Oft stellte er sich vor, der Mönch in seiner gewaltigen Erscheinung wäre ein Teil von ihm, und er würde ihn fragen, was zu tun sei. Yüo stellte sich auch vor, wie wohl dieser mit der Herausforderung umgehen würde. Das half ihm schon ein wenig. Er studierte nach getaner Arbeit ebenfalls das Blatt Papier, auf dem der achtfache Pfad aufgezeichnet war. Aber auch das tat er nur mit mäßigem Erfolg. Der Wunsch, den Bambusvogel bei sich zu haben war allgegenwärtig und das Leben hier auf dem Hochland schien dem Yüo mehr und mehr öde und auch sinnlos ohne ihn. Aber er wusste, dass er allein eine Entscheidung zu treffen hatte und dass es richtig war, sich zu diesem Zeitpunkt allein mit seinem Herzen zu unterhalten und sich nicht mit Fleisch und Blut zu beraten.

Eines Mittags nun, beim Ruhen im Schatten des Vordaches, fasste Yüo den Entschluss, die angefangene Arbeit am Vogelkäfig fortzusetzen. „Sei, der du bist.“ Ja, er wollte diesen Sänger für immer bei sich haben, und er wollte die Schönheit des Niau-Zhuzi allzeit betrachten können. Sein Ziel war es, diesen Vogel zu fangen. Er beabsichtigte, diese Kreatur für immer festzuhalten, er wollte den Bambussänger für sich allein. Dann hätte das Sein in dieser Gegend, dann hätte das Leben auf dieser Erde wieder einen Sinn. Wenn er doch bloß bald zu ihm käme! Wenn nicht, dann würde er sich auf die Suche nach ihm machen, dann würde er durch die Wälder und Steppen und Gegenden streichen, bis er ihn vielleicht fände. Vorbei war es mit dem Wu-Wei, vorbei war es mit dem Segel setzen und vorbei war es mit dem Wirken des Schicksals. Er musste handeln, er musste Hand an das Ruder legen, er musste seine Zukunft bestimmen. Yüo erkannte wohl, wie gefährlich jede Entscheidung war. Er brauchte am Anfang nur um ein Haar die rechte Richtung zu verfehlen und am Ende könnte eine Abirrung von tausend Li daraus werden. Aber keine Entscheidung zu treffen war nach seinem Empfinden noch gefährlicher.

Yüo nahm sich nach dem Abendmahl der Angelegenheit, den Vogelkäfig weiterzubauen, an. Er suchte aus dem Stapel die passenden Bambusstäbe, befeuchtete sie, säuberte sie dann mit dem Rest eines alten Gewandes, achtete dabei auf die Abstände und flocht sie mit dem nassen Hanf zusammen. Dort, wo es notwendig war, verarbeitete Yüo auch die ebenen Hölzer des Waldes, die er einst an dem Tage, als er Chang Tou-fa in seine Liebe zu dem Niau-Zhuzi eingeweiht hatte, aus dem Wald mitgebracht hatte. Er tat dies alles, obwohl es ihm an Sicherheit mangelte, das Gitter jemals gebrauchen zu können.

Es war die Zeit der Kirschblüte, während die Knospen der Pflaumen schon vor drei Wochen aufgesprungen waren. Seit dem Besuch der drei Wanderer aus Tienchou war aber schon eine ganze Zeit vergangen. Für einige Stunden, so schien es dem Bauern, hatte die Sonne jetzt bereits nahezu die Kraft des Sommers. Gewiss lag der Grund dafür auch in dem einsetzenden Südwind. Trotz der anstrengenden Arbeit an den Terrassen und im Steingarten, dem Versorgen des Viehs und dem Zubereiten der Mahlzeiten, mühte sich Yüo in den Abendstunden, den Käfig zu flechten. Als er nach einigen Tagen fertig war, fand das Vogelbauer unter den Bäumen nahe des Ginsterbusches und neben dem alten Holzfass seinen Platz. Der Käfig maß zwei auf einen Schritt und er war damit fast mannshoch. In dem vergangenen Zeitabschnitt, in den Monaten zuvor, hatte Yüo versucht, die Melodie aus Tienchou, so wie sie der Mönch Luanxing gespielt hatte, auf der Flöte zu verbessern. Nun, nachdem der Käfig fertig gestellt war, verbrachte er an einem der folgenden Abende, kurz vor Beginn der Tage des Sommers, die Zeit im Steingarten. Inmitten der Kirschbäume und der Trauerweiden, der Knospen treibenden Rosen und aufschießenden Forsythien, des wohlriechenden Jasmins und der Chrysanthemen spielte er auf seinem Instrument. Die Töne der Dizi waren lieblich, und so mancher gefiederte Geselle ließ sich in der Nähe nieder und versuchte in das Lied mit einzustimmen. Als der Musiker nach einer Weile des Spielens die Flöte absetzte, war ihm, als wenn ihr Echo aus seinem Rücken vom Tale her zu hören war. Dies aber konnte unmöglich sein, denn Widerhall gibt es nur inmitten der Berge oder aus der Richtung des Waldes. War es der Südwind, der die verklungenen Töne zurückbrachte? Erstaunt sah er auf die Dizi in seiner Linken. Yüo wischte sich mit dem Handrücken über die Lippen, um gewiss zu sein, dass nicht er es war, der spielte, und wand seinen Kopf nach hinten.

Sein Herz machte einen Sprung und es war, als wollte das Qi von oben bis unten seinen Körper verlassen, um dann - aus dem Boden schießend - erneut durch Beine, Bauch und Brust bis unter den Schopf zu stoßen. Sein ganzer Körper war wie von tausenden von Nadeln traktiert und in seiner Seele wurde es dunkel und kalt, wenngleich der Körper glühte. Auf einem der mit weißen Blüten übersäten Zweige saß im Schatten des Abends der so lang ersehnte Sänger mit seinem bambusfarbigen Gefieder. Es schien für einen kurzen Moment der Puls des Kosmos auszusetzen und die Welt um Yüo her zu schweigen. Er sah, wie der Vogel den Kopf zur Seite legte und wie er den Schnabel öffnete, hörte aber nun keinen Ton mehr.

Es war aber nicht eigentlich die Betrachtung des Geschöpfes, die ihn erstarren ließ. Wäre nur er es gewesen, er, der ersehnte Niau-Zhuzi, den er ganz in seiner Nähe sah, gewiss wäre bei aller Freude, das Qi doch im Gleichklang geblieben und der Anblick des Vogels hätte sich in die Harmonie des Gartens und seiner Seele eingefügt. Aber unter dem Kirschbaum stand ein Mann, dessen Gesicht er nur allzu gut kannte. Es war sein bester Freund Chang Tou-fa, der ihn zuvor oft hier besucht und der sich in der letzten Zeit mehrfach nach dem Vogel erkundigt hatte. Seine Worte bekamen auf einmal neue Bedeutung. Der Traum vom grünen Hain zog wie ein schneller Schatten an ihm vorbei und er konnte ihn plötzlich in einem neuen Lichte sehen. Ja, er hatte sie beide im Traum gesehen und nun meinte er, diese Erscheinung deuten zu können.

Welch ein Bild bot sich den Göttern und den Hauchseelen! Sehnsucht und Erfüllung, Hoffnung und Wirklichkeit, Traum und Wachsein, Freundschaft und Schmerz, Wahrheit und Ungewissheit, Harmonie und Zerstörung hießen die Werkzeuge, die ihre Pinselstriche hier gezogen hatten. Für den jungen Bauern lag die Vermutung sehr nahe, dass das Erscheinen des Bambusvogels und das seines Freundes zusammengehörten. Konnte das sein? War das möglich? Oder unterlag Yüo einer Täuschung der Gefühle? Denn wenn es sich so verhielte, würde sein Freund sicher nicht ins Hochland gekommen sein, um ihn zu verletzen. Wusste er doch durch die vielen Erzählungen, was der Bambussänger ihm bedeutete. Es musste ein Zufall sein oder eine böse Illusion, eine Wahnvorstellung oder eben doch die Manifestierung seines Traumes vom Hain. Wie es sich auch verhalten mochte, es war nur für einen Wimperschlag lang und für ein kurzes und lautloses Trällern gewesen. Doch ein zeitloser Augenblick war dieser Moment. Das Gehör kehrte zurück, der Puls schlug weiter und der Rhythmus des Kosmos setzte wieder ein. Der Gesang des Vogels drang wieder zu ihm vor.

Die Erstarrtheit löste sich und Mund und Augen Yüos begannen zu lächeln. Das gelbe Volk war schon immer verlogen gewesen und für einen neu Geborenen war es schwer, diese Kerbe im von den Eltern und Voreltern geerbten Qi auszugleichen. Vor allem dann, wenn die Ehre angegriffen wurde, brachen diese alten, tief eingegrabenen Strukturen durch. Lieber täuschen als das Gesicht zu verlieren. Besser heucheln als sich etwas zu verscherzen. Besser blenden als sich durchschauen zu lassen.

Das Gesicht wahren, aber dafür heucheln.

Als Yüo sich vom Stein erhob und auch Chang Tou-fa einen Schritt auf ihn zuging, verstummte der Vogel und flog davon. Doch nicht ganz. Der Niau-Zhuzi ließ sich jenseits des Feuers auf dem Ast eines Pflaumenbaumes nieder und begann, sein Federkleid zu putzen. Die Flöte aber lag jetzt unbeachtet zwischen Grasbüscheln und kleinen Steinen. Yüo aber trat durch das Gartentor und sprach mit verstellter Miene:

„Mein Freund, sei herzlich willkommen. Hast du heute schon eine Mahlzeit zu dir genommen? Du warst lange nicht bei mir und nun kommst du in Begleitung dieses Vogels?“

Yüo deutete mit der Rechten hinüber auf den Pflaumenbaum und konnte dabei seine Erregtheit nicht ganz verbergen.

„Oder war es der Zufall, der euch beide in dieser Weise zu mir brachte? Kamst du von Osten und der Niau-Zhuzi von Westen?“, meinte er bissig, jedoch verbeugten sie sich wie gewohnt voreinander, legten dabei die Rechte an die Stirn und Chang Tou-fa sprach:

„Mein Lieber, danke für deine Begrüßung. Ich bin froh, bei dir zu sein, habe ich doch viel zu erzählen.“

„Das denke ich mir“, meinte Yüo nun mit einem etwas spöttischen Unterton, und der Chang fuhr mit verunsicherter Stimme fort:

„Denn es ist leider nicht von ungefähr, dass der Bambussänger und ich zusammen gekommen sind und es war bedauerlicherweise kein Zufall.“

Das gemeinsame Mahl am Feuer war für den Sohn des Bauern Ku an jenem Abend mehr als eine Qual. Den Reis mit dem aufgelegten geschmorten Gemüse, konnte er nicht genießen. In seinen Beinen, wie auch in seinem Innern war ein Zittern und es lag eine unglaubliche Schwere auf ihm. Seine Lunge glühte und der Magen drückte nach oben. Es war kein bunter Falter, der in ihm flatterte, es war ein Raubtier, das hinaus wollte. In Yüo begann sich ein Vorhang zuzuziehen. Chang bemerkte es wohl. Nach dem Mahle an der Kochstelle begaben sich die beiden zurück in den Steingarten und setzten sich auf einen weißen Stein. Sie tranken kühlen, ungegorenen Traubensaft und schwiegen sich an. Yüo hatte sich das Wiedersehen mit dem Freund gewiss anders vorgestellt. Er wollte Chang von der Begegnung mit dem Mönch und seinen Begleitern berichten und ihn mit seinem Wissen von dem achtfachen Pfad des Prinzen überraschen. Wochenlang hatte er sich darauf gefreut, endlich auch einmal mehr zu wissen, als der Fischer vom Schilfsee. Endlich auch mal einen Schritt weiter sein, als der Andere. Aber darüber würde er heute nicht sprechen. Denn alles dies war nun gar nicht wichtig, aber bisher hatte keiner zur Sprache gebracht, was wirklich und zum Greifen nahe in der Luft lag. Schon bei der Schale Reis hatte der Gastgeber nach dem gemeinsamen Kommen von Freund und Bambusvogel gefragt. Doch Chang bedeutete ihm, dass er nach dem Mahle in aller Ruhe darüber reden werde, da diese Angelegenheit doch von Bedeutung sei. Aber auch nach dem Leeren der Schale und dem Verzehr der Beigaben schwieg der Gast. Bis dann Yüo ihn im Garten aufforderte, endlich zu reden:

„Bitte, lieber Freund, missbrauche meine Gastfreundschaft nicht und schweige deshalb nicht länger.“

Das waren ungewohnte und deutliche Worte, und so begann Tou-fa jetzt zu erzählen, währenddessen Yüo aufgestanden war und ein paar Schritte unruhig auf und ab lief.

„Es war in den letzten Tagen des Winters, als ich Besuch von drei Reisenden bekam. Es waren ein Priester und zwei junge, fremdartige Männer, die an meiner Fischerhütte rasteten. Der Lehrer machte auf mich einen sehr seelenstarken und beherrschten Eindruck. Was mich aber verwirrte war, dass sie ein lebendes Wesen mit sich brachten. Zunächst konnte ich nicht feststellen, was für ein Tier es war. Doch dann erkannte ich, dass es der Bambusvogel war. Sie hatten ihn in ein Tuch eingewickelt, das einer der jungen Männer trug. Es waren noch dunkle Spuren von Blut an dem Stoff zu sehen.“

Yüo hatte eine einhaltende Handbewegung gemacht, blieb stehen und rief erstaunt:

„Ein Priester mit zwei Begleitern? Es waren wohl diejenigen, die auch bei mir zu Gast waren!“

„Ja, sie berichteten mir später von ihrem Aufenthalt bei dir und...“

„...Und es war mein geliebter Niau-Zhuzi den sie bei sich trugen!“, schrie Yüo entsetzt, und seine Stimme überschlug sich dabei.

„Ja doch, ich sagte es bereits. Es war der Bambusvogel.“

Chang Tou-fa versuchte, es mit ruhiger Stimme zu sagen und war bemüht, mit seinen Händen das entstandene Energiefeld zu Boden zu drücken.

„Lasse mich bitte weiter erzählen.“

„Ja“, sagte Yüo immer noch bebend, „erzähle nur weiter.“ Wieder begann er hin und her zu laufen und seine Stimme klang auch jetzt ein wenig höhnisch, doch verletzt noch dazu. Chang Tou-fa bemerkte es wohl und seine Hoffnung, es würde trotz der besonderen Lage eine gute Begegnung mit seinem Freund werden, schwand dahin. Seine Stimme und sein Gemüt senkten sich.

„Die Reisenden berichteten mir, wie sie beim Überqueren des Fasanengebirges auf die Hütte eines groben Einsiedlers gestoßen waren. Dieser Mensch hatte es darauf abgesehen, aus den Flügelknochen von Schwänen, Kranichen und anderer wunderbarer Vögel, Flöten herzustellen und diese an Interessierte zu verkaufen oder selbst sich damit seine Zeit zu vertreiben und die Umwelt zu betören. Die armen Kreaturen aber hielt er in kleinen Höhlen gefangen.“

„Und der Niau-Zhuzi war in einer dieser Stallungen?“,

fuhr es Yüo fragend mit Schaudern heraus. „Sag, war es so?“, schrie er nochmals ohne die Antwort abzuwarten.

„Und wie kam es dazu, dass die Drei den Niau-Zhuzi entdeckt hatten?“

Viele Fragen waren es, die Yüo hatte und er tat nun einige hastige Schritte auf das Gartentor zu und kehrte wieder zurück. Doch sein Freund bat ihn, sich wieder zu setzen und in Ruhe zuzuhören. Allein, er konnte es nicht.

„Ja, dein Vogel war dort bei dem Einsiedler in Gefangenschaft. Aber er war nicht alleine in seinem Schlag. Wie sich hernach herausstellte, hausten mit ihm dort in der Enge noch weitere Vögel und sie hatten sich gegenseitig Verletzungen zugefügt. Nach einem kurzen Gedankenaustausch mit dem Eremiten über den Weg durch das Gebirge wollten die Wanderer auch schon weiterziehen. Da hörten sie im letzten Moment einen kläglichen Gesang, der sie an eine Flötenmelodie aus Tienchou erinnerte. Sie erzählten mir von der Weise, die sie aus fernem Lande mitgebracht und dir vorgespielt hatten.“

An dieser Stelle nickte der Zuhörer wissend, aber auch abwesend. „Bei dem Geti erkundigten sie sich nach dem Geschöpf, dessen Stimme sie gerade gehört hatten. Als sie bemerkten, dass es jener Bambussänger sein musste, von dem du ihnen berichtet hattest, versuchten sie ihn freizukaufen.“

„Und?“

Yüo war ungeduldig und Gelassenheit war ihm fern.

„Jedoch die Verhandlung gestaltete sich als sehr schwierig. Der Einsiedler war hart und wollte seinen Fang nicht hergeben. Der Priester bot ihm Perlen, Ketten von Muscheln, Seide und andere wertvolle Dinge. Doch er verschloss sein Ohr. Stattdessen bot der grobe Mann den Mönchen eine Eule, eine Taube, einen Habicht und einen Adler an. Doch den Niau-Zhuzi wollte er für keinen Preis hergeben. Er sprach von der Anmut und Sinnlichkeit dieses Geschöpfes und dass seine Opferung und eine Flöte aus seinen Knochen der Höhepunkt seiner Erregung wäre. Doch endlich, nach zähen Verhandlungen unter vier Augen, hatten sie einen Tauschpreis für den Bambusvogel vereinbart und die drei Wanderer nahmen die Kreatur mit sich.“

„Wo de peng you“, Yüo blieb wieder für einen Moment vor dem Chang stehen und fügte fragend hinzu,

„ist dir bekannt, was sie für den Vogel gegeben haben und warum brachten sie ihn nicht zu mir, wo sie doch um ihn und mich wussten?“

„Mein Freund, das Erstere kann ich dir nicht sagen. Sie teilten es mir nicht mit und ich getraute mich auch keineswegs, danach Erkundigungen anzustellen. Überhaupt schienen die Drei nicht wohlhabend zu sein und ich habe deshalb auch keine Vorstellung, was der Priester dem Eremiten geboten haben könnte.“

Chang Tou-fa legte eine kurze Pause ein und gab dann Antwort auf die zweite Frage.

„Sie hätten ja umkehren müssen, wollten sie dir den Vogel bringen. Wie dir bekannt, waren sie auf dem Weg zu den Fünf Heiligen Bergen und erst von dort wollten sie zurück nach Golmud, wo sie seit langem erwartet wurden. So marschierten sie weiter und trafen auf mich, nach dem sie sich bei den Menschen erkundigt hatten, ob es jemanden gäbe, der den Yüo vom Hochland kenne. Sei froh darum, denn niemand sonst zwischen hier und dem Schilfsee kennt dich gut und dazu noch deine Sehnsucht.“

„Ja, ich danke den Göttern und Ahnen, dass sie die drei Wanderer zu dem Geti geführt haben. Ich mag mir nicht vorstellen, was sonst mit diesem Vogel geschehen wäre.“

Chang Tou-fa nickte mit dem Kopf. Beide schwiegen für eine Weile, während aber Yüo weiterhin unruhig umherging. Chang zupfte von dem Gras und warf es in den Wind. Er versuchte die Augen seines Freundes zu erhaschen und meinte:

„Wo de peng you, eines muss ich dir sagen: Das Verlangen nach dem Bambussänger zwar mag dein Eigen sein“, sein Arm war nun zu den Bäumen hin ausgestreckt, „aber dein Besitz ist der Vogel nicht. Ich sehe auch den Käfig, dort im Schatten der Bäume neben dem Weinfass, und ich bin gewiss, du bautest ihn für den Niau-Zhuzi.“

Seine Worte klangen nun scharf. Yüo hatte sich endlich gesetzt und sprach, indem er langsam den Kopf hob:

„Mein lieber Chang Tou-fa, ich danke dir, dass du dich um den Bambusvogel bemüht und die Reise mit ihm zu mir getan hast. Sicher musstest du ihn pflegen, denn heute sieht er ganz unversehrt aus. Sagtest du nicht, dass Blut aus seinem Gefieder getreten war?“

„Ja, doch durch Raupen und Mais als Nahrung hat er seine Gesundheit und Schönheit zurück gewonnen. Aber auch vom Lotoswasser, von dem ich ihn trinken ließ, habe ich viel gebraucht. Mit Olivenöl habe ich sein Gefieder gepflegt und seinen Körper mit wärmenden Kräutern belegt.“

Chang unterbrach seine Rede kurz, um dann fortzufahren:

„Der Vogel hat sich an mich gewöhnt und bald flog er mir nach, wohin ich auch ging. Er setzte sich auf den Rand meines Bootes und fuhr mit mir hinaus auf das Wasser. Des Nachts schlief er im Gebüsch meines Gartens und beim Flicken der Netze sang er mir sein Lied und als ich zu dir aufbrach, schloss er sich mir freiwillig an.“

Yüo ging bei diesen Worten ein Stich durch das Herz und verletzt, aber auch spöttisch, dachte er bei sich: „Ob er dir auch gefolgt wäre, wenn du zum Gelben Meer gezogen wärest?,“ Er verneinte die Frage sofort, denn alles andere konnte und mochte er sich nicht vorstellen und er hoffte, der Vogel wäre seinetwegen zurückgekommen. Laut sprach er so:

„Aus deinen Worten, mein Freund, entnehme ich, dass du dich zu dem Vogel hingezogen fühlst und du meinst, auch er sich zu dir. Wenn du doch aber weißt, dass ich die Sehnsucht nach ihm in meinem Herzen trage – warum bliebst du dann nicht mit ihm am Schilfsee und ließest mich lieber im Ungewissen und nähmest mir diese Hoffnung nicht. Denn nun bin ich unruhig, traurig, bekümmert und niedergedrückt und auch böse auf dich, wo de peng you!“

Yan bu jian xin bu fan – Was das Auge nicht sieht, das bekümmert das Herz nicht.

Die Bedrücktheit kehrte zurück.

„Ich weiß um dein Verlangen“, antwortete Chang,

„und doch musste ich diesen Schritt tun. Denn auch in Zukunft wollte ich dir begegnen können, ohne dabei von Gewissensbissen geplagt zu sein oder etwas zu verheimlichen.“

Er hatte aufgehört zu reden, da er sah, wie Yüos Kopf mit dem Kinn auf die Brust zurückgefallen war. Doch nach einer kurzen Weile fuhr er fort:

„Mein Freund, schau mich an, denn siehe, wenn ich wieder von dir gehe, morgen oder einen Tag darauf, dann wird der Niau-Zhuzi mit mir zurückkehren und dann sind wir beide gewiss, wohin er gehört. Sollte er bei dir verbleiben – nun, das halte ich zwar für unmöglich – dann wissen wir, wohin der Vogel nicht gehört. Aber verstehe, auch ich wollte in dieser Angelegenheit ganz gewiss sein, ohne den Bruch zu dir zu vollziehen, du bist doch immer noch mein Freund, wo de peng you!“

„Aber hättest du es mir nicht ein wenig höflicher, oder einfühlsamer mitteilen können. Denn mein Herz – so sage ich es frei heraus – mein Herz ist verletzt.“

„Nun, so denke ich im Nachherein, in dieser Lage hätte ich wohl nur Fehler machen können. Egal, wie ich es dir gesagt hätte. Denn den Vogel mir zu gönnen, scheinst du nicht in der Lage zu sein und seinen Verlust zu bejahen, auch nicht. Ist es nicht so?“

Doch Yüo verstand den Chang nicht. Zwar hatte er sein Haupt wieder erhoben und ihm in die Augen gesehen, doch die seinen waren stumpf und dunkel geworden. Sie schickten sich nun an, ans Feuer zurückzukehren und ließen sich nieder, und beide stocherten mit einem Stock in der Glut. Der Bambusvogel saß nicht mehr dort, wo er sich zuletzt niedergelassen hatte. Er war hinübergeflogen zum Ginsterbusch und sang den beiden sich fremd Gewordenen sein Lied. Am Feuer herrschte Schweigen. Keiner vermochte dem anderen etwas Gutes zu sagen und Bitteres und Trauriges war genug gesprochen. So erhoben sich beide nach einer Weile und gingen nahe zu dem Platz, wo der Vogel saß und sang. Der Niau-Zhuzi verstummte für den Moment, als Chang und Yüo an den Ginsterbusch traten. Dann aber hüpfte er von dem Ast des Strauches auf die Türstange des Käfigs und von dort in die Voliere. Yüo hatte die kleine Türe immer offen stehen gelassen, an jedem der vergangenen Tage frische Hirsekörner hineingelegt und auch die Schale mit Wasser erneuert. Diese Einladung schien der Vogel nun zu seiner heimlichen Schadenfreude anzunehmen.

Chang Tou-fa streckte seine Hand aus, um den Sänger aus dem Käfig zu nehmen.

„Mein Freund“, sprach da Yüo in einem etwas schärferen Ton als sonst:

„Ist der Vogel dein Besitz? Ist er auch nicht der meine, wie du selber sagtest, aus welchem Grunde sollte er dann jetzt ausgerechnet der deine sein?“

„Ohne mich wäre diese kostbare Kreatur nicht mehr am Leben, ich pflegte sie gesund“, wand Chang ein und fuhr fort,

„und aus Dankbarkeit folgt mir der Vogel, er bleibt bei mir auch ohne Käfig, und gehört, wie auch mein Qi, zu mir.“

„Nein, das Leben verdankt er dem Priester und dessen Verhandlungsgeschick sowie dem Kaufpreis, von dessen Wert keiner von uns weiß. Er und seine Begleiter pflegten ihn zuerst. Du hast die Sorge um den Vogel nur fortgesetzt.“

Chang zuckte mit den Schultern, ohne den Redefluss des Gekränkten zu unterbrechen.

„Ich bin sicher, der Priester kaufte den Vogel für mich zurück und vertraute ihn dir nur an. Denn ich hatte ihm und seinen Begleitern mein ganzes Herz geöffnet und Ihnen – wie du unterrichtet bist – von meinem Begehr erzählt. Hatte er dir nicht vielleicht geboten, den Vogel zu mir zu bringen? Hast du ihn vielleicht betrogen?“

Zur Bitterkeit Yüos kam nun auch noch das Misstrauen. Chang hatte die Hand längst vom Käfig zurückgezogen. Beide sahen sich an mit Blicken, wie es bisher bei ihrem Beisammensein nie geschehen war. Noch ließ die hereinbrechende Dunkelheit ihre Gesichter erkennen. Sie hatten in der Vergangenheit oft miteinander gelacht und sich auf der anderen Seite auch nicht der Tränen des Schmerzes oder der Trauer geschämt. Sie hatten geplant und phantasiert, geträumt und sich gegenseitig beraten. Doch nun, mit einem Male, schienen sie wie Fremde, die nur das Gesicht, nicht aber die Seele des anderen kannten.

Zhi ren zhi mian bu zhi xin - du kannst das Gesicht eines Menschen wohl kennen, aber nicht sein Herz.

„Dann sollten wir die Stunden der Nacht entscheiden lassen“, meinte Chang Tou-fa, überlegte noch einen Moment, deutete auf den Käfig und fuhr fort:

„Wir sollten die Türe dazu geöffnet lassen. Sitzt der Niau-Zhuzi bei unserem Erwachen am Morgen noch immer oder wieder dort, soll es so sein; doch ist er ausgeflogen, werde ich mit ihm die Heimreise antreten.“

„Der Vorschlag scheint weise zu sein“, entgegnete Yüo,

„doch trotzdem werde ich die Türe jetzt schließen. Ich meine, das Tier hat sich bereits entschieden, denn warum sonst flog es in das Gitter. Der Niau-Zhuzi kannte den Käfig zuvor nicht. Ich habe ihn erst vor kurzem fertig gestellt. Er war nicht sein Heim. Es war nicht die Gewohnheit, die ihn bewogen hatte, in die Voliere zu hüpfen.“

„Vielleicht ist es die herannahende Nacht“, meinte der Chang.

„Nein, es ist so, wie ich sagte. Sieh es doch so, dass der Himmel den Mönch und seine Begleiter und dass die Götter auch dich als Werkzeug gebrauchten, um den Vogel aus den Fängen des Bösen zu befreien und mein Herz zur Ruhe zu bringen.“

Nun war es die Hand des Anderen, die zum Käfig griff. Yüo ließ die Tür entschlossen zufallen.

Chang Tou-fa war angesichts dieser Worte seines Freundes verblüfft. So kannte er den Sohn des Bauern Ku nicht. Für eine Weile war es Schweigen, in der entschieden werden musste zwischen Einklang und Disharmonie. Das Lächeln gewann für einen Augenblick. Dann sah der Chang dem Yüo fest in die Augen, und er sprach:

„Wenn du deine Trinkschale bis zum Rande füllst,

wird sie überlaufen;

wenn du dein Messer unablässig schärfst,

dann wird es eines Tages stumpf;

jagst du Reichtum und der Sicherheit nach,

wird niemals dein Herz sich öffnen;

sorge dich um die Zustimmung der Leute,

und du wirst ihr Gefangener sein.

Deshalb verrichte dein Werk und tritt zurück.

Das ist der Weg zur Gelassenheit.“

Leicht verbeugte er sich vor seinem Gastgeber und bat, sich in den Steingarten zurückziehen zu dürfen, um späterhin auf einer Matte dort auch die Nacht zu verbringen. Yüo aber gewährte es ihm. Eine Schale Reis oder Suppe wollte der Chang vor der Nachtruhe nicht mehr. Nur ein wenig von dem Anisöl, um damit Stirn und Schläfen befeuchten zu können. Der Abend war lau und auch Yüo zog es vor, sein Nachtlager außerhalb der Hütte, in der Nähe des Ginsters bei dem Käfig aufzuschlagen. Der endende Tag zog seine dunkle Decke fürsorglich über das Land und die Kreatur verstummte nach und nach. Der Südwind kam langsam zur Ruhe und das Flüstern der Blätter verstummte bald ganz. Gegen Morgen aber frischte der Wind dann von Norden auf.

Als Yüo fröstelnd erwachte, spürte er mit seinen Händen die Feuchte des Taus auf dem Yakfell, unter dem er lag. Noch war die Sonne nicht am Horizont erschienen, noch schwieg auch die Vogelwelt bis auf den Kauz mit seinem ‚kwiu’ und ‚guhk’ im nahe gelegenen Wald. Der junge Mann warf einen Blick hinüber zu dem Vogelbauer und erinnerte sich an die Ereignisse des Vortages. Dabei stiegen noch einmal aus Nieren und Herz die Furcht und die Freude, aus Milz und Lunge die Schwermut und der Kummer. Doch die Schmerzen verhallten schnell wie ein Echo, denn die befreiende Wahrheit saß ja dort in dem Käfig. Der Niau-Zhuzi ruhte auf einer der Stangen, wobei er den Kopf in das Gefieder zwischen Brust und Flügel geschmiegt hatte. Langsam erinnerte sich Yüo auch an die letzten Worte des Chang Tou-fa, bevor dieser sich zur Ruhe gelegt hatte. „Ich werde ihn noch schlafen lassen“, murmelte der Bauer und verharrte in einer kurzen Meditation, bevor er hinab zum Bach ging, um sich für den Tag zu erfrischen und zu ermuntern.

Als er die Trassen wieder hinaufstieg, wurde er von dem lieblichen Gesang seines Vogels begrüßt. Er schien sich in dem Käfig sehr wohl zu fühlen. Nachdem Yüo dann seine morgendlichen Atem- und Entspannungsübungen beendet hatte, nahm er ein wenig von dem Reiskuchen und von dem lauen grünen Tee. Anschließend ging er ein paar Schritte, um in den Garten zu gelangen. Er wollte nun Chang wecken. Dessen Reismatte aber war fein säuberlich zusammengerollt. Chang Tou-fa war ohne Abschied gegangen – und seit diesem Tag kam er nie wieder auf das Hochland, führte ihn sein Weg niemals wieder an den Ming Liang, wurde er nicht ein einziges Mal mehr gesehen bei Yüo, dem Sohn des Bauern Ku.

Fluch des Besitzes (21)

Für den jungen Bauern am Rande der Rong-Steppe hatte nun etwas Neues begonnen. Der Verlust der Freundschaft zwischen ihm und Chang Tou-fa wurde vom unermesslichen Gewinn des Bambussängers bei weitem überstrahlt. So jedenfalls empfand und erlebte Yüo es in den ersten Tagen und Wochen. Nur selten, ja mit der Zeit kaum noch, gedachte er der wertvollen Stunden mit dem Mann vom Schilfsee. Mit ihm aber hatte er viel gemeinsam gehabt und sie hatten sich auch ohne viele Worte verstanden. Sie waren, so schien es, aus ein und demselben Stoff. Eine Art von Freundschaft war es gewesen, die durchaus auch nur einmal in einem Leben gefunden werden kann. Jemandem zu vertrauen und mit ihm gemeinsam ein Netz zu weben, dessen Fäden aus mitgeteilten Gedanken bestehen, das war keine Selbstverständlichkeit. Sich an das Ufer des anderen zu setzen, ihm zuzuhören, dort zu verweilen, ohne den Freund nach seinen eigenen Vorstellungen verändern zu wollen, war eine Kunst, die kein Lehrer vermitteln konnte, sondern die das Leben unverhofft und unverdient schenkt. Wer bei einem Vertrauten Zuflucht nehmen kann, der ist wie jemand, dessen Sorgen und Fragen wie Schwärme aufgescheuchter Spatzen verschwinden. Chang Tou-fa war auf jeden Fall ein solcher Mensch, auf den das alles zutraf. Das hatte ihn für den Yüo in seiner selbstbezogenen Art so wertvoll gemacht. Yüo dagegen aber gedachte meist seines eigenen Vorteiles und daran, den anderen nach seinen Vorstellungen zu formen, was ihm aber im Moment des Handelns nicht immer bewusst war.

Chang war auch einer der Wenigen gewesen, die ihn nie wegen seines etwas anderen Aussehens gehänselt oder sich in irgendeiner Weise über ihn lustig gemacht hatten. Denn zwar war Yüo eindeutig ein Mann aus dem Gelben Volk, doch seine Lippen waren dafür eigentlich viel zu voll, seine Nase war dafür viel zu sehr geschwungen, seine Augen lagen viel zu tief und seine Wangenknochen standen zu weit hervor. Das Gesicht ähnelte eher dem Abkömmling eines Mannes aus einem der unbekannten westlichen Länder – das noch weit hinter dem Sonnenuntergang lag. Die beiden Narben auf der rechten Seite seines Gesichtes taten dann noch das Übrige. Durch sein anderes Aussehen war Yüo tief verunsichert. Er machte das Bild über sich selbst sehr abhängig von der Meinung anderer über ihn. Es brauchte nur einer unter vielen zu sein, der ihn als mangelhaft hinstellte. Für ihn war es dann die Wahrheit. Wenn aber drei ihn wissen ließen, wie gut ihm dieses oder jenes gelungen sei, dann konnte er es nicht annehmen. Doch Chang Tou-fa ließ ihn davon nie etwas spüren. Im Gegenteil: Was die einstige Verbindung zu dem Fischer vom Schilfsee anbetrifft, zeigte der junge Bauer, dass ihm etwas Entscheidendes nicht gegeben war. Denn zwar misst sich der Wert eines Kleides daran, ob es neu ist – eine Freundschaft aber wird umso wertvoller, je älter sie ist. Eine solche Brüderlichkeit außerhalb des Blutes war eigentlich wie ein Spiegel, in dem sich der eine in dem anderen erkennt und sie war ein Band, das nie zerreißt – auch wenn die Meinungen und Ansichten über dieses und jenes auseinandergehen. Doch es scheint Dinge im Leben zu geben, die dennoch ein solches Seil zerschneiden können. All die wertvollen Stunden waren jetzt Vergangenheit, schienen vergessen und fast aus der Geschichte des Bauern von Qamdo verbannt. Ein Wesenszug Yüos, der ihm zwar bewusst, aber doch auch recht erschien. Viel zu gern entschwand ihm, auf wessen Schultern er gestanden hatte, um in die Welt hinaus wachsen und bestehen zu können. Hatte der andere ausgedient, war er schnell vergessen! Bis, ja bis eine neue Not im Anzuge oder gar schon unerträglich geworden war. Dann konnte er sehr schnell wieder den Anspruch von Hilfe, die Bitte um Verständnis und die klagende Stimme erheben. Wie sehr konnte er andere durch seinen Rückzug und seine Schroffheit verletzen! Wurde er aber von anderen im Kleinen enttäuscht, dann konnte er innerlich bitter darüber weinen. Yüo hatte dem Freund viel zu verdanken. Sein eigener Selbstwert war durch Changs Anerkennung gewachsen. Nie hätte die Freundschaft zu Bruch gehen dürfen. Nie!

Der Sohn des Bauern Ku war jetzt ganz gefangen von dem Neuen. Das, was einmal gewesen war, hatte in seinen Augen vollkommen an Glanz verloren. Doch war es in der langen Geschichte des Kosmos und im Leben jeder einzelnen Kreatur nicht immer so gewesen, dass etwas sterben musste, damit anderes geboren werden konnte und das Eine ohne das Andere nicht sein konnte? Ja, so war es im Leben, so war es im Laufe der Natur. Hart und unbarmherzig ging es da zu. Aber sollte es nicht gerade unter den sprechenden, schreibenden, dichtenden und aufrecht gehenden Herrschern dieser Welt anders sein? Sollten sie nicht in Liebe und Hilfe für den anderen sorgen? Ja, so sollte es unter den Menschen sein! Anders als in der Natur, die keine Gnade kennt.

Doch für den Yüo schien das nicht gelten zu wollen. Er war – nachdem der andere seine Schuldigkeit getan hatte – hart und unbarmherzig. Für ihn gab es das Grau nicht: Schwarz oder weiß; für ihn gab es lau nicht: Heiß oder kalt; für ihn gab es die Mitte nicht: Ja oder nein.

Yin shui si yuan – wenn du aus dem Fluss dich labst, dann denke an seine Quelle.

Das Frühjahr stieg hinauf zu der beginnenden heißen Jahresmitte. Der Garten am Haus und der Stufenacker waren bestellt. Yüo verbrachte die Tage mit den Dingen des Einerleis, wobei er sich auch immer wieder für Stunden oder gar eine Tagesspanne weit von seiner Bleibe entfernen musste. Es galt, Holz zu schlagen und zu sammeln, damit das Feuer seine Nahrung behielt. Ebenso zog Yüo aus gleichem Grund in das Moor, um Torf zu stechen. Er musste Ried und Lehm besorgen, damit Wände und Dach seiner Hütte und die der Stallungen ausgebessert werden konnten. Er sammelte Jade und Muscheln im Fluss, um dem Händler Mai bei seiner nächsten Aufwartung etwas für das von ihm Gewollte zahlen zu können. Oder der junge Bauer wanderte nach jenseits des Ming Liang, um im Wald der schroffen Felsen nach Moos zu suchen, mit dem die Ritzen der Hüttenwand wunderbar abgedichtet werden konnten. Pilze sammelte er oder die köstlichen Beeren, die an den wilden Sträuchern wuchsen. Bei dem allem aber vertraute er darauf, dass dem Vogel nichts geschehen würde. Denn das Eigentum im Lande Zhong Guo wurde vom gemeinen Mann geachtet. Anders war es bei den Höhergestellten, den Angesehenen, den Wohlhabenden bis hin zu des Kaisers Thron. Was der andere besaß, wurde ihm geneidet. Was man selbst nicht in Händen hielt, wurde dem anderen mit List entlockt oder mit Gewalt entrissen. Die Sitten des Meisters Kong oder die des weisen Laozi wurden, je höher jemand in den Rängen stieg, desto mehr in den Wind geschlagen. Es schien, als betäube die Macht das Gefühl für den Anstand. Aber kaum einer dieser edlen und hohen Herren würde den Weg in diese einsame Gegend wagen.

Freilich, es war schon immer so gewesen in der Geschichte des Menschengeschlechtes! Hatten nicht die Helden der Urzeit mit ihrer Eifersucht, ihrem Neid und ihren Täuschungen, mit Hochmut, Unaufrichtigkeit, Lüge und Mord den Boden dafür bereitet? Yüo war sich nicht sicher, ob der grobe Eremit, von dem Chang berichtet hatte, überhaupt wusste, wo sich der Niau-Zhuzi aufhielt, und wenn schon. Angst, dass womöglich dieser ungehobelte Mann seinen Weg nach hierher finden würde, hatte der Sohn des Bauern Ku nicht. Aber nicht deshalb, weil er furchtlos war. Oh, nein, denn das war er bei den Göttern nicht. Aber er wusste, dass ihn die Ahnen und Götter davor schützen würden. Der Platz um seine Bleibe war ihnen geweiht. Aus diesem Grunde opferte er oft außerhalb der vorgeschriebenen Zeit von dem, was er hatte. Die roten Bänder am Vordach trugen ihren Teil zur Abwehr des Bösen bei. Wie es auch sei, Yüo war sich seines Besitzes sicher.

Die Monate kamen und gingen und auch der Händler Mai blieb nicht aus. Einmal sagte dieser zu Yüo gewandt:

„Ich hoffe, du weißt, was du an diesem Vogel hast. Wie ich bereits einmal bemerkte, ist er von einmaliger Schönheit und ich würde sehr viel hergeben, um ihn zu besitzen.“

Mehr als nur dieses Mal fiel eine solche Bemerkung – auch von denen, die sonst seinen Weg kreuzten. Yüo war immer sehr schnell dabei, zu nicken und lächelnd zu antworten:

„Ja, ich bin mir dessen bewusst und bin sehr froh.“

Doch war dies nur die halbe Wahrheit. In den letzten Wochen nämlich, war eine merkwürdige Veränderung in ihm vorgegangen, die ihm Not bereitete. Er ließ es sich in Gegenwart anderer nicht anmerken. War er aber allein, so waren Grübeln und Unruhe seine Begleiter. Yüo hatte sich an der reichen Natur und den vielen Lebewesen eigentlich immer recht erfreuen können. Auch seinen Gedanken waren in der Vergangenheit frei herumgewandert, hatten hier und dort gefischt, dieses und jenes gefangen und manche schöne Entdeckung gemacht. Doch mehr und mehr fühlte er sich eingeengt und die Freude über das Schöne schwand dahin wie das Wasser eines versiegenden Flusses. Einige Monate nach der Auseinandersetzung mit Langhaar um den Besitz des Bambussängers – im Herbst des Jahres - geschah es, dass sich Yüo vor allem den gefiederten Kreaturen gegenüber nicht mehr frei bewegen konnte. Der junge Bauer verkrampfte sich innerlich und auch äußerlich. Durch ein Bad im Flusse und Übungen des Atems waren die körperlichen Beschwerden zu beheben. Jedoch gegen die Enge der Seele fand er kein Mittel. Die Handschwingen und Flügeldecken der anderen gefiederten Wesen, ihr Bauch und Nacken, ihr Lauf und der Überaugenstreif betörten ihn und der Sohn des Bauern Ku begann, sie mit denen des Niau-Zhuzi zu vergleichen. Mit Erschrecken musste er dabei feststellen, dass jene Vögel aus Wald und Feld ihm ab und zu besser gefielen. Sie waren wilder, schienen ihm verfügbarer und ihre Laute und Melodien fingen an, ihn zu betören. Oft saß er abends bedrückt vor dem Käfig und wusste nicht mit seinen Anwandlungen umzugehen. Seine Lunge brannte ihm und sie war wie eingeschnürt. Innerlich begann er, manches Mal zu weinen und der Zeit der ersten Liebe nachzutrauern. Er wünschte sich oft, der Niau-Zhuzi wäre der einzige Vogel in Zhong Guo. Denn dann könnte er sich so recht an ihm erfreuen und bräuchte ihn nicht mit anderen zu vergleichen. Der Sohn des Bauern Ku begann, dieses und jenes bei dem Bambusvogel zu bemängeln und ihm deuchten die anderen Vögel makelloser. Der Niau-Zhuzi sollte für ihn der schönste unter den Vögeln sein, aber er war es nicht. Aber sich dieses einzugestehen, traute Yüo sich nicht. So geriet er mehr und mehr in die Falle von Lüge und Zwang. Die Wahrheit aber zuzulassen, hätte ihm die Freiheit gebracht. Das wusste er wohl, doch lieber wäre er gestorben, als diesen Schritt zu tun. Es kam soweit, dass sich Yüo kaum noch zu dem kleinen Fluss hinab begeben wollte. Wenn dort auf einem der niedrig über den Wellen hängenden Äste der Eisvogel saß und auf Beute wartete, dann mochte er kaum dort hinsehen. Was ihm zuvor natürlich erschien, war ihm nun wie eine Versuchung. Die smaragdgrüne Kehle und der weiße Fleck am Hals, die rostbraunen Wangen und Unterseite, der dunkle Schnabel und vor allem auch die korallenroten Füße ließen ihn an der Schönheit seines Niau-Zhuzi zweifeln. Das kurze Trillern seiner Stimme und das durchdringende ‚tiht’ schienen ihm verlockender als der himmlische Gesang des Bambussängers.

Dann redete Yüo leise vor sich hin und beteuerte sich und den unsichtbaren Begleitern, den Hauchseelen und Geistern der jenseitigen Welt, dass der gelbe Vogel dort in dem Käfig neben seiner Hütte der schönste sei und niemand es mit ihm aufnehmen konnte. Allein – es war gelogen. Einmal sogar warf er einen flachen Kieselstein nach dem Eisvogel, damit dieser wegflöge und Yüos Ruhe zurückkehren konnte. Hätte er sich doch sagen können, dass auch jene Kreaturen von der Allmacht liebreizend geschaffen seien, dass sie schön anzusehen waren, aber der Niau-Zhuzi der Vogel seines Herzens war! Er konnte es nicht.

„Oh, ihr Götter, ich danke euch, dass es den Niau-Zhuzi gibt!“, sprach er oft laut vor sich her. Beim Hacken des Holzes, beim Kochen der Suppe, beim Waschen im Fluss, beim Beschneiden der Rebstöcke und natürlich beim Opfern sprach er so. Doch es war mehr die Abwehrhaltung gegen die Dämonen, die begannen, sich in ihm zu regen. Es war nicht die Überzeugung echter und tiefer Freude. Diese Worte formten sich nicht zu einem inbrünstigen Gebet, sondern es waren stumpfe Pfeile, geschossen auf Feinde, deren Panzer undurchdringlich und die deshalb so nicht zu vernichten waren. Je mehr Yüo kämpfte, desto stärker wurden die Teufel in ihm. Er wanderte des Öfteren zum grünen Hain und hatte die Hoffnung, dass er dort wie einst träumen würde und die Bedeutung der Erscheinung diesmal nicht so lange auf sich warten ließ. Aber nichts dergleichen ereignete sich. Weder die Stille und Ruhe, noch die Harmonie dieser Oase konnten Eingang in seine Seele finden. Er nahm auch Kräuter und Pülverchen zu sich, solche, die zur Auflösung der inneren Verhärtung dienen sollten, aber sie halfen nicht und auch der einst beste Freund kam nicht mehr und würde für ihn gewiss auch kein Verständnis haben – im Gegenteil.

Es fehlte der Mensch, dem er sich hier anvertrauen konnte. Schade eigentlich, dass das, was einem lieb ist, oft durch eine andere Liebe zerstört wird. Yüo spürte den Schmerz in seiner Seele und dachte, der Händler Mai könne ihn vielleicht, wenn er käme, gar verachten, weil er gespürt hätte, was in ihm vorging, ohne von Yüo die Wahrheit zu hören, ebenso alle anderen. Sie würden ihn kaum verstehen können, da er ihnen nie so nahe gewesen war. Bei seinen Gedanken, wem er vertrauen könnte, kamen die Erinnerungen an den Priester Luanxing, der mit seinen jungen Begleitern, Jiao und Guang, auf der Durchreise zu den fünf Heiligen Bergen bei ihm zu Gast gewesen war. Er musste an die Worte des Wandermönches denken, sah vor seinem inneren Auge, wie dieser die Flöte spielte und sah vor sich die Übergabe des Pergaments mit den Worten des achtfachen Pfades aus Tienchou. Yüos Wunsch, noch mehr von dem Prinzen und seiner Lehre zu erfahren, ja, die Lehre zu leben, wurde stärker. Eine Reise nach Golmud schien dem Sohn des Bauern Ku deshalb immer wahrscheinlicher. Doch es würde ein Unterfangen mit weitreichenden Vorbereitungen und Veränderungen werden. Mit dem Luanxing einen Austausch zu haben, nicht so im stillen Zwiegespräch, wie er es sich angewöhnt hatte, sondern von Angesicht zu Angesicht, würde ihm gewiss eine große Hilfe sein. Vielleicht aber sollte er es nicht bei einer Unterredung mit dem Mönch belassen, sondern für eine längere Zeit in dem Kloster von Golmud verweilen. Der Wunsch nach einer grundlegenden Veränderung in seinem Leben war groß. Was sollte er nur tun?

Späte Erkenntnis (22)

In dieser Zeit kam dann der Händler Mai in die Provinz Qinghai und stattete auch dem Yüo den notwendigen Besuch ab. Sie begegneten sich unten am Ming Liang. Die Zeit des Sommers war nun vorbei und in diesem abgelegenen Landstrich war es gut, sich für die herannahende beständige Neige der Sonne ausreichend zu rüsten. „Ich hoffe, es geht deinem Qi gut und deine Seele hat Frieden“, sprach der Reisende, als sie den geschlungenen Pfad hinauf zur Hütte gingen. Mai schaute den Mann vom Fluss lächelnd an. Mit den Worten ‚hast du heute schon eine Mahlzeit zu dir genommen’ hatte Yüo den Händler bereits beim ersten Verbeugen begrüßt und es auch ernst gemeint. Nun konnte er diese Worte nicht noch einmal benutzen, hätte es aber gerne getan, um einer Antwort auf die Befindlichkeit seiner Seele und des Qi zu entgehen. Aber nichts zu sagen und zu schweigen auf das Wort eines anderen hin, ist von schwerwiegenderer Bedeutung, als irgendetwas daher zu sagen und zudem ist es auch unhöflich.

„Du wirst sehen, dass ich allen Grund habe, zufrieden zu sein“, meinte Yüo und deutete mit seinem Arm hinauf zu seiner Heimstätte.

„So?“

„Ja, es ist bei mir alles geordnet.“

„Und doch scheint dich etwas zu bedrücken.“

„Eigentlich nicht.“

„Doch. Irgendetwas ist.“

„Nein.“

Der Händler blieb auf halber Höhe der Terrassen stehen.

„Ich spüre es aber.“

„Nein.“

„Bist du krank?“

„Nein.“

„Sorgst du dich um deine Zukunft?“

„Nein.“

„Ist es der Bambusvogel?“

„Mmmh“

„Es ist der Niau-Zhuzi!“

Da Yüo nun schwieg, sprach Mai weiter.

„Es ist also der Vogel, nicht wahr?“

Sein Begleiter nickte nun kaum merklich und sein verlegendes Lächeln schwand.

„Musst du denn immer alles merken und vor allem, musst du es auch immer gleich aussprechen?“

„Du warst hartnäckig, erst mein Nachfragen brachte dich zu der richtigen Antwort.“

„Was ist richtig?“

„Nun, die Wahrheit.“

„Was ist Wahrheit?“

„Das Richtige.“

Es entstand eine kleine Pause, an deren Ende beide lachen mussten. Der eine herzlich, der andere etwas gequält. Sprach nun doch im ernsten Ton Mai:

„Verzeih, mein Freund, auch wenn ich dir nicht so nah stehe, wie es vielleicht andere tun, so liegt mir doch an dir und deinem Wohlbefinden.“

„Schon gut, wo de peng you, schon gut. So viele Menschen, die mir nahe stehen gibt es nicht und es scheint, ich werde nie lernen, etwas wirklich zu verheimlichen.“

Sie begannen, sich weiter den Pfad hinauf zu mühen und Mai sagte:

„Nun, das ist nicht gerade verkehrt. Heuchler gibt es doch genug auf dieser Erde und es gibt nicht so viele, deren Fenster zur Seele offen ist.“

„Xiexie, wo de peng you.”

“Ich vermute, du hast den Bambusvogel zwar äußerlich ganz bei dir und bist doch nicht vollkommen glücklich.“

„Ja, und ich schäme mich vor dir. Denn einst hatte ich dich wissen lassen, wie sehr mein Herz an dem Bambussänger hängt und gegen nichts in dieser Welt hätte ich ihn eingetauscht. Doch in meinem Herzen wird der Platz für ihn immer enger.“

Sie saßen beim Cha und einer Tasse Hühnersuppe. Der Käfig mit dem Niau-Zhuzi war in ihrer Sichtweite und der Vogel sang sein Lied.

„Eigentlich ist es einfach schön, ihm zuzuhören und es ist köstlich, ihm zuzusehen“, sagte Yüo, wohl um sich selbst Mut zu zusprechen.

„Ja, aber du sagtest vorhin, dass du den Vogel nie gegen einen anderen eingetauscht hättest. Das klingt, als denkest du jetzt anders darüber. Ich jedenfalls wäre überfroh, wenn der Vogel mein Eigen sein könnte.“

„Nein, natürlich denke ich nicht anders darüber. Nie würde ich den Bambussänger freiwillig hergeben, sonst hätte ich auch nicht so gesprochen wie gerade eben.“

Mai schaute dem Yüo fest in das Gesicht und nun sprach dieser von seinen Nöten. Wenn er auch nicht alles sagte, dem Händler reichte es, um zu verstehen. So sagte abschließend zu seinem Bekenntnis Yüo:

„Es ist wie ein starker Widerspruch in mir. Denn einerseits liebe ich diesen herrlichen Vogel über alles und andererseits habe ich auch Gedanken der Ablehnung.“

Da sah ihm Mai tief und lange in die Augen und redete so:

„Als wir eben vom Flusse hierher hinaufstiegen, mussten wir uns auf den letzten Schritten vor Erreichen der Anhöhe einmal an einem Teestrauch festhalten, um nicht abzugleiten.“

Yüo konnte sich gut erinnern und er nickte. Der Mai aber fuhr fort, so zu sprechen:

„Wenn du eine Klippe erklimmst, brauchst du hin und wieder Büsche, um dich daran festzuhalten. Wenn du den Herausforderungen des Lebens gegenüberstehst, brauchst du manchmal Hilfe.“

Yüo erhob sich von seinem Platz und sprach:

„Ich weiß, dass ich Hilfe benötige und ich bin froh, dass du mich deswegen nicht verachtest, auch meiner Unehrlichkeit wegen nicht.“ Yüo entschuldigte sich und ging in die Hütte. Kurze Zeit später trat er zurück an das Feuer. In seinen Händen hielt er eine Rolle Pergament und das Bündel der Schafgarbenstängel. Mai wusste, was Yüo mitgebracht hatte.

„Du willst das I Ging befragen?“

„Das Orakel kann mir gewiss meine Frage nach dem nächsten Schritt, den ich zu tun habe, beantworten. Noch nie habe ich es befragt. Ich hoffe, du wirst noch etwas länger als vorgesehen bleiben, um mir zu helfen, die Regeln zu befolgen.“

Mai schaute ein wenig verlegen zu Boden und malte mit einem herumliegenden Stock in den Boden.

„Nun, ich bin dein Gast und kann dir eine solche Bitte nicht abschlagen, obwohl ich es – verzeih mir meine Aufrichtigkeit - gerne täte. Denn siehe, ich bin ein Händler und lebe vom Kauf und Verkauf...“

„... Du hast mich nach meinem Seelenzustand befragt und mich darauf hingewiesen, dass ich Hilfe benötige“, fiel ihm Yüo ins Wort

„dann wäre es doch auch recht und billig mir jetzt zu helfen.“

„Ja, natürlich, du hast Recht. Aber meinst du nicht, wir sollten heute zunächst unsere geschäftlichen Dinge beschließen? Morgen – nach einem erholsamen Schlaf – mag ich dann festlegen zu bleiben oder nicht. Ich weiß sehr wohl, wie wichtig dir dieser Augenblick ist, doch könnte ich mit meiner fehlenden Konzentration manches ins Ungleichgewicht bringen. Deshalb lass uns nun handeln.“

Yüo war nur zu klar, dass dies eine Ausrede war. Mai hatte gerade seine Fähigkeit als Erkenner bewiesen. Er war nicht nur ein Kaufmann. Ein Blick in die Augen des Yüo hatte ihn bis in dessen Seele schauen lassen. Wenn er auch nicht gleich die ganze Wahrheit gewusst hatte, so hatte er doch bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Yüo sagte aber nun nichts weiter, denn er wollte dem Händler nicht das Gesicht nehmen und es gab noch etwas anderes, das dem Yüo bisher nicht deutlich gewesen war. Auch wenn der schönste aller Vögel für ihn an Schönheit verloren hatte, für andere wurde er scheinbar umso begehrenswerter. In solchen Momenten wie diesem wurde dem Sohn des Bauern Ku bewusst, dass eine Freundschaft, wie sie mit Chang Tou-fa bestanden hatte, nicht einfach zu ersetzen ist. Mai war vor allem der Güteraustausch wichtig und er würde nur aus Höflichkeit bleiben, nicht aber, um des Wohles seiner Seele willen. Gerade hatte er ihm sein Herz gezeigt, sich ihm offenbart, ihm geheimste Dinge anvertraut. Jetzt, in diesem Moment, lag sein Inneres offen und war für das Spirituelle, für das Transzendente zugänglich. Wenn nun Mai seine Hand wegziehen würde, dann war er noch verlorener, noch einsamer, noch verlassener als zu dem Zeitpunkt, wo der Reisende seine Parzelle noch gar nicht betreten hatte. Es war nicht gut, an einer Wunde zu rühren und dann bei ihrer Behandlung nicht mitwirken zu wollen. Yüo war deshalb innerlich unzufrieden mit Mai und er nahm sich vor, in ähnlichen Fällen nicht noch einmal so offen zu sein. Nicht zum ersten und sicher auch nicht zum letzten Male bedauerte er schmerzlich den Riss zwischen ihm und dem Mann vom Schilfsee. Jetzt, wo er in Not war, wo er treue, tiefe Hilfe, einen Ratschlag, Ermutigung und Trost gebraucht hätte, fehlte ihm Chang. Jetzt, wo er nach einem Halm griff, war dieser nicht da. Jetzt, wo er hätte. aufgefangen werden sollen, fehlte das sichere Netz. Es war ihm wie ein reißender Fluss, dessen anderes Ufer ohne die Brücke nicht zu erreichen war. Yüo beschloss, nun zunächst die für die nassen und kalten Monate wichtigen Dinge zu erstehen, mit dem Kaufmann zu feilschen und von ihm Neuigkeiten zu erfragen. Dann aber hatte er vor, ihn zu bitten, sich nicht länger aufhalten zu lassen.

Antwort des Herzens (23)

Der Beginn des nächsten Tages war durch eine kühle Brise vom Waldrand her und einen wolkenlosen Himmel bestimmt. Der Kaufmann war noch am frühen Abend zuvor weitergezogen, so wie Yüo es sich gewünscht hatte. Er brauchte Mai dazu auch nicht lange aufzufordern. Dieser konnte noch einige Stunden wandern, bevor die Nacht sich über die Provinz legte. Der Sohn des Bauern Ku jedoch hatte sich schon beim abendlichen Lagerfeuer eingehend mit einer der Buchrollen beschäftigt und sich kundig gemacht, wie das Orakel zu befragen war. Doch bevor Yüo dieses Ritual nun selbst vollziehen wollte, erledigte er seine Morgengeschäfte und säuberte den Käfig seines Bambussängers. Dieser hatte, wie immer zu Beginn des Tages und während Yüos Morgentätigkeit im Ginsterbusch sitzend, fröhlich sein Lied gesungen, im Glauben, dass auch sein Herr glücklich war und die Melodie in seiner Seele Widerhall fand.

An diesem Morgen wollte der Fragende keine Mahlzeit zu sich nehmen, sondern ergab sich stattdessen Übungen der Entspannung. Lediglich zwei Schalen des grünen Tees, heute versehen mit einer Prise Salz, hatte er geschlürft und ging dann in den Steingarten. Hier suchte sich Yüo an der Mauer mit den weißen Steinen einen passenden Ort und breitete vor sich die Buchrollen, die Stängel der Schafgarbe, Weihrauch, Riechhölzer, Pinsel, Ziegel, Tuscheblock, einen Becher mit Wasser und ein unbeschriebenes Pergament aus. Zweimal musste Yüo zur Hütte laufen, um all diese Dinge bereitzustellen. Das Wasser aber nahm er aus dem Rinnsaal. Dann endlich ließ er sich im Lotossitz nieder, verharrte kurz im Gedächtnis an die Ahnen und entzündete die beiden Hölzer, die er links und rechts vor sich in den Grasboden gesteckt hatte. Etwas Glut vom Herdfeuer hatte er schon zuvor in die Weihrauchschale gelegt. Auch wenn ihn es schmerzte, so war Yüo doch froh über die Ehrlichkeit des Händlers Mai, denn seine Achtsamkeit auf das nun Kommende konnte nach durchschlafener Nacht und ohne Begleitung nicht besser sein als jetzt. Versunken in Gedanken nahm Yüo den Becher, goss von dem Wasser auf den Schieferstein, nahm den Tuscheblock und rieb ein wenig von der Tinte an. Sein Atem aber ging ruhig und Yüo war entschlossen, der Stimme in sich genau zuzuhören. So schloss er seine Augen, legte die Hände in den Schoß und sprach halblaut vor sich hin:

„Mein Herz, sage mir, welche Frage soll ich dem Orakel stellen?“

Er ließ eine Stille folgen, um die Antwort seines Herzens zu empfangen. Doch kam es anders als von dem Yüo beabsichtigt. Denn mit einem Male sah dieser die stattliche Erscheinung des Luanxing vor sich, aber nicht nur das, er hörte ihn auch reden und diese Worte sagen, die mehr ein Rat als eine Frage waren:

„Wo de peng you – hast du nicht selbst schon dich gefragt, ob du uns nachfolgen solltest!“

Yüo errötete, als wäre der Mönch leibhaftig mit ihm im Garten. Er riss die Augen auf, aber nur, um sie gleich wieder zu schließen. Denn auf keinen Fall wollte er das Schemen vertreiben. Einen Moment dachte er in sich hinein, erinnerte sich seiner Überlegungen, die er einige Tage zuvor gehabt hatte, und murmelte dann:

„Natürlich, du hast Recht.“

Der Luanxing in seiner Erscheinung antwortete so:

„Warum dann, fragst du noch das heilige Orakel, wenn du schon weißt, was zu tun ist?“

„Weil ich mir über die Antwort nicht sicher bin.“

„Oh doch. Wenn du ehrlich und wahrhaftig bist, dann weißt du die Antwort.“

„Ich will aber trotzdem das Orakel befragen.“

„Du solltest es aber nicht missbrauchen. Warum hörst du nicht auf dein Herz! Frage deshalb noch einmal dein Herz und lasse das Orakel sein.“

„Kann ich mich denn auf mein Herz verlassen?“

Die Antwort des Mönchen war überraschend:

„Wenn du einen Schritt tust, dann tragen dich die Götter zwei.“

Das war gut gesprochen und Yüo wollte sich bei der Erscheinung bedanken, aber seine Frage noch einmal wiederholen. Doch gerade wollte er seine Worte mitteilen, als das Schemen schon verschwunden war. Ja, Luanxing hatte recht. Er, der Yüo, sollte seine Fragen nicht dem Orakel stellen, sondern dem eigenen Herz. So schien es richtiger. So schien es ehrlicher, so schien es erfolgversprechender. Was nun wollte aber sein Herz? War die Antwort schon gegeben? Konnte er sich auf sein Herz denn verlassen? Yüo schaute auf zum Himmel und wartete einen Moment ab. Die Antworten aber ließen auf sich warten. Yüo beschloss daher, nur eine Frage an sein Herz zu stellen und es schien ihm nun auch gut, dass der Geist des Tempelpriesters nicht mehr anwesend war. So nämlich war er dazu genötigt, die Frage an sein Inneres zu richten und sich nicht auf andere zu verlassen. Während Yüo so in der Stille verharrte, hoffte er, dass er dabei die für ihn richtige und passende Antwort finden würde. Er griff zu dem Pinsel, tauchte ihn in die Tusche und schrieb auf den Bogen Pergament diese Worte:

Wo de xin shen ni yao shenme? – Was, mein Herz, willst du?

Danach tat Yüo den Pinsel in den Becher mit Wasser, schloss wiederum die Augen, streckte seine Arme von sich und öffnete die Hände. Er wollte ganz empfänglich sein wie ein leeres Gefäß, das bereit war, sich mit kostbarem Öl füllen zu lassen; er wollte offen sein, wie die Nabe eines Rades, um das sich die Speichen drehen konnten. So harrte er aus, verweilte für einige Augenblicke und hoffte inständig, dass er sich auf sein Herz verlassen konnte. Er wollte die Antwort abwarten und dann entscheiden, ob sie für ihn passend war oder auch nicht. Während Yüo so saß und in sich hinein horchte, kamen ihm diese Worte in den Sinn:

Qian li zhi xing, shi yu zu Xia. Che dao shan qian bi you lu – auch eine Reise von tausend Li beginnt mit dem ersten Schritt. Der Wagen findet schon seinen Weg über den Berg, wenn er erst einmal dort ist.

Die Gedanken waren angenehm, die Stille war wohltuend, das Empfangen berührte die Seele. Von daher meinte der Suchende, dass ihn sein Herz nicht betrog. Er nahm also den Pinsel erneut und schrieb diese empfangenen Worte unter seine zuvor gestellte Frage. Dann säuberte er das Schreibwerkzeug, legte es beiseite, schloss die Augen, verharrte und ließ seinen weiteren Empfindungen ihren Lauf. Yüo dachte daran, was wohl sei, wenn er zum Kloster nach Golmud wanderte und bei seiner Ankunft der Wandermönch und seine Begleiter schon weitergezogen wären. Und wenn schon! Die Lehre des Prinzen hatte ja sicher bis dahin Einzug in das Kloster gehalten und er würde durch die Mönche so manches erfahren können. Trotzdem, er würde sich sehr freuen, die drei Fremden noch einmal zu sehen. Dann kamen ihm weitere Zweifel. Was, wenn die Lehre des Prinzen ihn verführte und sich am Ende als falsch erwies? Was dann? Aber zuhören und ‚nein’ sagen konnte er immer noch. Doch hatte er nicht jetzt eigentlich Frieden in seinen Gedanken? War nicht sein Geist von der Lehre des Prinzen, wie er sie bisher vernommen hatte, ergriffen! Im Steingarten zwitscherten die Vögel, flüsterten die Bäume im Frühwind und gurgelte das Bächlein mit dem klaren und kalten Wasser. Das Gemecker der Ziegen auf der angrenzenden Wiese und das Scharren der Hühner im Kies gehörten ebenso dazu. Der Bambusvogel aber saß jenseits der Gartenmauer im Ginster und sang zu alldem sein fröhliches Lied.

Für kurze Zeit waren Yüos Gedanken in die Vergangenheit abgeschweift. Doch dann war er wieder im Hier und Jetzt und dachte über das Zukünftige nach. Als er so sann, wurde in ihm der Wunsch übergroß, diesen Ort zu verlassen, um in das Kloster nach Golmud zu wandern. Ja, in ihm war mit einem Male die Entschlossenheit gewachsen, diesen ersten Schritt in eine neue Zukunft zu tun. Und mehr noch – er wollte nicht nur für eine gewisse Zeit nach Golmud und dem Kloster reisen, um dann wieder nach hier zurückzukehren. Es ging mit einem Male um viel mehr. Es ging darum, die Hütte mit ihrer Geborgenheit am Rande der Rong-Steppe für immer zu verlassen. Die Terrassen, den Garten, die Hühner und die Ziegen, das Maultier – wer würde sie in Zukunft versorgen? Konnte er sich in einer Gemeinschaft von Vielen auf Dauer wohlfühlen und sich ordnend einfinden? Sollte er noch vor Anbruch des Winters den langen Weg auf sich nehmen, oder bis in das nächste Frühjahr warten? Vor welchen Gefahren musste er sich wappnen? Alles aber würde sich ergeben. Er musste nur dieses erste Tun auch wagen und würde dann den vor ihm sich befindlichen Berg gar nicht mehr als so hoch empfinden. Ja, er war sich nun sicher, dass sein Herz und die Erscheinung Luanxings ihm hier die richtigen Antworten gegeben hatten und er das Orakel nicht mehr befragen musste. Noch einen Augenblick verharrte Yüo in der Stille. Sein Herz war dankbar und so wusste er sich von dem richtigen Entschluss getragen. Dann beendete er seine Ruhezeit im Garten mit einem kurzen ‚shide shi’ und räumte die hergebrachten Sachen wieder an ihren Platz. Als alles erledigt war, ging Yüo von der Hütte hin zu dem Feuer und tat sich bald an geschmorten Pilzen und einer Schale guter Hühnersuppe gütlich. Der Morgenwind trieb eine Handvoll Blätter über die Wiese.

Bu shang gao shan, bu xian ping di. - Wer nicht auf den Berg steigt, kann die Ebene nicht bewundern.

Mönche (24)

Durch drei dumpfe Schläge wurde der Wächter unsanft aus seinem Halbschlaf und den wirren Träumen gerissen. An die Mauer gelehnt, saß er mit angewinkelten Beinen auf dem Steinboden. Zunächst phantasierte der Mönch, der Trommler hätte zur Arbeit gerufen. Doch als er die Augen ganz geöffnet hatte, wusste er, es konnte erst die Stunde des Tigers sein. Ein noch tiefgrauer, mit Nieselregen durchsetzter Tag hatte gerade erst begonnen. Es war klamm und ungemütlich. Auf dem Grund des Vorhofes klebten verstreut einige braune Blätter des Spätherbstes. Waren die Laute nur Teil seines Traumes gewesen? Waren es die Ahnen, die ihm geboten hatten, seinen Wächterdienst treuer zu verrichten? Mit der Linken an die Wand gestützt, erhob sich der Hüter des Klosters vom kühlen Lager, klopfte sich die Nässe vom ledernen Überwurf, schaute nun zu allen Seiten und griff nach der neben ihm stehenden Lampe. Während er so zu sich kam, spähte und nachdachte, wiederholten sich die Schläge. Tatsächlich. Es war keine Einbildung gewesen. Das Klopfen kam vom Tor. Der Mönch tat einige Schritte vorwärts und rief:

„Shui nali ? - Wer da und das zu dieser frühen Stunde?“

Er hatte es nicht nur laut, sondern auch etwas gereizt gerufen.

„Ein Pilger, ein müder und erschöpfter Pilger“, kam es etwas heiser, eingeschüchtert und gedämpft von der anderen Seite. Der Wächter schlurfte in Richtung des Tores, legte den Riegel zur Seite und zog einen der schweren Holzflügel zurück. Die mächtige Tür des Klosters ächzte, als sie sich nach innen öffnete. Vor ihm, im Schein des Lampions, sah der Mönch einen Wanderer, dessen Erscheinung ihn erstaunen ließ. Seine halblangen nassen und schwarzen Haare hingen ihm in Strähnen über Augen und Wangen. Zu beiden Seiten seiner Hüften trug er je einen Beutel, von denen das Wasser tropfte. Das Gewand und die Taschen waren wohl aus gegerbten Ziegenhäuten. Er war nicht unbedingt von großer Gestalt. Doch was den Öffnenden den Schlaf vollkommen vergessen ließ, war der Vogelkäfig, der breiter war als die Schultern, die ihn trugen, und dessen Spitze über den Kopf des Mannes emporragte. Trotz des darüber geworfenen Tuches war gleich zu erkennen, dass es sich um eine Voliere handelte. Deshalb machte der Hüter eine abwehrende Handbewegung.

„Oh nein, einem Vogelfänger werde ich keinen Einlass in diese heiligen Mauern gewähren.“

Dem Ankömmling schien es die Sprache zu verschlagen und er schaute verdutzt durch den Vorhang seiner Haare, als überlegte er, wieso jemand auf solch eine Idee käme. Dann schien es ihm klarzuwerden. Der Mann fasste sich an die Stirne und sprach:

„Ach so, du meinst weil ... Nein, auf keinen Fall ist es so, edler Herr. Das Gegenteil ist es. Doch bitte lasst mich durch dieses Tor zu euch eintreten. Die Reise war lang und beschwerlich und fast meinte ich, mein Ziel nicht erreichen zu können.“

Während er diese Worte nun sprach, hatte der Fremdling Arme und Hände über die Brust gekreuzt und sein Haupt leicht geneigt.

„Nun, ich schätze deine Hochachtung und Höflichkeit mir gegenüber“,

entgegnete ihm der Wächter,

„allein, der edle Herr bin ich nicht, wie du weißt. Es ist wohl meine Aufgabe, über den edlen Herrn zu wachen und nur dem Einlass zu gewähren, der in guten Absichten kommt oder aber sich in Not befindet.“

„Verzeiht meine übertriebene Höflichkeit, aber mich bewegte dabei die Angst, abgewiesen zu werden, weil ihr meintet, ich wäre vielleicht ein Mensch mit dunkler Seele.“

Sehr wohl erkannte der Kanshouren in diesem Augenblick, dass dem nicht so sei.

„Schon gut, schon gut, wo de peng you. Ich sehe ja, dass du in Not bist und keinesfalls wirst du abgewiesen, sicher wirst du mir gleich erzählen, dass du einen Vogel bei dir hast, der dir freiwillig zugeflogen ist.“

„Ja genau, das ist die Wahrheit. Woher..?“

„Jinlai – nun komm schon herein“, unterbrach ihn der Mönch. Lachen, Wohlwollen und ein wenig Ungeduld lag in seiner Stimme. Mit seiner Rechten griff er den Arm des Wanderers und zog ihn über die Schwelle.

„Mein Name ist Shou,“ sprach der Diener, als er dem Neuankömmling behilflich war, den Käfig vom Rücken abzunehmen und die Schlingen der Beutel über den Kopf zu ziehen.

„Gewiss nahmst du heute noch keine Mahlzeit zu dir?“

Nun waren diese Worte zu dieser Tageszeit zwar ungewöhnlich, aber doch höflich und vor allem für den ausgehungerten und ausgemergelten Bauern verlockend. Dem Wanderer zog sich der Magen zusammen. Bei dem Gedanken an eine heiße, hühnersalzige Suppe, geschmorte würzige Pilze, gedünstete saftige Auberginen und einer reichlichen Portion von knusprigen Nudeln hätte er fast seine Beherrschung verloren. Im Schein des Feuers konnte der Diener nun auch das Vogelbauer genauer betrachten. Er schaute fragend auf.

„Ich bin Yüo“,

krächzte der Erschöpfte.

„Ich bin der Sohn des Bauern Ku von Qamdo. Doch die vergangenen Jahre wohnte ich auf dem Hochland, nahe der Rong-Steppe - und von dort komme ich jetzt zu euch.“

„Und wer ist dies?“,

fragte der Mönch nun doch und deutete auf den Käfig. Der Ankömmling aber zog die Decke von der Voliere und sprach:

„Es ist der Bambusvogel, der mir eines Tages zugeflogen ist.“

Shou streckte seine Lampe dem Käfig entgegen und konnte nun im Schein des flackernden Lichtes das gefiederte Tier erkennen.

„Er ist wunderschön!“

rief er aus, um sich gleich selbst die Hand auf den Mund zu legen.

„Ja, er ist wunderschön und du solltest ihn erst singen hören, doch lasse mich...“

„Ja, ich weiß“,

las ihm der Wächter den Wunsch von den Lippen,

„du bist müde und hungrig. Komm!“

Dem Besucher aber wurde eine leichte, warme Lauchsuppe und ein Krug kühlen Wassers gereicht. Anschließend führte Shou ihn zu einer schlichten Kammer und Yüo fiel sofort auf die Reismatte und in einen tiefen, traumlosen Schlaf. Der Vogelkäfig aber stand neben ihm.

Der überraschende Gast des Klosters wurde von den Glocken, die zum Gebet riefen, geweckt. Ihr Klang war eindringlich und von fünf Tönen bestimmt. Der Zhong Shou stand im First des Glockenturmes und schlug mit der Stange aus Eisen abwechselnd gegen die Bronzen, die an zwei sich kreuzenden Querbalken befestigt waren. Es war die Stunde des Drachens und die Sonne würde bald über den Horizont kriechen. Die Tür zu Yüos Kammer öffnete sich leicht und durch den Spalt schaute ein schmales Gesicht.

„Erhebe dich, du willkommener Gast, du Fremder unter neuen Freunden, du Wanderer mit dem gefiederten Begleiter, denn wir wollen die Götter preisen.“

Yüo fuhr hoch und rieb sich mit den Knöcheln seiner Finger die müden Augen. Zu seinem Erstaunen musste er feststellen, dass der Tag immer noch im leichten Grau verharrte.

„Aber bin ich nicht gerade erst angekommen und habe doch höchstens drei oder vier Stunden geschlafen?“

Nun sprang die Tür vollends auf und das Licht des Lampions erfüllte den Raum ganz. Das schmale Gesicht entpuppte sich als ein gutmütiger, alter und ausgemergelter Mönch in schlichtem, rötlichem Gewand. Seine Augen aber gaben Wärme wie die Flammen eines Hüttenfeuers in kalter Nacht. Die spitzen Backenknochen waren mit runzeliger und brauner Haut wie aus Leder überspannt. Die Nase war so platt, dass sie sich kaum vom Gesicht abhob. Dieses aber schien dem Erwachten weise und von innerem Licht gespeist. Auch wenn die Lippen des Mönchen schmal wie nur ein einfach geflochtenes Hanfseil waren, so wusste Yüo sicher, dass niemals ein böses Wort über sie kommen konnte. Das Haupthaar fiel dünn und doch immer noch pechschwarz bis halb über die Ohren. Mit den Fingern der linken Hand fuhr sich der Mönch durch den Spitzbart.

„Mein Name ist Bang-Zhu, wie du unschwer erkennen kannst“, rief er lachend und fuhr mit ernster, aber gespielter Miene fort: „Drei Stunden? Oh nein, zwei Tage und zwei Nächte hast du geruht wie im Schoß der Götter! Du musst sehr lange gewandert sein. Ich habe deinem schönen Vogel ab und zu ein paar Körner in den Napf gelegt und ihn mit frischem Wasser versorgt. Doch nun komm, dass du dich frisch machst und dich kleidest. Wir wollen beten und essen und dann will ich dich dem Tempelfürsten vorstellen.“

„Zwei Tage und zwei Nächte?“

Yüo hatte es fast herausgeschrien.

„Sind sie noch da?“

„Ich weiß nicht, wen du meinst. Aber bevor wir weiter darüber sprechen, sage mir doch bitte, wie dein Name ist!“

„Oh, verzeih. Natürlich.“

Yüo war aufgesprungen und versuchte, mit raschen Handbewegungen seine Kleider in Ordnung zu bringen. Er verbeugte sich leicht und sprach:

„Ich bin Yüo, der zweite Sohn des Bauern Ku. Ich stamme aus der Provinz Sichuan und wohnte dort in der Stadt Qamdo. Dann aber verschlug es mich in die Provinz Qinghai ...“

„Schon gut, schon gut“,

unterbrach in Bang-Zhu.

„So genau wollte ich es gar nicht wissen.“

Ein schelmisches Grinsen lief ihm über Mund und Augen.

„Von wem nun wolltest du wissen, ob sie noch hier bei uns sind?“

„Ich meinte den Mönchen Luanxing und seine beiden Begleiter – ihre Namen fallen mir gerade nicht ein.“

Der greise Mönch hob seine Augenbrauen und fragte:

„Du meinst Guang und Jiao?“

Yüo nickte eifrig.

„Kennst du sie denn?“

„Oh ja, Herr. Sie waren auf dem Weg hierher an meiner Hütte vorbeigekommen.“

„Bist du denn ihretwegen gekommen?“

„Nein“,

antwortete Yüo zunächst unvermittelt, sagte dann aber:

„Ja doch, auch ihretwegen, aber nicht nur. Auf jeden Fall hoffte ich, sie hier noch einmal zu treffen.“

In Schmalgesichts Augen und um seine Mundwinkel lagen nun die stillen Worte einer Frage. Der noch nicht ganz ausgeschlafene Gast fasste in sein Obergewand und schien in einer der Innentaschen etwas zu suchen. Gespannt schaute ihm der Mönch zu.

Dann aber zog der Ankömmling ein zerknittertes Pergament hervor.

„Und?“

Der Mönch hob seine knochigen Schultern.

„Dieser Bogen war für den Luanxing und seine Begleiter gedacht.“

„Dann wusstest du also, dass du sie verfehlen würdest?“

„Wieso? Nein, ich wusste es nicht.“

„Aber warum hast du ihnen dann eine Botschaft geschrieben, wenn du meintest, sie anzutreffen. Du hättest es ihnen dann doch selbst sagen können.“

„Weil...“,

Yüo hielt inne und dachte bei sich, wie durchtrieben dieser so harmlos wirkende Mönch doch war. Eigentlich ging ihn das doch gar nichts an. Er wollte doch nur wissen, welchen Inhalts das Pergament war. Doch offen zu fragen, verbot ihm die Sitte. Yüo aber hatte das Stück Papier wieder im Gewand verschwinden lassen. Während er so überlegte, brach der Mönch in ein herzhaftes Gelächter aus und Tränen flossen ihm über die knochigen Wangen. Als der junge Bauer das so hörte und sah, wie sich der dürre Mönch schüttelte, gab er sich geschlagen und rief:

„Na gut, sei es drum. Es ist eine Rezeptur!“

Als der junge Bauer vom Hochland sich im Nebenraum am Trog wusch, als er sich mit den bereitgestellten Kleidern neu richtete und während er sein Haar steckte, berichtete Yüo dem Mönch von der Begegnung mit dem Luanxing und seinen Begleitern. Auch von der Hühnersuppe erzählte er, und dass er das Rezept auf die Bitte seiner Besucher hin aufgeschrieben hatte. Als Yüo seine Verrichtungen beendet hatte, trat der Mönch aus dem Türrahmen und bat um das Pergament. Yüo griff erneut danach und reichte es ihm. Schmalgesicht betrachtete es bedächtig.

„Das liest sich fein ... und sie schmeckt wirklich so gut?“

„Oh ja“,

der Angesprochene fuhr mit der Zunge über seine Lippen.

„Sie mundet phantastisch.“

„Gut, gewiss wird der Luanxing ab und zu das Kloster aufsuchen, denn er gehört ja zu uns. Mit deiner Erlaubnis werde ich das Pergament verwahren und behüten wie meinen eigenen Augapfel, um es ihm zu geben, wenn er kommt.“

„Aber...“

„Ja, ich weiß, du möchtest für eine Zeit bei uns bleiben und hoffst so, den Wandermönch selbst hier anzutreffen. Aber wie dem auch sei, mit deinem Einverständnis würde ich die Rezeptur gerne auch unserem Küchenmeister geben.“

„Ja, tue das, aber...“

„Ja?“

„... es ist nicht gewiss, ob sie gleich so gut schmeckt, wie wenn ich sie koche.“

„So? Warum meinst du das? Bist du etwas Besonderes unter dem Himmel?“

„Oh nein, du missverstehst mich. Ich meine nur, es sind nicht allein die Zutaten, wie Knoblauch, Salz, Gemüse und Fleisch, die eine Suppe schmackhaft machen.“

„Sondern?“

„Es ist wichtig, mit der Suppe eins zu werden, etwas von der eigenen Seelenenergie, den Wünschen und Sehnsüchten, Hoffnungen und Visionen, von der Phantasie und den Träumen mit hineinzugeben.“

Der Mönch wusste nicht, ob er lachen oder ernsthaft nicken sollte. Doch als er dem Yüo in die Augen schaute, entschied er sich für das Letztere und sprach:

„Ich bin kein Koch und kenne mich nicht damit aus. Mag sein, dass du Recht hast. Ich werde den Küchenmönch darauf hinweisen.“

Der gütige Klosterbruder tat das Rezept in die Innentasche seines Gewandes. Dann erzählte der Alte noch, dass der reisende Mönch und seine Begleiter vor sieben Tagen vom Kloster aufgebrochen waren.

„Luanxing zog nach Osten an den Blauen See und die jungen Männer machten sich auf nach Norden zum Kloster bei der Stadt Dunhuang. Von dort wollten sie entlang des Qaidam-Tales weiter wandern, um die Wüste Taklamakan zu überwinden und so an den großen Fluss Sind zu gelangen. Du hättest eigentlich auf sie treffen müssen. Bist du?“

„Aber nein doch, sonst hätte ich ja nicht nach ihnen gefragt.“

„Ja, natürlich, verzeih.“

Yüo nickte vergebend und fragte dann Bang-Zhu:

„Ist dir der Chang Tou-fa bekannt?“

„Chang Tou-fa?“,

wiederholte dieser langgezogen und fragend.

„Ja, er hat langes, schwarzes Haar und kommt vom Schilfsee. Er ist Fischer und kauft manchmal in Golmud Dinge für seinen Beruf. Und manchmal, so erzählte er mir, kommt er dann auch hier hinauf zum Kloster.“

„Ah, ja“,

erinnerte sich jetzt Schmalgesicht,

„ein oder zweimal habe ich ihn hier in den heiligen Mauern gesehen. Warum fragst du?“

„Nun, eigentlich nur so. Ich kenne ihn und er hatte mir von der neuen Lehre berichtet, die Lehre des Prinzen von Sind und dass er hier bei euch davon erfahren hatte.“

Der Mönch fragte nicht weiter, war sich aber sicher, dass Yüo nicht alles über sich und den Fischer vom Schilfsee erzählt hatte. Bang-Zhu führte den Gast in den Gebetssaal und wies ihm einen Platz inmitten der Schüler an. Einer der Mönche sprach Worte, auf welche die Gemeinschaft antwortete. Yüo verstand nur die Hälfte und war ein wenig verwirrt. Doch Schmalgesicht nickte ihm von seinem Sitz an der Flanke des Saales verständnisvoll und ermutigend zu. Nach einer Weile wurde es still in dem Raum. Nur der eigene Atem war zu hören. Bis dann der Betmönch in die Hände klatschte, woraufhin sich alle gegenseitig umarmten. Auf Yüo schienen es die Brüder besonders abgesehen zu haben. Er ließ sie gewähren und tat es ihnen bald gleich. Danach schritten alle gemeinsam zum Frühmahle. Der Neuankömmling aber war so ausgehungert, dass er noch um eine zweite Schale Reis bat. Sie wurde ihm gerne noch einmal gefüllt.

Beim Herrn des Klosters (1) (25)

Der Herr über die heiligen Mauern nahm sich viel Zeit für den Mann aus der Provinz Qaidam. Doch vor der Unterredung hatte der Da Daoshi auch diesmal ein Gebet gesprochen. Er kannte den Yüo ja schon ein wenig von den Erzählungen seines Gesandten und wollte deshalb besonders empfänglich für die gehörten Worte sein. Als ihm der junge Mann gegenübersaß, deuchte den großen Lehrer, er wäre ihm schon einmal im Leben begegnet. Es war mehr ein Gefühl, als dass es Gewissheit war. Jedenfalls hatte ihn beim ersten Anblick eine große liebende Fürsorge für ihn ergriffen. Der Herr beschloss aber bei sich, dies nicht offen zu zeigen, geschweige denn, darüber zu reden. Yüo berichtete aus seinem Leben, seinem Abschied von den Eltern und von dem Dasein in der Einsamkeit am Rande der Rong-Steppe. Er gab Auskunft über seine Erkenntnisse und Fähigkeiten, über seine Wünsche und Sehnsüchte, seine Lebensfragen und das, was er noch erlernen wollte, und warum er die lange Reise nach Golmud auf sich genommen hatte. Er sprach davon, vielleicht doch länger im Kloster bleiben zu wollen. Allein seine Ängste und Schwächen erwähnte er nicht greifbar, sondern eher allgemein. So in dem Sinne, dass ja jeder Mensch Fehler hätte und so auch er. Ebenso erzählte Yüo nicht von seinem Unfall in den Kindheitstagen. Als er mit seinen Ausführungen zum Ende gekommen war, sagte der Abt:

„Du hast ihn also tatsächlich gefangen!“

„Wen, Herr?“

Yüo war vollkommen überrascht.

„Nun, den Vogel, auf den du gewartet hast.“

Für einen Moment wusste der junge Bauer nichts zu sagen. Zur Überraschung gesellte sich auch noch Verwirrung.

„Oh Laoshi, du weißt davon?“

„Aber natürlich. Luanxing hatte mir von eurer Begegnung berichtet.err

Sprich zu mir über den Vogel, den du mit in das Kloster gebracht hast“, forderte der Erhabene den Sohn des Bauern Ku nun mit sanfter Stimme auf und er fügte hinzu:

„Dieses prachtvolle Geschöpf hat die Klostergemeinschaft ziemlich in Aufruhr gebracht. Denn einen solchen Vogel gibt es eigentlich in ganz Zhong Guo nicht. Es war deshalb nicht zu übersehen, dass du in Begleitung kamst, und ...“,

bei diesen Worten zogen sich leichte Lachfalten um den Mund und seine Augen zwinkerten,

„ ... du musst wissen, die wachhabenden Mönche sind sehr gesprächig.“

Der Tempelfürst schaute ihn offen an. Yüo aber brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, was sein Gegenüber wohl mit dem letzten Satz gemeint haben könnte. Dann begann er, die Geschichte von dem Bambusvogel zu erzählen. Wie er ihm das erste Mal begegnet war, bis hin zu dem Streit mit seinem Freund Chang Tou-fa. Nur von seinen Nöten sprach Yüo nicht. Als er aber an das Ende seiner Erzählungen gekommen war, blitzten die Augen des Da Daoshis auf und er fragte:

„Bist du nicht eigentlich seinetwegen hierher gekommen? Ich meine, wegen des Vogels?“

„Aber nein, Herr, wie kommst du darauf?“

„Nun, du hast nicht nur die anstrengende Reise nach Golmud auf dich genommen, sondern sie auch noch durch den gewaltigen Käfig erschwert. Wenn es nur um dich ginge, wärest du alleine gekommen, überhaupt, warum gerade dieses Kloster?“

Yüo erzählte alles Mögliche und gab viele wohlklingende Gründe für sein Kommen nach hier an. Auch von der beabsichtigten Befragung des Orakels und der Wende in dieser Geschichte sprach er. Nur von dem, was ihn so sehr bedrängte, sprach er auch diesmal nicht. Der große Meister hörte sehr aufmerksam zu. Er nickte, er strich sich über das Kinn, er faltete die Hände und legte sie an die Lippen, er erfuhr Neues und erspürte das Verschwiegene, er fragte und er blieb stumm, gab mit seinen Blicken Antwort und ließ die Worte des jungen Mannes in sein Herz eindringen. Die Unstimmigkeit war nicht zu überhören, ebenso aber auch nicht die Not und der unausgesprochene Wunsch nach Befreiung. Der Da Daoshi schaute tiefer und sah in dem grob gehauenen Stein das fertige Kunstwerk. Sie sprachen lange miteinander. Als dann der Gong zur nächsten Mahlzeit vom Klosterhof ertönte, sprach der große Lehrer zu Yüo:

„Du möchtest also eine gewisse Zeit im Kloster verbringen, um zu lernen und Antworten für dein Leben zu finden? Nun, es ist nicht jedem beschieden, in das Kloster aufgenommen zu werden. Du musst es wirklich wollen und ich muss mich mit den Brüdern beraten. Willst du länger bleiben, oder ist das Kloster nur eine kurze Station auf deinem Wege? Willst du vielleicht nur den Winter über hier bleiben? “

„Wenn ich es recht bedenke, oh Herr, dann soll es doch für längere Zeit sein.“

„Gut.“

„Wann erfahre ich, ob ich bleiben darf oder nicht?“

„Nun, ich muss darüber ein oder zwei Nächte schlafen und ich muss - wie schon gesagt - wissen, was die Brüder darüber denken. Ich vertraue dich solange dem Bang-Zhu an. Er wird das tun, wozu er berufen ist.“

Der Da Daoshi hatte längst innerlich für sich seine Entscheidung getroffen, wobei ihm selbst nicht ganz klar war, weswegen. Aber seinem Gegenüber tat er vollkommen unentschlossen. Er bedeutete dem jungen Bauern sich zu erheben, denn die Unterredung galt als beendet. Auch der Abt erhob sich und klatschte in die Hände. Schmalgesicht erschien im Torbogen des heiligen Raumes. Der Herr aber sprach zu Yüo gewandt so:

„Bang-Zhu war es, der dich heute Morgen weckte und zu mir brachte. Er wird dich nun auch wieder hinausführen.“

Yüo wurde nun angehalten, sich im Kloster durch sein Leben mit einzubringen. Er war Gast bei den Gebetsstunden, dem Lernen heiliger Texte und lernte die Umgangsformen; er wurde eingeladen, mit den anderen zu meditieren, zu kalligraphisieren und den Tee würdevoll zuzubereiten. Mit der Gruppe der Novizen zog er auch nach draußen, um die Klostermauern dort neu rot zu tünchen, wo Regen, Sonne und Frost der Farbe zugesetzt hatten. Mit dem alten Bang-Zhu ging er auch hinab in die Stadt, wo ihm das Treiben des Volkes wie das Tosen des großen Meeres erschien. Am zweiten Tag, als sie die Stufen zum Tor des Klosters hinaufstiegen, sagte sein Begleiter:

„Morgen fällt die Entscheidung, ob du bleibst oder dein Weg dich weiterführt. Wisse, wenn der Da Daoshi sich für dich entscheidet, dann kannst du nicht im Kloster selbst wohnen. Denn du hast deinen gefiederten Freund bei dir. Als Besucher mag er bleiben, aber über eine längere Zeitspanne nicht. Es kommen immer mehr Suchende, um für ein oder zwei Tage bei uns zu bleiben. Der Platz wird eng. Du musst dir also ein Heim in Golmud suchen.“

Es war nicht ganz die Wahrheit, die der Mönch da von sich gegeben hatte. Sehr wohl war Platz für einen Vogel und für einen Käfig. Es war vielmehr die Tatsache, dass dieses wunderschöne Geschöpf eine zu große Ablenkung für die Brüder bedeutete. Bang-Zhu hielt es aber für ratsamer, nicht so offen darüber zu reden.

Mit Bangen, aber auch mit Ruhelosigkeit hatte Yüo auf den Schiedsspruch des großen Lehrers gewartet. Der Da Daoshi schaute ihm tief in die Augen. Yüo konnte aus seinem Gesicht nicht ablesen, was nun folgen sollte. Doch als der Meister begann zu sprechen, an der Wahl der Worte und auch an dem Ton der Stimme, erkannte der junge Bauer, wie die Entscheidung gefallen war.

„Wir wissen, dass du ein großer Suchender bist“,

sprach der Lehrer und fuhr fort,

„und wir haben gesehen, wie eifrig du in den wenigen Tagen bereit warst, zu lernen und zu arbeiten.“

Yüos Herz richtete sich auf und er hörte weiter, was der Da Daoshi zu sagen hatte. Allerdings ging es nun in eine etwas andere Richtung.

„Verborgen geblieben aber sind mir auch nicht deine schwachen Seiten. Ist dir bewusst, dass du solche hast?“

Yüo zögerte. Nicht, weil er diesmal lügen wollte. Vielmehr wollte er zu erkennen geben, dass er bewusst sagt, was er nun zugeben wollte. Mit errötetem Gesicht sprach er:

„Ja Herr, ich habe Dinge an mir, die nicht gut sind und ich möchte noch viel mehr erkennen.“

Der Herr des Klosters lächelte bis in das Herz des Yüo und meinte:

„Du wirst drei Winter und drei Sommer bei uns bleiben, wenn du es auch willst.“

„Ich will!“

„Gut. Mögest du in dieser Zeit erkennen, was die Götter mit dir vorhaben. Vieles hast du schon gesehen und manches mit den anderen praktiziert. Du wirst nun Zeit genug haben, alles genauestens zu lernen und du hast Zeit zum Gebet. Arbeiten wirst du und ruhen; du wirst im Tempel weilen, aber auch mit den anderen Schülern in das Land geschickt werden; du wirst dich verausgaben können, aber auch ruhen dürfen im Geist. Ich wünsche dir“,

und der Erhabene hob leicht die Augenbrauen,

„die Antworten auf deine vielen Fragen. Achte auf deinen wunderbaren, schönen gefiederten Sänger. Ich hoffe du weißt, was du an ihm hast.“

Bei diesen Worten machte das Herz des Yüos einen Sprung. Denn nicht zum ersten Male vernahm und empfand er sie als Mahnung. Nun wusste er, dass dem großen Meister seine wirklichen Sorgen nicht unbekannt waren. Jetzt war er doch froh, dass er auf die Stimme seines Herzens gehorcht hatte. Ihn durchflutete Wärme und Dankbarkeit. Noch am selben Tag begann Yüo, in der Stadt Golmud nach einer Bleibe zu suchen. In den schmalen Gassen, abseits der Hauptwege, roch es nach verbranntem Holz, geschmorten Pilzen, gebratenem Hühnerfleisch und scharfen Gewürzen. Hier und da war ein Hämmern zu hören, ebenso das Sägen von Baumstämmen und der schwere Atem eines Blasebalgs, das Murmeln der Alten und das Rufen der Kinder. In den Winkeln der dicht zusammengerückten Hütten und Häuser hatten sich Laub, altes Pergament und Asche gesammelt. An manchen Wänden der Häuser, aus gelben Lehmziegeln erbaut, rankten Reben des roten Weins. In den Höfen und am Brunnen spielten Kinder, webten Frauen ihre Teppiche, tranken die Alten Tee und dösten Hunde mit struppigem Fell. Bei einem der Silberschmiede fand Yüo einen Raum, der ihm geeignet schien. Über den Preis wurden sie sich schnell einig. Der Handwerker erhielt zwei Schnüre mit jeweils zwölf Schneckengehäusen und fünf bronzene Münzen. Die Stube lag – eine schmale knarrende Stiege hinauf – über der Werkstatt des Künstlers.

Dunkle Wolken (26)

„Wirst du alleine hier wohnen oder hast du ein Weib bei dir?“

fragte der Duangong den Neuankömmling.

„Nun, mein Herr, ein Weib kann ich nicht mein Eigen nennen, aber oben im Kloster befindet sich noch ein fast mannshoher Käfig, in dem sich mein Bambusvogel befindet. Ihn werde ich mitbringen.“

„Ah so, du wirst also einer der Novizen sein.“

Die Worte klangen nicht gerade freundlich.

„Ist es dir nicht recht, Herr, wenn du einen Klosterschüler beherbergen wirst?“

„Doch, doch. Es ist nur ...“

„Ja?“

„Ihr Mönche bettelt mir zuviel. Kaum kann ich durch die Strassen dieser Stadt wandeln, ohne um eine Münze oder anderes gebeten zu werden und wenn ich nichts gebe, dann habe ich ein schlechtes Gewissen.“

„Nun, dafür betet die Klostergemeinschaft auch jeden Tag für diese Stadt und bittet um den Schutz der Götter.“

„Ja, ja, ist schon Recht.“

Der Silberschmied deutete mit dem Wink seiner Hand an, dass er darüber nicht weiter sprechen wollte.

„Du erwähntest einen Bambusvogel? Ich habe nie von einem solchen Geschöpf gehört. Du bringst ihn mit hierher?“

„Herr, wie ich gehört habe, gibt es einen solchen Vogel wohl nur einmal. Du wirst sehen, er ist wunderschön. Ich bringe ihn morgen mit.“

Täglich nun nahm der neue Schüler den Weg hinauf zum Kloster auf sich, während der Niau-Zhuzi im Vogelhaus und in der Klause zurückblieb. Anfangs begrüßte er den Heimkommenden mit lieblichem Gesang. Yüo ließ sich dann vor dem Käfig nieder und erzählte, was er Neues gelernt hatte. Er gab ihm frisches Futter, goss neues Wasser in die Schale und sagte ihm, wie schön er sei. Doch mit der Zeit war es der Schüler leid, nach dem Studium der heiligen Schriften, der körperlichen Arbeit und dem Heimweg auch noch dem Niau-Zhuzi alles zu berichten und für ihn zu sorgen, wie es angebracht gewesen wäre. So verstummte der schöne Sänger mehr und mehr. Viel zu spät bemerkte Yüo, dass hinter dem Fenster des sehr nahen gegenüberliegenden Hauses, auf der anderen Seite der schmalen Gasse ein unangenehmer dürrer, alter Zeitgenosse schlich und mit aufdringlichen Augen nach dem Vogel gierte. Denn sehr wohl hatte der Fremde aus Qinghai nicht nur innerhalb der Klostermauern, sondern auch in der Bergfestung Aufsehen erregt und die Schönheit des Bambussängers war so manchem nicht verborgen geblieben. Neider gab es genug. Allein, der Sohn des Bauern Ku spürte es nicht. War er sich seines Besitzes so sicher? War sein Herz an diesem Punkte blind?

Den Lehrern war es wichtig, den Novizen das bewusste Leben im Hier und Jetzt zu vermitteln. Nicht grübeln über Vergangenes, nicht sorgen über Zukünftiges und sich lösen von allen inneren Bindungen und Vorstellungen. Dann, so hieß es, könne die Allmacht ohne das eigene Zutun das bewirken, was der Einzelne sich für sein Leben wünscht. Es sei die gleiche Gelehrtheit, die eine Blume blühen, sich vermehren und verwelken ließe, ohne dass diese etwas dazu tat. Von ganzem, tiefem Herzen wünschte sich der Sohn des Bauern Ku dieses Leben im Fluss der Weisheit und den gleichzeitigen Verzicht auf Selbstzügelung, Gewalt und Anstrengung. Gerne würde er einem

Boot gleichen, dessen Segel im Wind den Weg bestimmt. Gerne hätte er die Ruder zur Seite gelegt und aufgehört, selbst zu kämpfen. Doch war es scheinbar noch ein weiter Weg.

Zu den Unterrichtungen gehörten auch das Wissen über die Bedeutung der Musik, das Verfassen von Liedern und das Spielen der Instrumente selbst. Manchmal zog die Schar der Novizen hinab vor die Tore der Stadt, wo sie im Reiten der Pferde und Kamele unterrichtet wurden. Vieles meinte Yüo schon gewusst zu haben, oder gar zu beherrschen. Aber die Zeit im Kloster zeigte ihm etwas anderes.

Eines allerdings hatten Lehrer und Schüler gemeinsam, eines verband sie, eines machte sie gleich. Daoshis und Novizen waren ohne Weib. Aber niemand wusste, wie der andere tief in seinem Herzen wirklich darüber dachte. Sie hatten geschworen, auch ohne diese Lust zu bleiben, denn ihre Aufmerksamkeit sollte ungeteilt den Göttern und dem Dienst an den Menschen gelten. Auch Yüo war dieser Schwur abverlangt worden. Jedoch nicht alle Vorsteher der Klöster im Reich der Mitte dachten so. Aber der Tempelfürst von Golmud gehörte der Lehre der Keuschheit an.

Der erste Winter in Golmud brachte merkwürdige und beängstigende Veränderungen in den Verschlag über der Silberschmiede. Der Gesang des Niau-Zhuzi war fast kaum noch zu hören und Yüo verzweifelte unter Angstschüben. Sein nächtliches Auffahren von der Reismatte nahm zu und er begann, sich selbst zu hassen. Manchmal wusste er nicht mehr, ob er Worte nur gedacht, oder sie laut ausgesprochen hatte. Manchmal meinte er, er würde verfolgt und wich dann in die kleinsten Gassen der Stadt aus. Manchmal musste er weinen und wusste nicht warum. Seine Seele glitt ab in die Hölle, den Ort, an dem es weder Frieden, noch Licht, noch Hoffnung gab. Diese seine Veränderung wurde auch im Kloster unter den Lehrern und Mitschülern bemerkt. Aber von allen litt er an sich selbst am meisten. So dachte der junge Bauer jedenfalls, gleichwohl er das Verstummen des Bambussängers natürlich bemerkte.

Oft nahm Yüo seine Dizi und zog an freien Tagen oder noch spät nachts hinaus vor die Stadt nahe der Gräberfelder, um wieder zu sich zu finden. Auf der Flöte spielte er lang anhaltende Laute, denen dann kurze und trällernde Töne folgten. Dieses Instrument befähigte den Menschen, mit den Göttern zu reden und sowohl den Gang durch das Schattenreich und die Wiederkehr des keimenden Lebens zu begleiten. Unter Tränen flehte der Sohn des Bauern Ku deshalb zu den Sternen, dass er zur Ruhe käme. Hatte er sich die Zeit im Tempel nicht gerade als Zeit der Findung und Umsicht, Gelassenheit und neuer Richtung gewünscht und erhofft? Nun war es noch schlimmer geworden. Waren nicht auch der Grund hier zu sein, die seltsamen Begegnungen zuerst mit dem wunderschönen Vogel und später mit dem Tempelpriester und seinen Begleitern? Hatte ihm sein Herz einen bösen Streich gespielt? Hätte er doch das Orakel befragen sollen? Was war aus der Liebe zu dem Bambussänger geworden! Yüo erinnerte die Worte des Händlers Mai und auch die des Da Daoshi noch vor kurzer Zeit. Auch die Auseinandersetzung mit Chang Tou-fa stand ihm vor Augen. Mit Zittern gedachte er der ersten Begegnung mit dem fast unsichtbaren Gast an den heimischen Terrassen. Er spürte die Sonne, nahm die Gerüche jenes damaligen Tages wahr, hörte den Cantus und sank auf die Knie. So fand ihn wenig später Bang-Zhu in der Dunkelheit am Rande des Gräberfeldes.

Die Schlange in uns (27)

Auf dem Weg von Golmud nach Qaidam lag – in einem nach Norden und Osten ausgedehnten Tal - die Siedlung Qarhan. Sie war von einer mit Zinnen besetzten Mauer umgeben, wie auch alle anderen der größeren Orte im Reich der Mitte. Inmitten der Stadt befand sich ein Park. Er war kunstvoll angelegt, doch war er zu dieser Jahreszeit ein wenig seiner Schönheit beraubt. Kahl die Bäume, kahl die Sträucher und um ihre Blüten betrogen. Die Stauden, Wiesen und Wege waren bedeckt von Laub. Außerhalb der Stadt lagen die herbstlichen Felder. Zu dieser Zeit waren sie abgeerntet und abgebrannt und lagen brach, wartend auf den Winter.

Mit der Erlaubnis des Tempelherrn wollten sich Bang-Zhu und sein Schützling auf Kamelen nach dort hin begeben. Die Reise würde einige Tage dauern, weshalb sich beide mit Pemmikan und Trockenobst versorgten und warme Kleidung anlegten. In Qarhan lebte der Heiler Zhiliao. Dieser war über die Grenzen seiner Stadt hinaus sehr bekannt dafür, die Fähigkeit zu haben, ins Innere der Menschen blicken zu können. Allein durch Zuhören und heilende Worte konnte er ihnen aus ihrer Not helfen. Yüo wusste nicht mehr ein noch aus und war bereit, jede Hilfe, die sich ihm bot, anzunehmen. So hatte er sich auf den Vorschlag Bang-Zhus eingelassen. Auch der Tempelfürst war mit diesem Ausritt einverstanden. Sie ritten auf Kamelen. Diese hatten bereits begonnen ihr braunes, struppiges und kurzes Fell gegen die dichte, wollige und sandgraue Winterdecke zu tauschen. Im Herbstwind sah ihr Haarkleid ungepflegt, zerzaust und gar zerlumpt aus. Doch Zecken tummelten sich wegen der Jahreszeit nicht mehr in ihrem Fell. Bang-Zhu und Yüo benötigten für ihre Reise fünf Tage und schwiegen meist während des Ritts. Dann war nur der eintönige Klang der Bronzeglocken, die den Trampeltieren um den Hals gebunden waren, zu hören. Abends am Feuer sprachen sie ausführlich über dieses und jenes, über die Götter und die Welt. Die Reise nach Qarhan war nicht ganz ungefährlich gewesen, denn beinahe hätte eine giftige Steppennatter Yüos Kamel in die Ferse gebissen. Dieses aber war schneller gewesen und hatte dem Reptil mit einem kurzen, heftigen und gezielten Schlag seines gespalteten und tellergroßen Fußes den Kopf zertreten. So kamen sie hinab zu der Stadt und ritten die Straße mit den knienden Elefanten entlang durch das Südtor. Es war unbewacht. Von dort gelangten sie durch einige Gassen zu dem Park, an dessen nördlichem Rande – am Ende einer Kastanienallee – das Haus des Seelenarztes lag. Jenseits des Parks aber erstreckte sich das Weberviertel. Den Göttern sei es gedankt, war Zhiliao nicht fort, sondern in seinem Heim und hatte auch Zeit für die Weitgereisten. Sie banden ihre Kamele an einen der wuchtigen Bäume und traten in das wohl erwärmte Haus des Seelenkundigen.

Als der Heiler sich am Beginn der Unterredung nach dem Ergehen auf dem Wege erkundigte, erzählte der Bang-Zhu und Yüo auch von der Steppennatter und deren Ende. Dann erkundigte Zhiliao sich nach seinen Eltern und nach seinen Geschwistern. Yüo erzählte bereitwillig, was es zu erzählen gab. Der Heiler bat anschließend seinen Gast, über sich selbst und aus seinem Leben zu erzählen. Das, was ihm, dem jungen Mann, wichtig war, sollte so zur Sprache kommen. Auch hier folgte Yüo seinem Gastgeber. Der Heiler aber fragte dann und wann nach und schwieg, wenn Yüo nicht zu antworten vermochte und nach Worten suchte. Dieser sprach auch über den Sturz aus der Kiefer in jungen Jahren, über die Ängste seiner Ma, als sie ihn unter dem Herzen trug. Über dieses und jenes redete Yüo, wie er von zu Hause fortzog und sich seine Hütte am Rande der Rong-Steppe baute und er berichtete auch von dem wunderbaren Bambusvogel. Verhalten aber sprach er von den Veränderungen in seinem Herzen. Ebenso hätte er sehr gerne von der Lust nach einem Weibe geredet, von seinen Phantasien, von seinen Vorwürfen, Zwängen und Ängsten. Es war ihm unmöglich, sein Mannsein zu offenbaren, denn in der Gegenwart seines klösterlichen Freundes getraute er sich nicht eine Silbe davon zu sagen. Beide hatten ja einen Eid der Keuschheit abgelegt. Allein seine Augen schienen zwischen den ausgesprochenen Worten davon zu sprechen. Außerdem hatte Yüo manchmal Angst, etwas ihm Unangenehmes auszusprechen, weil es dann – so empfand er es – noch mehr Macht über ihn gewann. So war es ihm auch zu schmerzhaft, zu betrübend, zu gewagt, weiter und tiefergehend über sich und die Verbindung zum Bambusvogel zu sprechen. Sicher war es auch dazu noch Angst vor der Wahrheit, die ihn davon schweigen ließ. Dann sprach der Zhiliao ganz unvermittelt, wobei er abwechselnd erst Schmalgesicht und dann den jungen Novizen anschaute:

„Ihr hattet von der Schlange berichtet, die euch auf der Reise gefährlich werden wollte, die aber von einem der Kamele zertreten wurde.“ Bang-Zhu aber schwieg, meinte er doch zu wissen, dass diese Bemerkung mehr seinem Anbefohlenen galt, als ihm selbst. So schaute er zur Seite, zu dem Yüo hin. Dieser aber legte seine Linke auf die Brust, als wollte er fragen, was denn nun er damit zu tun habe. Als aber auch der Heiler kein Wort sagte, meinte der Sohn des Ku etwas kleinlaut:

„Ja, Herr, das ist richtig, so haben wir es beide erlebt. Warum aber kommst du nun darauf zurück?“

„Nun, wie die Kreatur, so sind auch wir Menschen wohl in der Lage, das Böse von außerhalb zu besiegen, zu töten oder zu verbannen, aber die Schlangen in uns, die inwendigen Dämonen, die mit unserer Seele verschmolzenen Drachen können wir nicht so bezwingen. Sie alle lassen sich nicht so einfach vertreiben und sich auch nicht niederringen.“

Für eine zeitlang sagte niemand etwas und Yüo bemerkte, wie auch Bang-Zhu nun erstaunt zu dem Seelenarzt hinschaute. Dieser aber fuhr dann nach einer kleinen Weile fort:

„Je mehr wir versuchen, ihnen den Garaus zu machen, sie zu töten, sie davon zu jagen, oder die Flucht vor ihnen zu ergreifen, je mehr gewinnen sie Macht, bedrängen und herrschen über uns.“

„Jian guai bu guai qi guai zi bai – wir müssen dem Furchtbaren ohne Furcht begegnen, dann verschwindet es von alleine. ”

Nun fragte der Heiler den Yüo:

„Welches ist die Schlange in dir und welche Dämonen plagen dich? Was glaubst du, ist mit dir geschehen, dass du dich so verändert hast?“

„Ich weiß es nicht, Herr, aber einmal, in meiner Verzweiflung, habe ich nach mir selbst, in meinen Arm, gebissen. Das ist alles so schrecklich. Ich bin – so scheint es mir – nicht mehr ich selbst.“

Sehr wohl spürte der Arzt, dass Yüo im Begriffe stand, sich selbst zu hassen. Nicht ganz, aber den Teil in ihm, der etwas tat und begehrte, was die andere Seite verbot. Aber er sagte es dem jungen Mann nicht. Dann fragte er ihn:

„Leidest du auch manches Mal unter gewissen unnützen Wiederholungen?“

Yüo durchfuhren diese Worte wie ein Schwert. Woher konnte der Seelenheiler dieses wissen?

„Ja, Herr. Das stimmt und ich schäme mich dafür. Aber es war nicht immer so.“

Er erzählte von dem Türriegel seiner Hütte am Rande der Rong-Steppe, den er manchmal mehrmals nachprüfen musste und auch von anderen ähnlichen Dingen, die sich in der vergangenen Zeit auch hier in Golmud verfestigt hatten.

„Und kannst du dir denken, warum das so ist?“

„Nein, Herr, ich habe dafür keine Erklärung. Vielleicht kannst du mir weiterhelfen.“

Zhiliao sah ihn an und sprach:

„So leicht will ich es dir nicht machen. Erzähle doch einmal, wie oft deine Angst, du hättest zum Beispiel die Tür des Vogelkäfigs nicht richtig verschlossen, berechtigt war.“

Yüo überlegte einen Moment und legte seine Stirn in Falten. Doch mit einem leichten Lächeln sagte er dann:

„Keinmal war es so, ich kann mich nicht erinnern. Wirklich, keinmal war es so.“

„Wie ging es dir, nachdem du die Tür oder anderes mehrfach nachgeprüft hast?

„Ich war beruhigt.“

„Siehst du, das ist es. Im Grunde weißt du genau, dass du den Riegel vor die Türe gelegt hast. Ob nun bei deiner heimatlichen Hütte oder deiner Stube in Golmud oder bei dem Käfig deines Vogels. Du gehst nicht zurück, um die Türe vielleicht doch noch schließen zu müssen.“

„Sondern?“

„Die Antwort hast du dir selbst schon gegeben.“

„Mmmh“.

„Weil du innerlich unruhig und ängstlich bist! Aber nicht wegen einer nicht verschlossenen Tür oder dergleichen. Im Grunde ist es etwas anderes, was dich aus dem Gleichgewicht bringt und als Behelf willst du nun die Gewissheit der verschlossenen Tür auskosten. So tust du etwas zu deiner Sicherheit und findest du wieder Ruhe. Aber die Lösung ist es eigentlich nicht, oder?“

Yüo war verblüfft und erschrocken zugleich.

So ging es eine Weile.

Dann meinte Zhiliao gewandt an den jungen Zuhörer:

„Du darfst auch deinen Unfall aus Kindertagen nicht vergessen. Dieser hat dich sehr verunsichert. Denn du fielst und niemand war da, der seine Hand aufhielt, um dich aufzufangen: nicht der Vater, nicht die Mutter und nicht einmal die Götter.“

Yüo und auch Bang-Zhu nickten und der Arzt fuhr fort:

„Denke auch daran, dass du an den Ängsten deiner Ma, von denen du sprachest, Anteil genommen hast, obwohl du noch nicht geboren warst. So fällt es dir schwer, zu vertrauen. Nicht einmal dir selbst traust du und schon gar nicht einem anderen und leider vertraust du wohl auch den Göttern nicht.“

Yüo war nun nicht nur erstaunt, sondern auch erbost und er meinte etwas aufgebracht:

„Aber bin ich doch ein Lernender in einem Kloster. Sollte ich da nicht den Gottheiten vertrauen!“

„Und – tust du es?“

„Mmmh.“

„Nun?“

„Ja, Herr, du magst wohl recht haben. Nur frage ich mich ...“

„Ja?“

„Warum aber sind mein Argwohn und mein Grausen erst aufgekommen, als ich von zu Hause fortzog und vor allem, seit ich im Besitz des Bambusvogels und seitdem ich in dem Kloster von Golmud bin?“

„Ist es so?“

„Ja, ich hatte schon vorhin versucht, es zu erwähnen.“

„Allerdings, aber so deutlich hast du es erst jetzt gesagt.“

„Das stimmt, Herr.“

Zhiliao ließ eine Pause folgen und wartete mit dem, was er zu sagen hatte. Er goss seinen Gästen von dem grünen Cha nach und bat sie, von den Datteln und Feigen und von dem Kürbis zu nehmen. So konnten die Worte, die zu sprechen waren, noch recht geformt werden. Dann aber, nach einer Weile, redete der Seelenarzt so:

„Nun, ich denke, es gibt da dreierlei Gründe. Zum einen hast du dich aus dem Schutz deiner Eltern in die Fremde begeben. Da hattest du niemanden mehr, der für dich die letzte Verantwortung trug und ganz offensichtlich hast du es – als du noch bei deiner Ma und deinem Vater weiltest – nicht gelernt, Belastungen mit dir selbst auszumachen und klare Entscheidungen zu treffen. Im Grunde aber warst du noch gar nicht reif, für ein Leben auf eigene Faust. Weil aber die Gebote des Meisters Kong es vorschreiben, musstest du von zu Hause fortziehen. Das war sicher richtig so, denn es ist ja undenkbar, dass ein ausgewachsener Sohn noch bei den Eltern weilt.“

Yüo und auch Schmalgesicht schwiegen. Nicht nur schwiegen sie, weil sie auf den Früchten kauten, sondern auch dieser überraschenden und aufhellenden Antwort wegen. Der Heiler aber fuhr fort:

„Dann – als du schon einige Zeit bei der Hütte weiltest – flog dir der Bambusvogel zu. Du hattest einen gewaltigen Schatz gewonnen. Du wurdest vom Himmel mit Glück überschüttet. Du warst auf einmal von Freude umgeben. Das aber durfte in Wirklichkeit nicht sein. Diese Art von Freude konntest du nicht zulassen und demnach wurde deine Angst groß, du könntest das alles wieder verlieren, da der kleine Yüo zwar Glück erlebt hatte, dieses aber durch den Unfall zunichtegemacht wurde.“

„Aber nun bin ich doch erwachsen,“ antwortete dieser.

„Ja,“ entgegnete ihm da der Arzt, „äußerlich bist du es, doch - wie ich schon zuvor bemerkte und sei mir deshalb bitte nicht böse - bist du in deiner Seele noch das Kind von früher geblieben.“

Yüo dachte bei sich, während er verlegen von dem Tee und den Datteln nahm, dass er vielleicht deshalb so unsorgsam mit dem schönen Vogel umgegangen war, weil er ihn sowieso nicht verdient habe und er dieses Glück doch nicht festhalten konnte. Wahrscheinlich wäre es ihm auch mit jedem der anderen begehrten Vögel so gegangen. Zhiliao war wirklich ein weiser Mann. Es war sehr still in dem Raum geworden und nach einer Weile fragte Yüo nur verlegen und betreten:

„Und drittens?“

Zhiliao nahm von dem Tee.

„Und drittens. Nun - in dem Kloster angekommen, wolltest du den Göttern noch mehr als zuvor und mit ganzer Hingabe dienen. An Eifer, Edelmut, Vollkommenheit und Selbstverleugnung sollte es nicht fehlen und ja kein Fehler durfte dir bei allem unterlaufen. Dies aber, mein Freund, schafft nicht einmal der Abt des Klosters. So hast du dir dein Leben schwergemacht, weil du dir Gebote auferlegt hast, die von niemandem und auch nicht von dir erfüllt werden können. Du fingest an, dir selbst zu zürnen, weil du dir nicht genügen konntest. Denn nicht nur Gesetze hast du dir selbst geschaffen, sondern auch zu einem der Götter, die über diese Gesetze herrschen und urteilen, hast du dich gemacht.“

Das alles waren starke Worte und nicht nur Yüo war beeindruckt.

Sie nahmen noch von dem Tee und schlürften ihn schweigsam, denn es gab viel zum Nachdenken. Dann aber fragte Yüo:

„Herr, wie kannst du das alles über mich wissen? Soviel habe ich nun doch nicht von mir berichtet. Und dass ich mich zu einem der Götter erhebe, finde ich doch sehr gewagt.“

„Nun, du hast genug erzählt und außerdem sehe ich in deinen Augen, was dein Herz bewegt. Deine Augen sind sehr offen und sie flüstern mir ganze Geschichten über dich zu. Was die Götter anbetrifft, denke doch einfach mal darüber nach, ob du nicht manchmal Schicksal spielst.“

Noch ehe jemand vielleicht etwas sagen konnte, räusperte sich der Arzt und sprach doch recht unvermittelt:

„Wir wollen die Unterredung beenden. Ich habe dieses und jenes gesagt und es ist nun an dir, lieber Yüo, wie ich schon sagte, darüber nachzusinnen. Ich will dir nur anempfehlen, an dir zu arbeiten und Verantwortung für dein eigenes Tun zu übernehmen und auch innerlich erwachsen zu werden. Das merke dir gut: Du darfst glücklich sein. Es ist dir erlaubt und du bist ein Mensch und darfst Fehler machen. Lasse die Wahrheit in deinem Leben zu. Den Gottheiten gegenüber, den Mitmenschen gegenüber und vor allem – dir selbst gegenüber.“

Yüo sah Zhiliao mit großen Augen an. So, als könne dieser seine Gedanken lesen, sprach er noch:

„Wenn du das Böse in dir suchst und findest, wenn du ihm offenen Auges begegnest und es als zu deinem Leben als dazugehörig siehst, dann hast du angefangen, es zu überwinden, dann bist du dabei, die Götter und dich selbst zu finden. Denke daran: Die Dämonen in uns können wir nicht töten – wir können uns nur mit ihnen versöhnen. Das ist der Sieg über das Böse.“

Wir müssen uns umdrehen und den Stier, der uns verfolgt, küssen.

Sie blieben die Nacht im Hause des Heilers. Am frühen Morgen des nächsten Tages, zur Stunde des Drachens, brachen sie auf, nicht aber, bevor sie im nahe gelegenen Tempel ein Gebet gesprochen und zwei Butterkerzen entzündet hatten. Während der Heimreise – abends am Feuer – besprachen sie das, was ihnen der Seelenheiler gesagt hatte. Am dritten Tag begann es, zu schneien. Als Bang-Zhu und Yüo Golmud erreicht hatten, lagen die Stadt und das Kloster unter einer frischen Schneedecke. Yüo liebte diese Jahreszeit und er liebte die weiße Hülle des Winters, spiegelte sie doch eine Grundstimmung seiner Seele wieder. Wie der Schnee das Brachland bedeckte, so machten Verdrängung und heimliche Lüge die Wahrheit unsichtbar – zumindest für eine Zeit lang. Es vergingen die Monate. Doch im Leben des werdenden Mönches gab es keine gute Veränderung. Obwohl er genau gehört hatte, was der Mann aus Qarhan gesagt hatte und er sich nach getaner Arbeit auch hin und wieder mit Bang-Zhu beriet – sein Herz schien für all dies verschlossen.

Beim Herrn des Klosters (2) (28)

Am Ende des ersten Lehrjahres, im letzten Frühlingsmonat, rief der Da Daoshi den Sohn des Bauern Ku zu sich. Dem Tempelfürsten war wohl zu Ohren gekommen, wie sich Yüo im Laufe der Zeit entwickelt hatte. Aus einem scheinbar seelisch starken jungen Mann war ein zutiefst verunsicherter und niedergeschlagener Mönchsschüler geworden. Ein begeisterter Verfechter des Götterglaubens wurde nun von den Dämonen geschüttelt. Der Suchende hatte nicht gefunden, was er wünschte, sondern war auf der Flucht vor sich selbst. Als Yüo zu dem Meister eingetreten war, bemerkte dieser, wie das Blut aus Wangen und Stirn seines Schützlings gewichen war. Der Sohn des Bauern Ku litt scheinbar nicht nur in seiner Seele. Die innere Krankheit hatte auch den Körper in Mitleidenschaft gezogen. Nun aber, in dem blassen Gesicht des Novizen, waren die verwachsenen Narben über dem Auge und auf der rechten Wange in einem schwachen Blau und Rot deutlicher als sonst zu erkennen. Bei diesem Anblick war dem Da Daoshi erneut, als kenne er Yüo irgendwo her. Manchmal des Nachts auf seinem Lager hatte der Abt über den jungen Mann von der Rong-Steppe nachgedacht, wenngleich es natürlich auch noch andere Probleme im Kloster gab. Ihm war aber bisher nicht eingefallen, weshalb ihm der Junge so nahe ging, doch er hoffte, es würde noch geschehen.

Tempelfürst und Schüler befanden sich beide in dem heiligen Raum, wo sich ihre erste Begegnung vollzogen und wo der Herr über die vielen Mönche einst auch Luanxing, Guang und Jiao empfangen hatte. Yüo wollte sich dort niederlassen, von wo er früher nach seiner Ankunft im Kloster den Worten des großen Lehrers lauschte. Doch als der Vorhang im Torbogen zurückgefallen war und sich der junge Mann zu seinem Platz begeben wollte, winkte ihn der Da Daoshi zu sich. Yüo verharrte. Der Fürst wiederholte seine einladende Geste und der Sohn des Bauern Ku richtete mit ungläubigen Augen die Fingerspitzen seiner Rechten auf sich.

„Ich, Herr?“

„Ja, du!“,

bedeutete ihm der Meister mit einem kurzen Kopfnicken. Niemals in den nun über dreißig Wintern und Sommern, seit der einfache Mönch Caifeng-Pidai zum Tempelfürsten erkoren wurde, durfte ein Mensch neben dem Oberhaupt sitzen, obwohl er Platz für zwei bot. Weder die Unterpriester, noch die in das Land Gesandten vor ihrer Abreise, weder die Vertreter des Kaisers, noch die Vorsteher irgendeiner der vielen Provinzen im Reich, durften sich neben ihm niederlassen. Doch nun, innerhalb von wenigen Monaten, war der junge Yüo der Zweite, den der Da Daoshi in seiner unmittelbaren Nähe duldete, ja, es so wollte. Zuvor war es der fremdländische Guang gewesen. Dieser hatte dem Tempelherrn dabei in einem Gespräch erzählt, was er ihm noch schuldig geblieben war. Von den üblen Gerüchten, die um seine Geburt rankten, hatte er berichtet und von dem Wunder, das seinem Bruder Jiao das Erdendasein ermöglicht hatte.

Was genau es bei Guang gewesen war, ihn an seine Seite zu bitten, erkannte der Tempelfürst bis heute nicht. Aber sein Herz wäre nicht zur Ruhe gekommen, hätte er nicht so gehandelt. Indessen bei Yüo spürte der alte Meister, dass dieser junge Novize nicht der war, der er hätte sein können. Der Fluss des Heils und des Segens, die Bahnen von Kraft und Frieden waren verknotet und vermauert. Aber der Da Daoshi wusste von der tiefen Liebe Yüos zu den Göttern. Sie war da – mehr noch als bei allen anderen seiner Schützlinge. Er spürte die bedeutungsvolle Gunst der Götter zu dem Jungen mit den beiden Narben. Yüo versprühte eine besondere Wirkung und Caifeng-Pidai war sich sicher, dass sein Schüler es selbst gar nicht merkte. Es war die Aura der Schutzbedürftigkeit und auch der besonderen Segnung von oben. Ein Blick in seine Augen sagte alles. Allein, Yüo schien sich dessen tatsächlich nicht bewusst zu sein. Womöglich war das gut so, zu seiner Sicherheit. Der Abt wusste genau, dass sein Herz ihn nicht täuschte: Dieser junge Mann musste seinen Weg bereits vor vielen Jahren gekreuzt haben. Caifeng-Pidai war einst selbst ein schüchterner Mönch gewesen, der unauffällig und zurückhaltend Lehrstunden und körperliche Arbeit hinnahm. Niemand, wohl wirklich niemand hatte geglaubt, dass er in die Fußstapfen des hochverehrten und heiligen Abtes Waizufu treten würde. Dieser hatte zuvor über fünfzig Jahre die Geschicke des Klosters geleitet und endlich den Bau der heiligen Stätte abgeschlossen. Dennoch war sein Dahingehen für alle überraschend gekommen. Sieben Tage nach dem Begräbnis des Alten kam die Versammlung der Brüder zusammen und man bestimmte den jungen Caifeng-Pidai zu seinem Nachfolger. Dieser betrachtete sich nicht als würdig für das ihm zugesprochene Amt. Doch die anderen ermutigten ihn dazu und sprachen ihm ihr Vertrauen aus.

Das Kloster der Adler aber war einst während der Regentschaft des Kaisers Han Wudi gegründet worden. Der damalige Präfekt sandte den Grundstein für den heiligen Bau, der mit diesen Worten versehen war:

‚Wer einen Tempel baut, dem bauen die Götter ein Haus in der Ewigkeit.’

Nun, unter der weltlichen Macht des Kaisers Wang Mang, war er der Tempelfürst und es war ihm ein Verlangen, dem geschüttelten und scheinbar von Yin und Yang verlassenen jungen Novizen etwas von der selbst erfahrenen Güte weiter zu geben. Yüo setzte sich etwas zögerlich auf den Thron. Wieder war der Raum gesättigt von dem Duft der entzündeten Hölzer, deren Rauch in kunstvollen und nicht vorher bestimmbaren Schleifen hinauf zur Decke zog und es schien, als wolle der Drache durch sein geöffnetes Maul die Schwaden in sich aufsaugen. In den Öllampen flackerte das Feuer. Einem bronzenen Gefäß entströmte der Geruch von verbranntem Tannenharz. Vor ihnen standen zwei Schalen aus Porzellan und eine kunstvoll geformte Kanne aus demselben. Der Abt hob seine ausgebreiteten Arme und sprach dies Gebet:

„Willst du etwas schmaler machen,

musst du es sich vorher weiten lassen.

Willst du etwas loswerden,

musst du es vorher blühen lassen.

Willst du etwas nehmen,

musst du es zuvor geben.

Das Weiche überwindet das Harte.

Das Langsame überwindet das Schnelle.

Lass dein Wirken ein Geheimnis bleiben.

Zeig den Menschen nur das Ergebnis.“

Nachdem Yüo sein ‚shide shi’ gesprochen hatte, beugte sich der Da Daoshi vor und gab ein wenig von dem Wulong in die Schale seines Gastes. Desgleichen tat er bei sich. Beide nahmen einen kleinen und vorsichtigen Schluck von dem köstlichen Tee. Dann legte der Alte seinen rechten Arm um den Yüo. Er war sich im Klaren, dass das, was er nun sagen würde, nicht mit dem in Einklang war, was er gelernt hatte und was er selbst lehrte. Er, der Hüter der drei großen Säulen und Wahrheiten und Verkünder von Shan, Zen und Ren - von Barmherzigkeit, Wahrheit und Nachsicht. Aber es gab Zustände im Leben, die ein Abweichen von all dem, was die heiligen Schriften sagen, notwendig machten und die zeigten, dass nichts in dieser Welt allumfassende Gültigkeit hat.

„Mein Sohn“, begann der Tempelfürst. Er schaute zur Seite, Yüo in die Augen.

„Du hast nun fast ein Jahr in diesem Kloster verbracht und es deucht mir, die nächsten beiden hier bei uns müssen anders werden. Du bist nun heute Gast bei mir, weil ich dir für die Zukunft einen guten Rat geben will.“

Er nahm die Rechte zurück, legte beide Hände in den Schoß und blickte nach dort. Yüo aber schien erleichtert. Er hatte erwartet, dass ihn der Abt vielleicht bitten würde, das Kloster wieder zu verlassen, um zu seiner Hütte zurückzukehren. Er selbst zweifelte ja des Öfteren an der Richtigkeit seines Hierseins und er war zornig geworden, weil ihn sein Herz wohl belogen hatte. Oder war es einfach so gewesen, dass der Wunsch, dem Luanxing und seinen beiden Begleitern zu folgen, so stark war, dass er die Wahrheit seines Herzens nicht mehr erkennen konnte?

Xiong you cheng zhu – wer Bambus malen will, der trägt schon das Bild in seinem Kopf!

Nun aber - die Worte seines Herrn ließen Licht in seine Seele kommen und ihm ward wohl ums Herz. Während Yüo so hin und her dachte, wandte sich der Klosterherr ihm wieder zu und fuhr fort mit seinen ernsten und ruhigen, aber einfühlsamen und liebevollen Worten.

„Siehe, mein Anbefohlener, hier in diesen Mauern leben viele Menschen mit den verschiedensten Aufgaben. Die einen sind Schüler, die anderen Lehrer, wieder einige sind Arbeiter oder stille Beter. Manche sind Gäste für ein paar Tage, manche ziehen noch am Abend weiter. Doch jeder hat seinen Platz und seine Verantwortung und jeder von ihnen tut sein Werk in Bescheidenheit, in Ruhe und in Sanftheit. Alle aber sollen dabei auf den anderen achten, ihm raten, ihm zuhören, ihn unterstützen, ihn ermahnen, ihm tatkräftig helfen. So, wie eine Kette nur dann entsteht und Bestand hat, wenn jedes Glied in das andere greift, so kann unsere Gemeinschaft nur im Miteinander gelingen. Doch du stehst am Rande, du glaubst, nicht wichtig für dieses Kloster zu sein. Deine Seele hat sich zusammengezogen, dein inneres Feuer ist wie der glimmende Docht der Butterlampe.“ Der Da Daoshi ließ eine Pause folgen. Yüo empfand die Worte sehr wohl als Tadel, aber sie waren angesichts der Tatsache, dass er nicht von hier fortgeschickt wurde, erträglich. Der junge Novize nickte also dem Herrn demütig zu und dieser sprach so weiter zu ihm:

„Trotzdem, auch wenn du am Rande dich befindest, so fällst du doch in diesen heiligen Mauern auf und vielleicht gerade deshalb. Schau, jeder Fluss auf dieser Erde, ob er groß und mächtig, ob er klein und unscheinbar ist, verliert seinen Namen, wenn er in das Meer mündet. Sein Wasser geht über in den Ozean und trotzdem nimmt dieser weder zu noch ab. So sollte es eigentlich auch mit jedem von uns sein - gerade in der Gemeinschaft des Klosters, wo sich jeder still einfügt und das Leben innerhalb der Mauern so im Gleichmaß bleibt. Doch du bist wie ein eckiger Felsen in diesem Strom. Ja, auch du bist still – aber du bist zu still. Ab jetzt wirst du so leben, als seiest du der wichtigste aller Mönchsschüler in diesem Kloster.“

Yüo hatte aufmerksam und ergeben seinem Herrn zugehört. Bei dessen letzten Worten blickte er doch erstaunt und in seinen Augen blitzte es. Hatte der Abt nicht gerade noch davon gesprochen, sich selbst aufzugeben, um der Gemeinschaft unauffällig und still dienen zu können? Hatte er nicht im Lehrsaal immer von Bescheidenheit, Duldsamkeit und Zurückhaltung gepredigt? Und nun sollte er so tun, als wäre er der Bedeutendste von allen! Hatte er richtig gehört, hatte er genau verstanden, was der Alte auch meinte? Die Augen des Da Daoshis verrieten, dass er um den Gemütszustand seines Novizen wusste. Er ging aber zunächst nicht darauf ein, sondern fuhr mit einem lächelnden Herzen und doch ernstem Blick fort:

„Du wirst in der nächsten Zeit so leben, als wärest du der begabteste Arbeiter in den Werkstätten und der weiseste Beter vor den Altären. Lasse deiner Phantasie den Lauf des wilden Pferdes und lasse ihre Spuren für alle sichtbar sein. Fragt dich jemand um Rat, dann sage zu ihm, was du über diese Angelegenheit denkst. Wenn ihr als Schüler vor einer neuen Herausforderung des Lebens steht, scheue dich nicht, den ersten Schritt zu machen. Gehe bei der Arbeit im Klostergarten mit Pflanzen und Tieren so um, als seien sie deine Brüder und Schwestern. Und habe Acht auf deinen Bambusvogel, denn er ist – so bin ich sicher – ein Geschenk der Götter an dich.“

Der Tempelfürst wartete nun ab und schwieg, um seinem Gast Gelegenheit zu geben, das zu sagen, was zu sagen war. Yüo war sich nicht sicher, was er antworten sollte. Er hatte große Ehrfurcht vor dem Alten und wollte ihn nicht durch eine falsche Bemerkung in Beschämung bringen. Außerdem hatte ihm die Bemerkung zu dem Niau-Zhuzi einen Stich ins Herz gegeben, denn als eine Gabe vom Himmel sah Yüo den gelben Vogel schon lange nicht mehr. So schwieg der Novize und sein Gesicht bekam Röte. Erst als der Alte ihm noch einmal Mut machend zunickte, sprach Yüo:

„Herr, verzeih, wenn ich so rede. Ich fürchte, dich nicht richtig verstanden zu haben. Wenn ich deinen Rat befolgen würde, dann kann ich mein Werk nicht in Sanftheit, in Ruhe, Stille und Zurückgezogenheit tun; dann kann ich nicht gleich einem der Flüsse sein, von denen du im Gleichnis sprachst. Verzeih, aber meine Sinne sind deswegen verwirrt.“

„Ja, mein Sohn, das glaube ich dir gerne. Aber du bist noch nicht soweit. Denke an mein Gebet, das ich anfangs gesprochen hatte.

Du musst erst das Eine ausleben, um das Andere mit Leichtigkeit und ohne Wissen befolgen zu können. Die Wahrheit ist ein Widerspruch.“

Zögernd nickte nun der junge Novize.

„Herr, glaube mir, wie ich mich meiner Entwicklung, seit ich in Golmud bin, schäme. Ich wünschte, die Dinge wären in eine andere und bessere Richtung gelaufen. So ist es auch mit dem Bambusvogel. Ich ...“

Der gütige Meister aber ließ seinen Schüler nicht aussprechen, sondern hob einhaltend die Hand und sprach:

„Erinnerst du dich, wie der Gattin des Kaisers zur Zeit der Streitenden Reiche eine versponnene Raupe gereicht wurde, und wie ihr diese in den Tee fiel?“

„Herr, davon habe ich bisher nicht gehört.“

„Nun, denn vernehme, was geschah.“

Der Tempelherr nahm noch einen Schluck von dem Cha und der Novize tat es ihm gleich.

„Was ereignete sich dann? Als die hohe Frau die Raupe aus der Schale herausfischen wollte, zog sie einen endlos scheinenden Faden hervor. So entdeckte sie die Seide. Wisse, dass auch dein gegenwärtiger Zustand schon morgen eine Wende zum Guten nehmen kann, glaube daran. Noch etwas will ich dir sagen: Höre auf damit, den Göttern für den Bambusvogel zu danken. Vielmehr schenke ihm jeden Tag ein Stückchen mehr an Zuwendung.“

„Ja, Herr, du hast recht. Zwar hatte ich von dir bisher nur von Demut und Bescheidenheit, Ruhe und Gelassenheit gehört, aber ich will deine Worte gerne befolgen und den Weg im Vertrauen gehen, den du mir gewiesen hast. Auch deine Rede über den Bambusvogel will ich beherzigen. Danke dafür.“

Der Da Daoshi nickte.

„Ja, denn bisher war alles Wissen nur in deinem Kopf. Es soll aber auch in dein Herz vordringen und Teil von dir werden. Ich bin gewiss, die Zeit dafür wird kommen und auch das, was bei dir in Vergessenheit geraten ist, wird wieder gegenwärtig sein.“

Yüo nickte und der Meister ließ eine kurze Pause folgen. Dann aber sprach er so:

„Neben allen deinen Pflichten und Angelegenheiten in diesem Kloster solltest du dir auch noch eine Aufgabe suchen, die nicht nur für uns alle dienlich ist, sondern dir selbst auch etwas zur persönlichen Erbauung bringt. In den Abendstunden, wenn die geforderte unsichtbare aber auch wägbare Arbeit erledigt ist, könntest du dich dieser Sache widmen.“

„Herr, dies ist ein guter Gedanke. Würdest du mir ein kleines Stück des Gartens gewähren, dort wo die Kastanien ihre Schatten am Abend werfen? Gerne würde ich dann dort Kräuter der Heilung pflanzen und sie studieren, damit sie uns noch mehr Linderung und Genesung schenken können.“

Der väterliche Herr schien einen Moment zu überlegen und ein kaum merkbares Lächeln umspielte für einen kurzen Moment seine Lippen. Er nickte gütig und sprach:

„Ja, jedoch möchte ich dir die kleine Parzelle bei den Kiefern geben, denn bei den Kastanien arbeiten schon andere Novizen – wie du vielleicht weißt.“

„Das wusste ich nicht, Herr, aber wenn es möglich ist, bitte nicht bei den hohen Kiefern.“

Nun sah der Da Daoshi in den Augen seines Schutzbefohlenen Angst aufblitzen und er fragte ihn:

„Warum nicht?“

„Herr, sie erinnern mich an ein schreckliches Erlebnis in meiner Kindheit.“

Caifeng-Pidai stutzte und sagte nichts. Denn in diesem Moment wusste er, wer der junge Schüler war. Er erkannte in ihm den kleinen und verletzten Buben wieder, jenen, den er auf die Bitte des Vaters hin gesegnet hatte. Sein Herz floss deshalb über von Liebe und Dankbarkeit. Ja, er war es, den er einst mit Öl gesalbt hatte. Er hätte den Yüo jetzt gerne umarmt, sich zu erkennen gegeben, mit ihm geweint und sich gefreut. Aber das wäre nicht im Sinne der Götter und auch nicht gut für ihn gewesen und womöglich schädlich für den werdenden Mönch. So tuend, als wäre er unberührt, sprach er stattdessen:

„Ich werde mit dem Gärtner reden. Vielleicht ist bei der Gruppe von Birken noch Platz.“

Als Yüo den Empfangsraum verlassen hatte und die Dienermönche das Teebesteck wegräumen wollten, schickte der Abt sie hinaus und ließ seinen Tränen hemmungslos den Lauf. Ja, sein Herz hatte ihm die Wahrheit gesagt. Der tot Geglaubte war am Leben. Welch ein Wunder der Götter vor seinen Augen und welch ein Beweis ihrer Liebe.

Von der nördlich gelegenen Stadt Dunhuang aus hatten die Truppen des Kaisers den Schutzwall des Reiches gut zweihundert Li nach Nordwesten weiter bis zur Siedlung Yumenguan getrieben. Hier aber am westlichen Ende des Ortes versperrte den Erbauern ein Bergrücken aus purer weißer Jade den weiteren Weg. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als ein Tor in den Felsen zu schlagen. Dieses Vorhaben kam dem Kaiser zu Ohren und er machte sich von der Hauptstadt Chang-An auf eine monatelange Reise, um selbst das gewaltige Bauwerk einzuweihen. Ein ganzer Tross von Reitern, Bogenschützen und hohen Beamten und die schönsten seiner Konkubinen begleiteten den Machthaber auf dem Weg. Angekommen in Yumenguan, durfte der Kaiser mit einem silbernen Hammer und einem Bronzekeil das letzte Stück Fels wegsprengen und damit dieses prächtige Bauwerk in Gebrauch nehmen. Mit ihm war der erste Teil einer neuen Provinz geschaffen: Land, das den wilden Stämmen der Xiongnuren im Kampf abgerungen worden war. Die neue Provinz aber erhielt den Namen Xinjiang, was soviel wie ‚Grenzland’ bedeutet. Wer aber dieses westlichste aller Tore im Reich durchschritten hatte und weiter gegen Sonnenuntergang reisen wollte, betrat bald unbekanntes und feindliches Land. Obwohl auch schon Dunhuang selbst in eine unwirtliche Gegend gebaut war und für Reisende eine andere Gefahr barg. Diese Stadt war umgeben von Sümpfen in denen Myriaden von Mücken ein menschliches Leben unmöglich machten. Es gab nur eine befestigte Straße von Süden her, auf der Karawanen und Soldatenheere in den Schutz der Mauern gelangen konnten. Auf den Zinnen und entlang der Straße brannten Tag und Nacht von Pech und Schwefel genährte Feuer, um die Plage aus den Pfuhlen von Bürgern und Reisenden fernzuhalten. Von den weit sichtbaren Flammen hatte die Stadt auch ihren Namen erhalten. Gleich hinter den Stadtmauern – jenseits von Dunhuang - ging eine Straße hinauf in das Gebirge. Die Pfade wurden enger und gefährlicher. Als sie auf den Bach, der ihnen auf ihrem Weg in die Berge entgegenfloss, stießen, hatten sich Guang und Jiao den Sud des Tabaks, der sie vor den Mücken schützen sollte, von Hals, Gesicht, Armen und Händen gewaschen. Beide hatten beschlossen, sich auch weiterhin bei den Namen zu rufen, die ihnen einst der Wandermönch, Luanxing, gegeben hatte. Guang hieß eigentlich Joshua und Jiao war von seinen Eltern Johanan genannt worden. Joshua aber bedeutete soviel, wie ‚der Herr ist Hilfe und Rettung’, und Johanan meint ‚der Herr ist gnädig gewesen und ist gnädig’. Manchmal, wenn sich die beiden stritten, oder heftig debattierten, wenn sie ausgelassen waren und wie Kinder alberten oder wenn es um eine gar sehr ernste Sache ging, dann kehrten sie zu diesen Namen zurück. Auch in ihren Träumen waren sie immer noch Joshua und Johanan. Auf ihrem Marsch weiter bis zu ihrem vorläufigen Ziel blieben die beiden im Schutze von Zhong Guo, denn das Pferdehufkloster lag noch diesseits der großen Mauer. Schon einmal waren sie hier bei den Mönchen gewesen, damals, als beide mit dem Luanxing von Tienchou auf dem Wege nach Golmud gewesen waren. Doch nun wollten sie nach Westen.

Nach dem sie das Pferdehufkloster erreicht hatten, blieben die beiden noch zwei Monate bei den Mönchen hier am Rand des Reiches. Als sie wenige Tage vor ihrer Weiterreise mit wehendem Haar auf dem Glockenturm standen und sich westwärts wandten, sahen Guang und Jiao nichts als Steppe und öde Wüste. In Dunhuang, das zwei Tagesritte entfernt lag, hatten sie als Gehilfen eines reichen Kaufmannes von ihrem Lohn zwei zottelige Yaks in der Stadt erworben. Auf diesen waren sie nun auf gewundenen und staubigen Pfaden hinauf zu diesem Ort gekommen. Wäre es noch fünfhundert oder sechshundert Chi weiter in die Höhe gegangen, dann hätten sich leichte Schmerzen zwischen ihren Schläfen bemerkbar gemacht. Deshalb hatte der Gründer des Klosters die Stätte hier, wo das Altun-Shan sich zum Sonne-Mond-Pass hin öffnet, in die Felsen gebaut. Die rot getünchten Mauern des Klosters erstrahlten im Licht des Abends. Mit ihrer Rechten schirmten die Weitgereisten ihre Augen gegen die tief stehende Sonne ab. Der Blick in die Ferne war wohl wunderbar aber auch furchterregend. Linker Hand am Horizont zog sich die Gebirgskette entlang, zu deren Füßen sie damals gemeinsam mit dem Wandermönch, vom Tigermaul-Pass herkommend, hierher gereist waren. Auch rechter Hand zog sich eine Gebirgskette Richtung Westen hin und an ihr lag die wunderbare Oase Turfan. Die klare Luft des Frühsommertages erlaubte es ihnen, fast endlos zu schauen. Vor ihnen weitete sich zunächst die Steppe, flaches Land, mit kurzem und hartem Gras, zwischen dem die Tamarisken, Sauxal und der Kameldorn wuchsen. Die Savanne verwandelte sich später in eine Wüste von braunem mit Steinen übersätem Sand; eine Gegend, in der das Leben schwer war und bis zu der das Auge reichte. Anfangs gab es dort noch vereinzelt ein paar Schafstelzen und Steppenflughühner, Gerbillen, Springmäuse und lästige Insekten. Wird ein Wanderer von diesen Kerbtieren gebissen oder gestochen, dann nehme er von den getrockneten Blättern des Bitterkrautes, kaue kurz darauf und lege davon auf die Wunde. Sehr schnell erfolgt dann Linderung – das Blut gerinnt und die Schmerzen lassen nach.

Doch dann, hinter dem Horizont – so war es vorsichtig von den Bewohnern des Klosters erzählt worden - verwandelte sich das Land bis hin zu einem großen See in eine Salzwüste. Diese Öde, die kein Leben und keinen Schatten kennt, wurde auch von den Mutigsten gemieden und es gab nur wenige, die aus dieser Gegend zurückgekehrt waren. Deshalb rankten sich viele und wilde Geschichten um diese Wüste. Es gab wenige verwegene Männer, die behaupteten, dort in dem Nichts würde es an verborgenen oder schwer zugänglichen Orten Gold und Silber in Fülle geben. Wer immer es aber einsammelte, um es nach seiner Heimat zu bringen, der sei samt dem Schatze verloren gegangen, irre noch immer zwischen den heißen Sandbergen herum oder sei völlig verarmt und ausgemergelt und fast unkenntlich wieder nach Hause gekommen. Das Wasser aber des Sees konnte keinem Menschen helfen, denn zwar hatte er von Norden her den Tarim als Zufluss, lag aber so tief in einer Senke, dass nicht ein Tropfen ihm entweichen konnte. Allein der Wind trug das von der erbarmungslosen Sonne verdunstete Wasser in unsichtbaren Wolken hinauf zu den Eiskuppen der gegen Norden liegenden Berge. Außerdem konnte niemand wissen, ob der Tarim in diesem Jahr bis hin zu dem See Wasser führen würde. Es versickerte oft irgendwo zwischen Quelle und See im heißen Wüstensand. So dörrte die Himmelsglut den Lop Nur gnadenlos aus und zurück blieben Salz, Mineralien und andere Bestände.

Bis zu diesem Wasser aber gab es keine Oase und der See lag um etwas mehr als eine Dekade von Tagen von hier entfernt. An seiner nördlichen Spitze, so wurde erzählt, sollten ein paar Hütten stehen. War der Fluss bis hierher nicht versiegt, könnte ein Wagemutiger, ein Lebensmüder, ein Verrückter oder ein Ahnungsloser noch einmal neue Kräfte sammeln und seine Wasservorräte ergänzen. Wie es dann jenseits des Lop Nur weitergehen würde, konnte so recht niemand erzählen, denn es gab keinen Menschen, der davon zurückgekommen war und hätte berichten können.

Viele weitere Geschichten rankten sich um die Wüste. Die Öde sei bevölkert von dunklen Mächten, die das Reisevolk durch vielerlei betörende und lügnerische Visionen in die Irre zu leiten versuchten, wurde erzählt. Guang und Jiao hatten auch vernommen, dass manche der Sandberge jenseits des Salzmeeres bis zu tausend Chi hoch seien. Allein, sie konnten es nicht glauben. Dieses Becken von Tarim aber mussten Guang und Jiao irgendwie hinter sich lassen, um nach Tienchou zu gelangen. Es waren noch drei Tage der Vorbereitung, bis sie dann früh am Morgen, vor dem Aufgang der Sonne, aufbrechen wollten. Ein weiter und beschwerlicher Weg war es, der vor ihnen lag. Die Ödnis vor ihnen war im ganzen Reich bekannt als Wüste des unwiderruflichen Todes. Aber die Wüste Taklamakan war – dem Gott des Westens und den Göttern des Ostens sei gedankt - auf zwei Pfaden zu überwinden. Der Abt des Klosters hatte ihnen den Rat gegeben, Steppe und Wüste südlich auf dem ihnen schon bekannten Weg zu umwandern. Dieser Karawanenweg verlief nahe den Ausläufern des Kunlun-Gebirges, von dem Bäche von Schmelzwasser hie und da grüne Wüsteninseln entstehen ließen. Auch im Norden, entlang der Berge des Qilian - und für ein paar Tage im Schutze der Mauer - war es weniger gefährlich, das Tarim zu umgehen, denn auch an diesem Weg gab es zusätzlich lebenswichtige Oasen, von denen - wie schon erwähnt – Turfan die schönste war.

„In dieser Einöde leben nicht nur viele Dämonen, sondern es herrschen auch glühende Winde und die ihren Weg kreuzen, müssen sich vom Leben verabschieden“, hatte der Abt den beiden Reisewilligen gesagt, um dann fortzufahren:

„Es gibt dort weder gefiederte noch vierfüßige Tiere. Wohin der Wanderer auch schaut, sieht er nur Sand und Gebeine von Tieren und Menschen. Nur zwei kleine Brunnen verstecken sich zwischen dem Salzmeer und dem Ende des schaurigen Ortes und sie zu finden, ist nicht jedem geschenkt.“

„Was meinst du?“, sprach nun Jiao zu seinem Bruder, als sie so auf dem Glockenturm des Klosters standen.

„Welchen der beiden Wege sollen wir für unsere Reise wählen? Gehen wir nördlich oder gehen wir südlich?“

Der Angesprochene antwortete nicht sofort. Sein Blick war fest und entschlossen geradeaus gerichtet. Es war, als bete oder meditiere er. Guangs Gesicht schien hart wie Stein. So war es auch gewesen, als sich beide aus Golmud verabschieden wollten. Zunächst meinte Jiao, sie würden sich dem Luanxing nach Osten anschließen, bevor sie dann später in ihre Heimat zurückkehrten. Doch Guang stand mit festem Blick und wollte gleich gen Norden und dann nach Westen ziehen. Er hatte sich auch in den wenigen Monaten im Kloster von Golmud gewandelt, als wüsste er nun, wohin sein innerer und äußerer Weg ihn führen würde. Nie hatten sie bisher darüber ein Wort gewechselt und nie hatte jemand ihn danach gefragt, nicht Jiao und auch nicht der Wandermönch. So tat Jiao damals, was Guang wollte und auch Luanxing ließ es natürlich zu. Sollte es nun wieder so sein? Jiao gefiel es nicht, aber er wusste, dass er dem zustimmen würde, was sich der Guang in den Kopf gesetzt hatte.

„Hast du gehört, was ich dich fragte?“

„Ja doch, mein Bruder“,

antwortete Guang abwesend, aber auch etwas gereizt.

„Und? Ich jedenfalls schlage vor, wir ziehen südlich um die Wüste herum, wie der Abt uns auch geraten hat. Denn diesen Weg kennen wir.“

Guang schwieg immer noch. Dann meinte er trocken:

„Nun, es wird dir nicht gefallen.“

„Also nördlich, oder?“

„Wir reisen durch die Mitte.“

„Durch die Mitte!?“

Frage und Entsetzen lagen in diesen drei Worten.

„Willst du uns töten, mein Bruder? Auch du hast doch vernommen, was uns der Herr des Klosters gesagt hat. Niemals durch die Mitte!“

Aber für den Jüngeren der beiden schien es dabei zu bleiben. Er drehte bedächtig seinen Kopf zur Seite und sprach mit glühenden Augen:

„Wir werden es beide schaffen, denn unsere Hilfe kommt von dem, der Himmel und Erde hervorgebracht hat.“

„Nein“, versuchte der Jiao in gleicher fester und überzeugender Art zu sprechen,

„du forderst IHN heraus. Warum die Gefahr, wenn sie doch abzuwenden ist? ER wird nicht mit uns gehen!“

Sprach Guang:

„Lieber Jiao, keinesfalls will ich den HERRN reizen, denn du weißt, wie ergeben ich IHM bin. Aber erinnere dich der Predigten am Flusse Sind. Gerade in den letzten Monaten, während wir in Golmud und auch hier im Pferdehufkloster verweilten, hat sich mein Denken verändert. Mich treibt die Frage, was denn nun die Wahrheit ist. Blut und Opfer und strenge Gesetze, oder ist es der Weg des Prinzen, der uns Gewissheit gibt? In der Wüste will ich mich läutern, will leiden, will beten und fasten – und hoffe auf die Erleuchtung.“

Guang machte eine Pause und sprach dann so:

„Wenn es sein muss, wandere ich diesen Weg allein. Den Weg zur Wahrheit und zum gottgefälligen Leben will ich finden.“

Gewaltig waren die Worte des Guang. Sie waren aber auch gefährlich. Nicht nur wegen der vor ihnen liegenden Wüste, die zu durchqueren er sich vorgenommen hatte. Vielmehr war es die Lehre des Prinzen, die zu verinnerlichen der Guang im Begriffe stand und von der auch er, Jiao, angetan war. Sie widersprach nämlich den alten Schriftrollen der Väter auf das Schärfste. Wenn sie sich auch zu dieser Lehre hingezogen fühlten, so war Jiao doch der Meinung, es für sich zu behalten. Das aber, soweit verstand er seinen Bruder, war Guang nicht bereit zu tun. Seit über zwei Dekaden von Jahren nun waren sie Gefährten und Jiao erkannte auch jetzt: Guang wird sich von seinen Vorhaben nicht abbringen lassen. Aber keinesfalls ließe er ihn alleine ziehen. Was würden seine Mutter, was würde der Vater, was würden die Brüder und Schwestern sagen, wenn er ohne den Guang zurückkehrte? Jemand zog das Hanfseil und die kleine Glocke über ihnen rief hell zum Abendmahl.

‚Vielleicht’, so dachte Jiao,

‚sollte ich vor der Nachtruhe Dattelsamen statt Hirsebrei kauen und den grünen Tee mit ein wenig Lavendelblüten aufbrühen.’

Zum Schaden würde es nicht sein. Als sie die Stufen hinab stiegen, beugte sich Jiao ein wenig, stieß seinem Bruder mit der Schulter sanft in die Seite und sprach zu diesem:

„Natürlich wirst du nicht alleine gehen. Mit der Hilfe unseres Gottes werden wir auch dieses schaffen.“

Guang aber lächelte.

Zähne des Windes (30)

In den nächsten Tagen wurden die verschiedensten Arbeiten für das gefahrvolle Unternehmen verrichtet. Aus der Wolle musste mühselig Filz geklopft werden und aus ihm wurden dann die Bahnen für die Jurten und zum Lagern geschnitten und wieder zusammengenäht. Aus dem Hanf wurden etliche Seile ebenfalls für das Zelt und zum Führen der Tiere geflochten. Die Mönche stellten auch Schläuche aus Tierdärmen und weitbauchige Ledertaschen aus den Häuten der Ziegen her. Guang und Jiao forderten davon mehr als die Brüder zu geben beabsichtigten. Diese dachten ja, dass die beiden Fremden auf einer der bekannten Fährten gen Westen wandern würden, und da gab es, den Berichten reisender Händler nach, doch im gewissen Abstand Quellen oder Brunnen und auch Herbergen, in denen Dinge gegen Geld erstanden oder getauscht werden konnten. So wurden sie zwar fragend, schwiegen aber. Guang und Jiao hatten sich nur dem Abt gegenüber geöffnet und ihm offenbart, welchen Weg sie gewählt hatten. Sie baten ihn aber deshalb um Stillschweigen. Der Abt war, wie auch der Da Daoshi des Klosters von Golmud, ein gütiger Mann, doch sprach er mit sehr ernstem Gesicht zu ihnen:

„Ihr seid von Sinnen“.

Aber er hielt sie nicht zurück.

Wie immer im Pferdehufkloster, so wurde auch am Abend vor der Abreise das Essen gemeinsam in der Speisekammer eingenommen. Jedoch war die Kost diesmal nicht so, wie an all den anderen Tagen. Statt Hirsebrei und noch warmer Ziegenmilch, statt Reisfladen und Tee, statt Kürbisbrot und Pflaumensaft, statt gedünsteter Auberginen und Essigwasser, gab es heute Hammelfleisch, Reis und Wein, kräftiges, dunkles Brot und schwarzen Tee. Chufang Chushi, der etwas dickleibige Küchenmönch, hatte am Tag zuvor zwei Schafe geschlachtet. Das eine mit einem gezielten Schnitt in die Kehle, damit es ausbluten konnte. Er wusste, dass Guang und Jiao das Fleisch nur so zu sich nahmen. Ihre Gesetze, so hatten sie ihm offenbart, würden dies so vorschreiben. „Nun gut,“ sagte sich der Koch, „ihnen entgeht damit manche leckere Speise. Aber was eines jeden Gott sagt, sollte ein jeder auch tun.“ Das andere Schaf jedoch tötete er auf die herkömmliche Weise, so, wie sie es hier immer taten. Der Bauch des noch lebenden Tieres wurde aufgeschlitzt und mit einem gekonnten schnellen Griff das Herz zusammengepresst. Dieser Tod sollte, so sagten es die Überlieferungen, schnell und schmerzlos sein.

Beide Schafe wurden getrennt zubereitet. Aber anschließend nahm der Chushi ihrer beider Därme und füllte diese mit dem geronnenen Blut des einen Tieres, mit Fett und mit Haut beider und mit Salzlauge. Aus den nun prallen Eingeweiden wurden anschließend Würste geschnitten und von Chufang Chushi in den Räucherofen des Klosters gehängt. Das Abendmahl war köstlich. Immer wieder war ein ‚Ah’ oder ‚Oh’ und das befriedigende Rülpsen zu vernehmen. Gegen Ende des Essens nun nahm der Herr des Klosters sein Gefäß mit dem Wein und sprach:

„Lasst uns noch einmal die Schale erheben und trinken, denn westwärts gibt es keine Freunde mehr.“

Sie nahmen einen Schluck vom Wein und setzen die Gefäße hörbar ab. Es mundete köstlich, denn die Trauben waren an den südlichen Mauern des Klosters, in den wolkenlosen Tagen des Spätsommers und des langen und kühlen aber sonnenreichen Herbstes, gut gereift. Dann sprach der Klosterherr zu Guang und Jiao gewandt:

„Mögen aber die Götter - und euer Gott - mit euch sein.

Es soll die Glut der Sonne das Haupt

der Wanderer nicht verbrennen;

Skorpione und Nattern seien ihnen fern;

das Wasser in den Gebeinen der Pilger wolle nicht versiegen;

es treffe sie nicht die Berührung von Hornissen,

Bremsen und Mücken;

fern sei von den Gästen des Gelben Volkes,

Sturm, Gewürm und Schwärme von Heuschrecken

und die Seele der Reisenden lasse ihre Flügel immer ausgestreckt.“

Im Schleier des nächsten Morgens - noch vor Sonnenaufgang - verabschiedete sich die kleine Karawane von dem Kloster. Die Brüder und der Abt waren mit ihnen aufgestanden, herzten und umarmten sie und ließen sie dann ziehen. Auch wenn nur Gäste, so waren Guang und Jiao den Mönchen doch sehr ans Herz gewachsen. Da sie aber nicht nur Besucher, sondern auch fleißige Mitarbeiter gewesen und den Mönchen zur Hand gegangen waren, bekamen sie als Gegenleistung dafür zwei Kamele, auf denen sie reiten und die Lasten tragen konnten. Die Sättel der Kamele waren mit Stroh gefüllt und dienten somit neben der Bequemlichkeit für die Reiter auch als Nahrung für die Tiere. Zu beiden Seiten der Kamelrücken hingen die großen Wassertaschen aus Ziegenhäuten sowie die Säcke, gefüllt mit Reis, Hirse, Pemmikan, Mehl und die Filzbahnen für die Jurte. In den Stecktaschen der Sättel befanden sich viele wertvolle Utensilien und Werkzeuge für die Reise. Zusätzlich waren die beiden Yaks, auf denen sie gekommen waren, ihre Begleiter. Auch sie trugen Wasserschläuche und das Gestänge und die Teppiche für die Jurte. Außerdem waren an ihren Packsätteln, die ebenfalls mit Stroh gefüllt waren, noch Beutel und Säcke voll mit Datteln, getrocknete Trauben, Hirse, Nüsse und Mais befestigt. Für jedes Kamel gab es noch ein kleines Fass, voll mit Sesamöl und einen Beutel Schalen derselben Frucht. Wenn man den Kamelen täglich von dem Öl eine Tasse zu trinken und ein paar Schalen zum Knabbern gab, konnten sie wohl einen Monat ohne jede andere Nahrung auskommen. Das Stroh der Sättel konnte dann in Zeiten der Knappheit vor allem als Futter für die beiden Yaks dienen.

Von den mit Innereien und Blut gefüllten Därmen wollten die beiden Rundaugen nicht nehmen. Doch Chufang Chushi bat sie so hartnäckig, dass sie schließlich davon einige in den Jutetaschen verstauten, auch um den Mönch nicht zu beleidigen. Sie beschlossen aber, diese später wegzuwerfen. Obwohl der Küchenmönch wusste, dass ihre Vorschriften ein solches Mahl nicht vorsahen, beharrte er darauf und er sagte:

„Das Leben in der Wüste Taklamakan ist zu grausam für solch harte Gesetze.“

Die Tiere hatten am Morgen reichlich getrunken. Vor allem die Kamele konnten bis zu hundertfünfzig Sheng in sich aufsaugen. Sie tranken, als spürten sie ihre Verantwortung. Ihre Höcker standen aufrecht und waren reichlich von Fett geschwollen. Das Langhaarfell des Winters hatten sie bereits abgelegt. Damit die Kamele auch zu lenken waren, hatten die Mönche ihnen Holzpflöcke durch die Nasenknorpel getrieben. Guang und Jiao waren für die lange Wanderung gerüstet.

Für den Abstieg hatten es die beiden Reisenden vorgezogen, nicht auf ihren Tieren zu reiten, sondern diese an Stricken zu führen, um sie an den Schrägen bremsen zu können. Jeder von ihnen lenkte eines der Kamele. Als die Sonne um den Bergrücken gelaufen war, hatte die Gruppe den Abstieg fast geschafft. Die schmalen Pfade hinab vom Kloster waren bisher nicht immer befestigt gewesen und oft hatte das Geröll nachgegeben. Dann rutschten Tier und Mensch mehr, als dass sie festen Schrittes gingen. Jiao und Guang bewegten sich, das Zaumzeug fest um ihre Handgelenke gebunden, vorsichtig an den Flanken der Tiere. Immer wieder bohrten sie ihre lederbesetzten Filzschuhe in das unsichere Gefälle, um nicht zu stürzen. Die Yaks konnten sich selbst überlassen werden, denn sie kannten sich mit Geröllhalden, steinigen Wegen und abfallenden Feldern voller Schotter gut aus. Bergziegen blickten neugierig über Felskanten und schreckten zurück, wenn eines der Kamele wegen eines Stockschlages blökte. Murmeltiere harrten mutig in aufrechter Pose aus, um dann kurz vor Tuchfühlung mit den Menschen und den mächtigen Vierbeinern in der Erde zu verschwinden. Bussarde, Habichte und Adler ließen sich vom Aufwind in den türkisblauen Himmel treiben und unter ihnen in der Ebene trieb der Wind Fontänen von Sand vor sich her. Als die kleine Karawane sich nun der Ebene näherte, wurden die Wege gangbarer. Die Gegend war jetzt mit leidlichem Gras bewachsen und der Boden war sandig. Hier und da wuchsen herrliche Blumen und Sträucher von brandgelbem Ginster säumten den Pfad. Die Felsen wichen bald ganz zur Seite zurück. Der Boden war nun mit dichtem, aber hartem Gras, mit Tamarisken, Sauxal und Kameldorn bewachsen. Dann und wann musste sich die Karawane zwischen Gruppen von Büschen und Gesträuch, wie ein Schiff zwischen Inseln hindurchbewegen. Dann wieder blieben Buschwerk und Steppengras ganz aus und der Wind konnte sich in dem losen Sand verfangen und mit ihm spielen. Dieser Wechsel von gelbgrünem Gras, Gesträuch und Sandflächen überzog die Steppe wie ein löchriger Teppich. Das Gras aber war spitz und scharf und es war sehr widerstandsfähig. Im Kloster gab es so manchen Korb und manche Matte, die aus ihm geflochten war. Doch die Tiere gingen sicheren Schrittes. Die Füße der Kamele waren durch dicke Schwielen geschützt und gaben bei jeder Berührung mit dem Boden ein wenig nach. Ebenso widerstanden die harten Hufe der Yaks der Savanne. Guang und Jiao ritten nun auf ihren Tieren und saßen wie in Sesselpolstern auf den Strohballen. Dann und wann wurden ein paar sandfarbene und zerzauste Flughühner oder Wachteln aufgescheucht, und gelb-schwarze Salamander huschten vor den Hufen in das höhere Gras. Die Pilger sahen auch grauen, zu Stein gewordenen Kamelmist längst vergangener Tage. Von Nordwesten wehte ihnen ein leichter Wind entgegen. Guang und Jiao schaukelten nun auf ihren Tieren und ließen im Rhythmus der Schritte den Treiberstock auf ihre eigenen Schenkel klopfen. Ihre Blicke waren aus Schutz vor der grellen Sonne nach unten gerichtet. Trampeltiere kennen ihren Weg, auch jenen Weg, den sie bisher noch nicht gegangen sind.

Der Grund wurde nun lehmig und die Hufe der Tiere trommelten auf dem Boden. Als die kleine Karawane einige Stunden in die Savanne hinausgeritten war und die Sonne im Begriff stand, sich nach Westen zu neigen, wurde ganz unverhofft ein mächtiger Schatten auf die Fläche geworfen. Jiao und Guang blickten etwas erschrocken und ungläubig auf. Aus der Sonne heraus kam eine schwarze Wolke auf sie zu. Diese bewegte sich so schnell, dass es unmöglich die Ankündigung schlechten Wetters sein konnte. Auch einer der gefürchteten Sandstürme hätte ein anderes Warnzeichen als das einer lauen Brise vorausgeschickt. Sie hielten ihre Tiere mit einem kurzen ‚goule’ – halt ! - an und starrten geradeaus. In die Eintönigkeit der letzten Stunden hatte sich nun etwas Bedrohliches gemischt. Guang und Jiao richteten ihre Körper aufrecht im Sattel, beugten sich dann so weit es ging nach vorne und lauschten angestrengt. Jetzt vernahmen sie es deutlicher: Ein unheimliches Vibrieren war in der Luft, als würden tausend Klapperschlangen in der Ferne tanzen. In ihren Ohren klang es, als würde eine gewaltige Menge ausgerollten Pergaments die Steppe mit ihrem Rascheln erfüllen. Ja, es war nichts Gutes, was sich da zusammenbraute und auf sie zukam. Beklemmender wurde nun das Zischeln und schauriger die Stimmung. Es deuchte die Männer, als würde prasselnder Regen oder eine Herde galoppierender und ungezügelter Yaks sich nähern. Es war ein abgründiger Lärm.

„Es sind Heuschrecken! Schwärme von Heuschrecken“, schrie Jiao und deutete auf das erste dieser Tiere, dass sich in dem Sauxal rechter Hand niedergelassen hatte. Auch Guang sah es nun, schaute dann den Bruder an und nickte hastig. Beide wussten, was zu tun sei, denn diese Plagegeister waren ihnen nicht unbekannt. Doch jeder dieser Schwärme hatte seine eigene Erscheinungsform und brachte immer wieder andere Geräusche mit sich. Keiner von ihnen näherte sich so wie ein anderer zuvor. Es war immer wieder eine Überraschung – wenn auch eine böse!

Mit ihren Stöcken zwangen sie die Kamele in die Knie und sprangen noch während des Niedergangs von den Tieren. Ebenso mussten sich auch die Yaks zu Boden legen. Mit zwei, drei Handgriffen waren die Jurteplanen vom Rücken der einen und das Gestänge von dem der anderen Tiere gelöst worden, und ebenso schnell war das kleine, runde Zelt errichtet. Schon zwirnten die ersten der rotbraunen Plagegeister an ihren Ohren vorbei. Schon ließen sich weitere der besessenen Flügeltiere in den Tamarisken, den anderen Sträuchern und im Gras nieder. Heuschrecken können so klein sein wie Bienen oder etwas größer, ähnlich der Körper von Hornissen, oder gar die Maße von Blaumeisen annehmen. Diese Exemplare aber waren so groß wie eine menschliche Faust und sie trieben wie ein Nordweststurm über die Karawane hinweg. Guang und Jiao warfen die übrigen Filzbahnen über Kamele und Yaks, wobei sie darauf achteten, dass vor allem die Essensvorräte gut abgedeckt waren. Dann sprangen sie eilends in das Zelt und ließen die Filzdecke vor dem Eingang herunterfallen.

„Dem Herrn sei Dank, es ist noch einmal gut gegangen!“, schrie Jiao gegen den Lärm an.

Die Zähne des Windes klatschten gegen die Jurtewand und die übrigen Planen. Im grauen Licht des Zeltes hörten die beiden Abenteurer das betäubende Surren millionenfacher Flügelschläge, das Rauschen des nun entfachten Flugsturmes und das Geschmatze endlos vieler hungriger und gieriger Fressmäuler.

„Das Kloster, sie fliegen direkt auf das Kloster zu“,

rief nun Guang, fasste seinen Bruder an die Schulter und sah ihn dabei erschrocken an. Beide dachten an die mühevoll angelegten Terrassen außerhalb der Klostermauern, die Weinstöcke sahen sie vor sich und sie sahen den wunderbaren Kräutergarten des Chufang Chushi.

„Ja“, entgegnete der Jiao laut und fügte hinzu:

„Das tut mir leid. Aber diese Tiere fressen alles Gekraut, das ihnen in den Weg kommt. Vor ihnen gibt es kein Entrinnen.“

Es würde nicht lange dauern, dann hätte diese lebende Wolke den Gebirgszug ereicht. Noch war der Sturm nicht verebbt. Noch zischte und brodelte es. Etwas ungeduldig schob der Jiao den Filz zur Seite und musste gleichzeitig eines der gierigen Tiere mit der Hand zu Boden schlagen. Guangs Lippen aber bewegten sich, als würde er mit jemandem, der sich unsichtbar mit ihnen im Zelte befand, reden. Wenig später ebbte der Lärm ab. Es wurde still. Der wasserlose Regen war mit dem Klapperschlangenwind weitergezogen. So plötzlich wie der Sturm aufgezogen war, so plötzlich verstummte er auch.

„Es wird kein so großer Schwarm gewesen sein“,

sagte Guang, während er nach draußen eilte, und tat harmlos.

„Doch groß genug, um die Sonne zu verdunkeln ...“,

meinte Jiao etwas bissig und folgte seinem Bruder,

„ ... aber hatte der Klosterherr nicht für uns den Segen und Schutz vor diesem Geziefer erbeten!“,

ergänzte er dann dazu noch etwas spöttisch.

Guang hatte seine Schultern und Augenbrauen nach oben gezogen und ließ beide wieder zurückfallen. Seine Augen schalten den Bruder wegen seiner Art zu reden und er antwortete:

„Warte ab.“

Sie schauten nach Osten. Vor ihnen wurde die Wolke kleiner und näherte sich dem Gebirge, an dessen Hängen das Pferdehufkloster lag. Guang hob mit der Handfläche voran seine Rechte senkrecht zum Himmel und leise murmelte er:

„Fern seien von den Brüdern Sturm, Gewürm und Schwärme von Heuschrecken.“

Dann ließ er den Arm in Richtung des Klosters sinken und verharrte so. Die Tiere unter den Filzplanen gaben keinen Laut von sich. In der Luft lag immer noch das Vibrieren. Jiao wusste, dass sein Bruder eigenwillig und manchmal ein wenig verstellt war. Aber er hatte auch erlebt, wie sich bedrohliche Zustände auf seine Gebete hin plötzlich zum Guten wenden konnten, so auch jetzt. Denn am Fuße des Gebirges angekommen, teilte sich der Schleier der Heuschrecken zur Linken und zur Rechten und schwärmte die Hänge hinauf. Doch mitten drin, im Auge des Insektensturms, lag das Pferdehufkloster, getaucht in die letzten Sonnenstrahlen dieses Tages. Dann verschwand die zweigeteilte Wolke im Dunst und hinter den Bergen. Jiao öffnete den Mund und fand zunächst keine Worte. Er, der sonst nie verlegen um eine Bemerkung war und deshalb von dem Wandermönch seinen Beinamen erhalten hatte, war dieses Mal sprachlos. Guang aber ließ seinen Arm nun ganz sinken, wandte sich zu Jiao und sagte grinsend:

„Schaue dich um, mein Bruder. Nicht nur das Kloster ist verschont geblieben, sondern auch wir mit unserem Hab und Gut. Das Zelt ist unversehrt, Kamele und Yaks blieben geschützt, die Vorräte sind vollzählig, so hoffe ich doch, und wir sind am Leben und gesund. Außerdem war die Plage nicht mit der zu vergleichen, die der HERR einst über Pharao und sein Volk hat kommen lassen.“

Jiao nickte eifrig mit dem Kopf.

„Und schaue weiter!“

Guang hatte seine Rechte wieder ausgestreckt und sich auf seinem Absatz einmal um sich selbst gedreht.

„Hat uns der HERR nicht Brot vom Himmel in Genüge regnen lassen, wie er es vor den Augen unserer Väter schon einmal getan hatte? Wir brauchen es nur zu sammeln und können uns an dem köstlichen Fleisch der Heuschrecken laben.“

„Ja, da bist du im Recht.“

Beschämt schaute sich der Ältere von beiden um und hörte dann seinen Bruder sagen:

„Ich denke auch, der Klostervater hat – ohne es zu wollen – sein eigenes Heil ersucht, als er die Bitte für uns zum Himmel schickte, denn wer andere segnet, wird selbst gesegnet.“

„So“, begann streitlustig Jiao und fuhr fort, „woher nimmst du denn nun wieder diese Weisheit?“

„Ich spüre es innerlich.“

Aber Jiao gab noch keine Ruhe und fragte, nachdem er seinen Spott zu Grabe getragen hatte:

„Aber warum hast du nicht in dieser Weise gebetet, als die Plage sich uns näherte? Dann hätte sich der Schwarm vielleicht an unseren Flanken vorbeibewegt.“

„Um dann noch einmal für das Kloster zu bitten? Nein! Wir konnten uns schützen und hatten nichts zu verlieren. Das Kloster aber wäre um die Mühe eines ganzen Jahres betrogen worden.“

Jiao schwieg und gab sich geschlagen. Sie zogen den Tieren den Filz von den Körpern, prüften kurz die Vorräte und bauten auch die Jurte ab. Der Kameldorn, Sauxal und das andere Gesträuch waren vollkommen abgenagt; das Steppengras war von der Gier des gespenstischen Himmelsvolkes bis zur Wurzel gekürzt. Viele der Flügeltiere lagen verendet am Boden, und manche von ihnen waren noch zuckend ineinander verkeilt, um sich in den letzten Atemzügen zu paaren. Sie nahmen eine der Filzbahnen und sammelten von den verendeten Heuschrecken, so viele wie in ihr Platz war.

Zur Küste ohne Wasser (31)

Wie die Tage, wie die Zeit, wie der Mond, wie die Sternenbilder und wie die Stimmungen der Herzen, so veränderte sich auch die Gegend, die Guang und Jiao auf ihren Tieren durchwandern mussten. Tamarisken und Kameldorn blieben ganz aus. Vor ihnen lag bald eine riesige Fläche, übersäht mit grauem und mit schwarzem Schotter. Immer wieder glitten Füße und Hufe von dem Geröll ab. Das steinerne Meer wurde mehr und mehr zur Plage, denn es gab keine Flächen der Erquickung. Es war auch schwierig, einen Platz zum Lagern für die Nacht zwischen den Basaltbrocken zu finden. Aber sie mussten ja trotzdem rasten. So warfen sie zur Nacht die Filzdecken über die Steine und ließen die Tiere darauf lagern. Guang und Jiao aber selbst schliefen im Freien, eingewickelt in ihre Yakfelle. Die Gegend war so unwirtlich, dass sie für das Lagerfeuer kein Brennmaterial fanden. So sammelten sie unterwegs die Fladen der Yaks und den Dung ihrer Kamele, um alles zu trocknen. Von dieser einzigen Nahrung zehrend quoll schwarzer Rauch von dem Feuer gen Himmel. So ging es eine ganze Zeit. Dann endlich nach einigen Tagen des mühevollen Wanderns, veränderte die Wüste noch einmal ihr Bild. Aus dem holprigen, harten und kargen Boden wurde weicher Sand, vom Wind in den zurückliegenden Äonen zusammengetragen. Es war, als würden sie sich am Strand des Mittleren Meeres befinden – allein, es fehlten die schaumgekrönten Wellen. Stattdessen erhoben sich im Wind dünne Spiralen von Wüstenstaub, die über den Boden wirbelten, um sich dann wieder zu erheben und anschließend aufzulösen. Der Klostervater hatte ihnen von diesen Erscheinungen berichtet und erzählt, dass es sich um die Seelen der sich hier in der Vergangenheit Verirrten handele. Allein, sie mochten es nicht glauben und sie hielten dies alles für Phantastereien. Je weiter sie vorankamen, desto mehr wellte sich der Wüstenboden zu kleinen Dünen. Hier und dort waren alte und verblichene Baumstümpfe, die wie Knochen aus dem Boden ragten, zu sehen. Es musste lange her gewesen sein, dass hier einmal Wasser geflossen oder ein Regenschauer hernieder gegangen war. Jetzt war da nur feiner Sand, der sich mehr und mehr zu hohen Dünungen auftürmte. Die Fremdländer vom westlichen Bogen konnten sich zunächst ihren Weg zwischen den feinen Sandwogen bahnen. Doch bald rückten die Erhebungen enger zusammen, verschmolzen und wurden höher. Guang und Jiao stiegen dann von ihren Tieren und führten sie bald bis zu fünfzig, ja, bis zu hundert Chi hinauf. Immer öfter nahmen sie einen Schluck von dem kostbaren Nass aus ihren Schläuchen. Diese Shamo war wirklich eine abschreckende Gegend und schien zu erfüllen, was über sie gesagt wurde. Gegen Mittag und zum Abend hin wurde die Hitze unerträglich. Die Trockenheit schnürte den beiden Wanderern bei jedem Atemzug die Kehle zu. Die Kamele brüllten und die Yaks stellten ihre Vorderläufe steif in den tiefen Boden, wenn es die Dünen wieder hinunterging. Auch sie litten unter der Hitze und der Trockenheit. Guang und Jiao beschlossen deshalb, des Nachts zu reisen und den Tag im Schutze der Jurte zu verbringen. Sie ließen sich so vom zunehmenden Mond durch das Sternenmeer führen, deren hellste Vertreter im Norden und Westen am Firmament standen. Die beiden Freunde hatten bei den Märschen in der Nacht kaum ein Wort miteinander gewechselt, waren still nebeneinander hergeritten oder auch gegangen. Nur ihr schwerer Atem beim Anstieg der Dünen und ihr Schimpfen auf die Tiere beim Weg hinunter waren zu hören gewesen. Ab und zu wiesen sie mit der Hand zum Himmel und änderten ihre Richtung leicht, wenn es ihnen notwendig erschien. Wie sie es auch im Kloster vernommen hatten, wurden die gebogenen Dünen immer gewaltiger und manche liefen am First zu einem solch messerscharfen Kamm zusammen, dass es unmöglich war, dort zu verharren. Im Mondlicht gleißten die mächtigen Sandwellen furchteinflößend, als wollten sie die Pilger an der Weiterreise hindern. Manchmal vernahmen sie auch unheimlich klingende Geräusche, Schreie und Töne. Bisweilen war ihnen, als sängen die Dünen, als kämen menschliche Schreie aus ihrem Inneren.

Am Beginn des zehnten Tages, als das Erwachen des Morgens den Himmel am östlichen Rand der Wüste in allen Farben vom dunklen Rot bis hin zum hellen Gelb verwandelt hatte, war ihnen, als glitzerten im sandigen Untergrund kleine Diamanten. Doch es waren kleine Salzbrocken. Als sie nach der Rast des Tages am Abend wieder aufgebrochen waren, verwandelten sich die einzelnen Kristalle Schritt für Schritt mehr und mehr zu einer scharfkantigen Masse. Das war auch für die Trampeltiere und die Yaks kaum zu ertragen. Die beiden Pilger mussten daher von den Filzbahnen Stücke abschneiden und diese den Tieren als Schutzschilde um die Füße binden, damit jene sich nicht verletzten. Wenn Guang und Jiao von ihren Tieren abgestiegen waren, um sie zu schonen und auch um sie zu führen, dann blieben ihre Schuhe ab und zu im Salzschlamm oder im Wurzelwerk des abgestorbenen Saxaul hängen. So erging es dem kleinen Tross noch zwei weitere Nächte. Dann endlich erreichten sie den Lop Nur, den Salzsee, und beschlossen, nicht nur den angebrochenen neuen Tag, sondern auch die darauf folgende Nacht hier zu verbringen. Der See war am östlichen Ufer nur spärlich bewachsen. Vereinzelt waren es Toghraks – wilde Pappeln - von denen aber viele abgestorben waren und verdorrt dastanden, wie Reste der Palisade einer längst verlassenen Festung. Ansonsten gab es nur einen dünnen Schilfgürtel. Dieses Kamisch - Riedgras - konnte zu Zaumzeug für die Reittiere zusammengeknüpft werden. Der Vorsicht wegen schnitten Guang und Jiao davon einiges und banden es an die Sättel der Trampeltiere. Wieder warfen Guang und Jiao die Filzbahnen über die scharfe Salzkruste. So konnten die Tiere sich niederlassen. Für sich aber bauten sie die Jurte auf. Sie ließen die Yaks aus den Schläuchen trinken, gaben ihnen von dem Getreide, nahmen selbst Wasser und ein wenig Datteln zu sich und kauten von dem Pemmikan. Die Kamele – bevor sie sich beim Lager niederließen - wagten sich vorsichtig über den salzigen Rand des Sees, um von seinem Wasser zu trinken. Es war bitter und für den Menschen nicht genießbar. Auch die Yaks verschmähten es. Guang und Jiao aber nahmen etwas von dem Salz, reinigten es von Steinen, Sand, Schilfresten und Dornen und taten es in einen Lederbeutel. Salz war - wie auch das Wasser – in dieser Gegend lebenswichtig. Was war schon Gold? Deshalb hatte der Kaiser des Reiches darauf auch die Alleinherrschaft. Doch wer fragte in dieser menschenlosen Gegend nach solchen Dingen? Die Weitgereisten kannten die Art von See, wie es der Lop Nur war. In ihrer Heimat gab es ein Salzmeer, das vor langen Zeiten entstanden sein sollte, als ihr Gott Glut und Schwefel auf die Erde geworfen hatte, um zwei verdorbene Städte und ihre Bewohner zu vernichten. Die Dunkelheit kam schnell. Der Schein des Feuers, das in dem ausgedörrten Holz der abgestorbenen Bäume und dem getrockneten Dung der Tiere seine Nahrung fand, flackerte über den See, und die Schatten der Palisade tanzten über die Gegend. Einige der Insekten, die sich zu nah an die züngelnden Flammen herangewagt hatten, bezahlten ihre Arglosigkeit mit dem ohnehin schon kurzen Leben. Die Nächte hier am Lop Nur waren nicht ganz so kalt, wie mitten in der Steppe und doch noch kühl genug. So konnten und wollten die beiden Reisenden nicht auf die prasselnde und Wärme spendende Glut des Feuers verzichten. Denn sobald die Sonne am Horizont versunken war, spürten die beiden den kalten Hauch der Dunkelheit. Dann schmiegten sie sich später noch zusätzlich an ihre graufelligen Kamele, nicht jedoch, bevor sie sich Nacken, Hände und Gesicht mit etwas Bienenwachs eingerieben hatten. Denn das Fell der treuen Kamele war zwar dicht und wollig, doch in ihm tummelten sich Zecken, die so groß wie reife Pflaumen werden konnten. Die Yaks dagegen trugen nicht soviel Ungeziefer bei sich. Das Fell dieser untersetzten, braun- bis schwarzfarbenen Vierbeiner war nicht so dicht, wie das der Trampeltiere. Am Bauch war ihre Mähne lang, strähnig und seidenartig, aber auf dem Rücken hatten sie sehr kurzes Haar und eine bürstenartige aufrechte Mähne. Sie waren sauberer, wärmten aber nicht so, wie die Zweihöcker. Heute sprach Jiao das Gebet, zu dem beide ihren Kopf mit einem Tuch bedeckten. So betete er:

„Ich preise den Herrn,

der Ratgeber meines Herzens ist;

selbst in der Nacht unterweist er mein Gewissen;

stets habe ich Gott vor Augen

und weil er zu meiner Rechten ist,

werde ich nicht wanken.

Darum freut sich mein Herz

und darum frohlockt meine Seele.

Mein Fleisch kann in Sicherheit ruhen

und meine Seele wird ER nicht

dem Totenreich überlassen,

sondern ER wird mir kundtun den Weg des Lebens.“

„So sei es“, murmelte Guang und wickelte sich heute als erster in sein Yakfell. Der Bruder aber legte den Ast einer wilden Pappel und einen Fladen Yakmist in das Feuer nach und hielt Wache unter dem Sternenzelt, das über dem Tal von Tarim geschlagen war. Am östlichen Horizont kündigte sich der aufgehende Mond an. Um Mitternacht, als die Wachen wechseln sollten, hielt es sie dann doch nicht mehr. Die Wasservorräte waren knapp geworden. So brachen sie auf, ritten und marschierten im bleichen Licht des Mondes am Ufer des Sees nach Norden. Am Ende des zweiten Tages und bei Einbruch der Dunkelheit, durfte sich Jiao bis zum Höchststand des Mondes zum Schlafe legen. Dann setzten sie ihre Reise wieder fort und am frühen Morgen kehrten sie der Sonne den Rücken. Doch immer noch blieben sie in der Nähe des Lop Nur. Sie fanden auch die Hütten vor, von denen ihnen erzählt wurde. Aber sie schienen schon seit einigen Monaten oder gar Jahren verwaist und es deuchte sie, die einstigen Bewohner hatten die Gegend für immer verlassen. Hier war der See mit einem dichteren Schilfgürtel bewachsen. Früher einmal, so sagten es die alten Dichter von Zhong Guo, sollten hier sogar Tiger gelebt haben und dort wo das mächtige, von wilden Pappeln umsäumte Delta des Tarim in den Lop Nur mündet, gab es den Erzählungen nach einst wilde und ungezähmte Kamele. Vorausgesetzt, der Fluss führte Wasser, konnten dort sogar heute noch die schönsten und köstlichsten Früchte gedeihen. Guang und Jiao hielten sich in Sichtweite des Rieds. Vor ihnen wölbte sich die Landschaft leicht, und als die Sonne im Zenit stand, verwandelte sich der salzige Boden unter ihren Füßen mehr und mehr wieder in hellen, fast weißen, feinen Kies. Wenig später erreichten sie das ausgetrocknete, breite Flussbett des Tarim, das von Norden her an ihrer Flanke auf sie zulief. Auch dieses war - diesseits und jenseits - von einem Riedwald umgeben. Wohl gut hundert Schritte vom Ufer entfernt, standen auf beiden Seiten Pappeln. Im Wadi hatte sich Flugsand gesammelt, doch war es - dem HERRN sei Dank - nicht so, wie es ihnen beim ersten Blick erschienen war. In der Mitte, zwischen Steinen, Furchen und kleinen Buchten, gab es ein Rinnsal, das gemächlich dahin floss und dessen glasklares und kühles Wasser wie Kristall im Licht glitzerte. Hier und dort hatten sich sogar kleine Tümpel gebildet. Die Wanderer beschlossen zu rasten, die Tiere trinken zu lassen und die eigenen Wasservorräte aufzufüllen. Das Wasser war, wie es süßer nicht sein konnte, und mundete Mensch und Tier gleichermaßen. Die kleine Karawane durchquerte das Flussbett und Guang und Jiao ließen sich jenseits des Wadis im Schatten des Hains nieder. Sie versuchten zu ruhen, nachdem sie ein wenig Datteln zu sich genommen hatten.

Das Kamisch zog sich nach Süden zurück und bald lag der Lop Nur hinter ihnen. Hier nun, westlich des Salzsees und außerhalb seiner Sichtweite, hatte der Wind den Sand von der gewölbten Fläche hinweg geweht und sie ritten auf einem leicht abschüssigen Boden, der aus hart gepresstem, braunem Lehm bestand. Eine Wohltat für Kamele und Yaks. Wieder trommelten die Hufe der Tiere auf dem Boden und sie machten viele Li an einem Tag. Vor ihnen lag die Weite der Steppe und sie nutzten die Gunst der Stunde und ritten bis tief in den Abend hinein. Die beiden jungen Pilger aber hatten beschlossen, doch wieder tagsüber zu reisen, denn der nächtliche Schlaf fehlte ihnen ein wenig. Zu ihrer Verärgerung und zu ihrem Unmut hatte nach einigen Tagen wieder die salzige Kameldornsteppe begonnen. Vereinzelt, wie hingestreut wuchsen auch Garben von Schwefelgras und Sauxal. Schon in den ersten Morgenstunden war es übermäßig heiß. Gegen Mittag waren am Horizont die ersten Dünen zu erkennen. Mal liefen Guang und Jiao neben den Kamelen, mal saßen sie auf dem mit Stroh gefüllten Sattel zwischen den Fettvorräten ihrer Trampeltiere. Diese treuen Gefährten glitten wie Schiffe, weich und fließend dahin und hielten ihre mächtigen Köpfe fortwährend aufrecht. Ihre Augen waren stets wie auf ein entferntes Ziel gerichtet. Sie wirkten dabei ein wenig wie Philosophen und ein wenig hochmütig. Doch sie alleine waren es, die für ein Überleben bürgten. Sie allein wussten, ob das Ziel erreicht würde oder nicht.

Guang und Jiao ritten den Sandwellen entgegen. Diese glitzerten wie Berge, die von Myriaden von Glaskristallen überschüttet waren. Der Boden unter ihnen blieb hart und scharfkantig. Das Salz wollte nicht weichen, und es schien tatsächlich, als ziehe sich die Kruste bis hin zu dem Riegel von Dünen. Die Tiere trugen wieder ihre Filzschuhe. Wie die Schollen eines aufbrechenden Sees in der schon kräftigen Sonne des Frühlings, verewigt und festgehalten von einem übelgelaunten Maler, lag die furchtbare Wüste vor ihnen. Mit großem Erschrecken stellten die beiden Reiter nach einer Weile fest, dass – wie zu vermuten war - auch die Wüstenberge vor ihnen mit der weiß- und schmutziggelben kantigen Schicht überzogen waren. Borkige Anhöhen zeigten sich ihnen, wie planlos vom ewigen Wind zusammengetragen und von seinem Salz einbalsamiert. Wie Wälle und dahinterstehende Türme, wie Paläste und Häuser einer verwunschenen und untergegangenen Stadt erschienen ihnen die absonderlichen Gebilde. Sie waren wohl noch eine halbe Stunde Rittes von dieser Hürde entfernt. Einen Fingerbreit Sonne trennte sie noch von diesen zerfurchten schwer überwindbaren scheinenden Klippen, von der Küste ohne jeden Wassers! Die Sonne stand schon westlich. Kurz bevor die beiden Reiter an den Fuß der Anhöhen gelangten, im ersten Schatten der Salzhügel, gebot Guang mit einem sanften Zug des Zaumzeuges seinem Tier zu halten. Mit dem Bambusstock zwang er sein Kamel in die Knie. Jiao bemerkte das Zurückbleiben seines Bruders erst, als dieser ihm auf eine Frage nichts zur Antwort gab.

„Willst du hier rasten, mein Bruder?“,

rief er nun und wendete sein Kamel.

„Du wirst hier rasten, mein Jiao. Ich werde zu Fuß in diese Geisterstadt gehen.“

Jiao ritt in einem großen Halbkreis zu seinem Bruder zurück. Dabei gebot er seinem Yak, ihm zu folgen. Nachdem auch er mit seinem Kamel zu Boden geglitten war, fragte Jiao:

„Was hast du dort vor?“

„Ich will beten.“

„Jetzt ist aber noch nicht die Zeit für das Gebet.“

„Ich meine auch nicht das Gesetzesbeten.“

„Sondern?“

„Ich will mit unserem Gott alleine sein. Will meditieren, will Fragen stellen.“

„Aber das kannst du auch hier tun.“

„Hier bin ich aber nicht allein.“

„Ich störe dich also?“

„Es liegt nicht an dir.“

„Dann bete also hier.“

„Nein, nicht hier, sondern dort.“

Guang wies mit seiner Rechten zu den mächtigen und gefährlichen Salzbergen.

„Wir werden gemeinsam nach dort gehen ... ,“

sagte Jiao nun etwas trotzig.

Guang sah ihm tief und ernst in die Augen. Jiao wusste, dass es sinnlos war, noch lange zu diskutieren und er fuhr fort:

„ ... und dann will auch ich beten.“

„Ja, das kannst du auch tun - aber hier.“

„Wir - gemeinsam dort.“

„Vielleicht aber begegnen uns dort Dämonen.“

„Ich habe keine Angst vor bösen Geistern.“

„Trotzdem.“

„Nein, ich gehe mit dir.“

„Nein, mein Bruder, lass mich alleine gehen.“

Jiao war erbost und auch verletzt.

„Aber ich will mit dir gemeinsam beten und...“

„Ja, späterhin. Ich habe vieles in meinem Herzen, was ich gewiss mit unserem Gott zu allererst allein besprechen muss. Mich bedrückt, was von dem Prinzen und seiner wunderbaren Lehre gesagt wird und was wir auch am Flusse Sind gepredigt haben.“

„Wenn es aber wunderbar ist, warum bedrückt es dich dann? Und warum willst du es nicht mit mir teilen?“

„Es steht ja im Widerspruch zu dem, was unsere Schriftgelehrten predigen. Ja, es macht das alles zunichte! Ich kann das, was ich in der Wüste mit dem HERRN bespreche und was er mir vielleicht zu sagen hat, späterhin mit dir besprechen.“

„Da hast du wohl Recht. Alles macht es zunichte und es ist gefährlich! – Gut, dann will ich warten. Wie lange willst du bleiben?“

„Bis der HERR mir Antwort gibt. Und wenn ich viele Tage jenseits dieser Hügel verbringe. Bis ER mir die Wahrheit zeigt.“

Jiao schaute erst zu den Salzdünen und dann auf seinen Bruder.

„Aber denke an unsere Wasservorräte. Wir dürfen höchstens einen Tag verlieren. Vielleicht zwei. Dieser Glutofen kennt keine Gnade.“

„Haben wir nicht vor Kurzem unsere Wasservorräte aufgefüllt und haben wir nicht die Heuschrecken zur zusätzlichen Nahrung erhalten? Der HERR wird uns zur nächsten Quelle führen, wenn es Not ist.“

„Drei Tage.“

„Und wenn es fünf oder sieben, zehn oder gar vierzig Tage sind, ich werde solange bleiben, bis ich Antworten gehört habe. Gestehe mir einen halbgefüllten Schlauch mit Wasser und ein paar Hirsekörner zu – das ist mir genug. Ich ziehe nicht weiter von jenem Ort, es sei denn, unser Gott segnet mich.“

Wieder hatte Guang auf die Steilküste vor ihnen gezeigt.

„Vier Tage und vier Nächte, mehr nicht!“

Jiao stand Auge in Auge mit seinem Bruder.

„Ja, dann magst du alleine weiterziehen. Ich werde dir dann späterhin folgen.“

„Ich reite nicht fort von hier, es sei denn du kommst mit.“

„Ich bleibe, solange ich bleiben muss.“

„Mein Bruder! Willst du den HERRN schon wieder reizen? Ist es nicht genug, dass du uns diesen Weg geführt hast? Wir befinden uns mitten in der Shamo. Allein wegen der Kamele trage ich keine Last in meinem Herzen.“

„Mache dir auch keine Sorgen um mich und dich. Sorgt nicht unser Gott für die Vögel des Himmels und die Blumen auf dem Felde? Wie viel mehr wird er für uns Menschen sorgen.“

Jiao wusste nicht gleich zu antworten. Er schaute sich um und sagte dann:

„Wohl hast du gesprochen und ich müsste dir zustimmen, wenn wir uns in einer fruchtbaren Gegend befinden würden. Aber siehst du in der Öde Leben außer uns? In dieser Wüste können aber weder Vögel leben, noch Blumen wachsen. Warum? Weil der HERR vielleicht nicht richtig für sie gesorgt hat?“

Guang schaute ihm stumm und erwartungsvoll in die Augen und Jiao sprach erregt und ein wenig erbost weiter:

„Nein, es ist kein Ort des Lebens! Es ist ein Ort des Todes! Gottes Sorge besteht darin, uns aus dieser Hölle zu retten.“

Nun war es Guang, der um eine Antwort verlegen war. Nach kurzem Zögern sprach er:

„Du magst vielleicht im Recht sein. Aber mein Herz sagt mir, dass dies der Ort ist, wo ich mein Leben ordnen kann. Schau, so wie du, lebe auch ich nur einmal auf dieser Erde. Jedenfalls glauben wir das immer noch bis auf den heutigen Tag. Meine Spuren, die ich hinterlasse, sollen Menschen späterer Zeiten noch lesen können. Dies kann aber nur dann geschehen, wenn der HERR zunächst seine Abdrücke in meinem Leben hinterlassen hat.“

Jiao war überrascht. Was, um des Herrn Willen, sollte er darauf noch Kluges und Überzeugendes sagen? Er nickte und ein leises, bitteres Lächeln glitt um seine Lippen. Er nahm die Zügel auch des zweiten Kamels und sprach:

„Es ist immer dasselbe, mein Bruder. Aber in Gottes Namen, ich werde bleiben, bis du von dieser Geisterstadt zurückgekehrt bist. Auch ich werde fasten und für mich beten und mit dem Wasser sparsam umgehen. Geh nur. Ich erwarte dich hier zurück.“

Am Schilfsee (32)

Als sich Luanxing von den beiden Jünglingen getrennt hatte, war er vom Kloster nach Osten aufgebrochen. Er wollte an den Schilfsee. Hier wollte er den Freund des Yüo, jenen Fischer mit den langen Haaren, besuchen und sich nach dem Niau-Zhuzi erkundigen, wollte wissen, was mit ihm geschehen war, wollte wissen, ob er vielleicht den Yüo aufgesucht, ihm von dem freudigen Fund erzählt und ihm den Vogel zurück gebracht hatte. Mit großer Absicht hatte der Tempeldiener das Fasanengebirge, die Flammenden Hügel und auch die Höhle des derben Einzelgängers umgangen und war auf unwegsamen Pfaden hierher gelangt. Später, auf dem Weg zurück aber, wollte er diese Orte nicht meiden. Chang Tou-fa war mit seinem aus Ried geflochtenen Boot draußen auf dem See. Seine Netze waren heute gut gefüllt und er freute sich auf eine kräftige Abendmahlzeit. Der Mönch stand am Ufer und warf Steine auf das Wasser. Langhaar sah den Wartenden schon von weitem und erkannte in ihm bald jenen Wandermönch, der ihm einst in Begleitung der beiden jungen Fremdländer den Bambusvogel gebracht hatte. Nun aber – in Anbetracht der unerwarteten Entwicklung - wusste er nicht, wie er Luanxing begegnen und was er ihm berichten sollte. Noch einmal setzte er sein Segel so, dass er vom Ufer wegtrieb. Doch es hatte ja keinen Sinn, er musste den Tatsachen ins Auge schauen. Hatte er nicht Yüo genau das gepredigt, an dem Tag, als ihre Freundschaft zerbrochen war? Also sollte er doch selbst so handeln, wie er es von dem anderen verlangte. Aber als er dann dem Boote entstiegen war, ließ die Freundlichkeit des Gastes seine Ängste weichen. Wenig später saßen sie beim Fischmahl und dem warmen Tee in der Hütte. Die hereinbrechende Nacht hatte Kühle mit sich gebracht. Chang Tou-fa berichtete dem Tempeldiener auf dessen Fragen, was geschehen war und auch von dem zerstörten Band zwischen ihm und dem Yüo.

„War ich nicht im Recht, Herr?“,

fragte Langhaar.

‚Das mag schon sein,’ dachte Luanxing bei sich und konnte die Enttäuschung des Fischers in seinem Herzen nachempfinden. Doch wieder, wie schon vor einigen Tagen, als er dem Yüo einen Besuch abstatten wollte, fiel ihm ein, was er vor langer Zeit auf einer seiner vielen Reisen in den Zelten der nördlichen Nomaden gehört hatte und sprach laut:

„Die Freiheit, mein Lieber, steht vor dem Recht – die Freiheit aber soll der Liebe den Vortritt lassen.“

Langhaar schwieg, errötete leicht, nickte nur und sagte dabei etwas verschämt:

„Dui“, und ergänzte, während er sich traute leicht aufzublicken:

„Es ist der Vogel, so kostbar und wunderschön. Ich denke, die Götter wären mir nicht böse gewesen, hätte ich ihn behalten.“

„Gewiss nicht, aber du hattest eben den Fehler begangen, Yüo gemeinsam mit dem Niau-Zhuzi aufzusuchen. Wer etwas bei sich trägt, kann es auch verlieren, wer die Auseinandersetzung sucht, muss auch mit einer Niederlage rechnen, wer die Herausforderung annimmt, kann auch Wunden davontragen.“

Chang hatte mit halboffenem Mund und hochgezogenen Augenbrauen zugehört und seufzte:

„Ja, vielleicht war es ein Fehler ...“ und fuhr fort:

„… aber wie ich Yüo bei unserer letzten Begegnung schon sagte, hätte ich tun können, was auch immer, es wäre falsch gewesen.“ “Das mag sein,“

entgegnete der Wandermönch. Gerne, das spürte der Chang tief in seinem Herzen, hätte er nun den Luanxing noch gefragt, ob er selbst denn immer nach diesem klug tönenden Spruch von Freiheit, Liebe und Recht gehandelt habe. Doch traute er sich dieses nicht.

„Wie lange habt ihr euch gekannt?“, wollte Luanxing nun wissen.

„Oh, Herr, wir waren über viele Jahre befreundet und haben Vieles miteinander besprochen.“

„Wie war diese Freundschaft entstanden?“

Chang nahm einen Schluck von dem Tee und sprach dann:

„Nun Herr, eines Tages – ich war auf dem Wege nach Qaidam – wollte ich gegen Abend mein Lager aufschlagen. Beim Sammeln des Holzes für das Feuer bin ich einen Abhang hinabgestürzt. Mit großer Mühe und unter Schmerzen konnte ich aber zurück auf den Weg gelangen. So, wie es schien, hatte ich mir ein Bein gebrochen. Ich war gerade dabei mir zu überlegen, wie ich die Nacht überstehen und vor allem, wie ich am nächsten Tag weiterreisen sollte, als Yüo auf mein Lager stieß.“

Der Tempelpriester nickte und Chang Tou-fa fuhr mit seiner Erzählung fort:

„Yüo fertigte mir aus Holz einen Stützverband und schiente damit mein verletztes Bein. Am nächsten Morgen brachen wir dann zu seiner Hütte auf. Ich durfte meine Linke um seine Schulter legen und so trug er mich halb bis zu seinem Heim, wo wir gegen Mittag eintrafen. Dann blieb ich solange bei ihm, bis ich mir zutraute, weiter zu reisen.“

Chang Tou-fa legte eine Pause ein, nahm noch einen Schluck Tee und fuhr dann fort:

„Bevor ich aber von der Hütte des Yüo aufbrach, schenkte ich ihm eine wertvolle Haarspange. Sie war von meinem verstorbener Vater, die Götter mögen ihm zehntausend Jahre schenken.“

Chang verbeugte sich ehrfürchtig zum Boden hin und der Wandermönch tat es ihm gleich. Doch spürte er, dass der Fischer noch etwas zu dieser Angelegenheit sagen wollte und so fragte er aufblickend:

„Aber . . ?“

Auch der Fischer erhob jetzt wieder seine Augen und sprach:

„Bei meinem nächsten Besuch erzählte mir Yüo, er habe sich bei dem Händler Mai neues Kochgeschirr erworben und dieses mit der Haarspange bezahlt.“

„Das war nicht richtig, oder?“

„Nein Herr, das hat mich tief verletzt.“

„Hast du ihm gesagt, wie du dies empfunden hast?“

„Ja, das habe ich. Aber Yüo zeigte keine Reue, jedenfalls nicht zu diesem Zeitpunkt. Unserer Freundschaft jedoch hat es nicht geschadet. Sie blieb bestehen. Erst Jahre später, als wir einmal gemeinsam am Feuer vor seiner Hütte saßen, bat er mich um Nachsicht.“ Luanxing wiegte seinen Kopf langsam und bedächtig.

„Merkwürdig, merkwürdig“, murmelte er und dachte bei sich, wie er sich doch wohl in dem jungen, unscheinbaren Bauern von der Rong-Steppe geirrt hatte und wie widersprüchlich der Sohn des Ku doch war. ‚Bin nicht auch ich es, ist es nicht jeder von uns, sind nicht auch die Götter widersprüchlich’, dachte der Luanxing, sprach aber laut zu seinem Gastgeber:

„War die Freundschaft jetzt, als es um den Bambusvogel ging, nicht zu retten, auch nicht aus Dankbarkeit für die vergangene geschenkte Zeit?“

„Nein, mein Daoshi, und es scheint Dinge in dieser Welt zu geben, die ein auch noch so enges Band zerstören und es nicht halten können.“

Der Mönch nickte nun stumm.

„Außerdem ...“,

„Ja?“

„... neigt Yüo meiner Erkenntnis nach dazu, gerne Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn es von Vorteil für ihn ist. Geht es ihm aber gut, dann kann er schnell vergessen. Es scheint, als kenne er Dankbarkeit über das eigene Ich hinaus nicht.“

De yu wang quan – wir vergessen die Reuse, wenn die Fische gefangen sind!

„Bist du verbittert deswegen?“

„Nein Herr, das bin ich nicht. Aber wenn Yüo Ku noch etwas an mir liegt, dann muss er selbst auf mich zugehen und mich hier besuchen. Ich meinerseits habe mit ihm abgeschlossen.“

„Aber doch hatte er dir mit deinem verletzten Bein geholfen.“

„Ja, das ist richtig, aber womöglich tat er dies auch nur, um seines schlechten Gewissens willen und weil es die Sitten so verlangen.“

Der Wandermönch fragte nun nichts mehr. Beide ließen sich, trotz der Ernsthaftigkeit des Gespräches, ihre Gaumen von den zubereiteten Bambussprossen, gebratenem Reis und dem Krebsfleisch, das Chang Tou-fa nach dem Fischtopf gereicht hatte, ausgiebig verwöhnen. Am Ende des Mahles gab es für jeden noch ein wenig von dem Ziegenkäse, den der Gastgeber mit einem Pferdehaar von dem großen Stück abgeschnitten hatte. Sie sprachen zwar noch über dieses und jenes, nicht aber über den Sohn des Bauern Ku und nicht über den Bambusvogel. Mit einem Becher Wein und einem Gebet ließen sie den Abend ausklingen.

Bei dem Einsiedler (33)

Am nächsten Morgen verabschiedete sich der Wandermönch von dem Fischer und bedankte sich noch einmal für die Gastfreundschaft. Seine Seele aber war schwer. Es war nicht wegen des gestrigen Tages, sondern wegen dem, was nun vor ihm lag. Zwar wollte er zurück zu dem Kloster der Adler, um gemeinsam mit den Mönchen die Texte des Prinzen zu studieren und über ihnen zu fabulieren, doch nicht bevor er dem groben Einsiedler einen unvermeidlichen letzten Besuch abgestattet hatte. Dieser Ort lag nahe bei den Flammenden Hügeln und es war gut, dass es noch ein paar Tage der Wanderung bedurfte, um dort hinzugelangen. So konnte Luanxing sich auf dem Wege durch Wälder, über Hügel, entlang von Bächen und Galerien von Pappeln in seine Gedanken vertiefen. Er sprach und er sang das Om. Es tat ihm gut und große Ruhe und Zuversicht wurden seine Begleiter auf dem Wege, jedenfalls die meiste Zeit. Wie ein lang anhaltender Gong, dessen Schall in der Tiefe schwebt und dort verweilt, klang seine Stimme durch Schluchten und Tobel. Inmitten fruchtbarer Plantagen und im Stelenwald war sie zu hören. Mit dem Flackern des Feuers begleitete sie die Schatten in die Nacht hinaus und mit dem Nebel des Morgens stieg sie auf in die Verborgenheit der ewigen und geistigen Welt. Seit Tagen war er an dem Strom entlang gewandert, dessen Wasser ihm von Westen entgegenkam. Es war derselbe Fluss, der an den Terrassen des Yüo vorbei floss. Hier war er jedoch breiter und reißender. Über abgerundete und auch schroffe Steine schoss das Wasser und schäumte hier und da weiß auf. Morgen würde der Fluss zur linken Hand zurückweichen und bald sähe der Luanxing vor sich im Licht der Mittagssonne die feurigen Berge, hinter denen eine lieblich gewellte Grassteppe lag, die sich bis zu den Fasanenbergen erstreckte. Es gab zwei Wege, dieses rote Sandsteingebirge hinter sich zu lassen. Als der Tempeldiener mit seinen zwei Begleitern auf der Reise von Golmud zu den Fünf Heiligen Bergen gewesen war, wählten sie die Pfade über die Flammenden Hügel, um die fruchtbaren Pferdewiesen, die sich fast bis zu dem Schilfsee hin erstreckten und durch die er jetzt wanderte, zu erreichen. Auch dieses Mal würde der Wandermönch den Weg über das Gebirge wählen, denn bewusst wollte er auf die schmerzende Vergangenheit stoßen. Luanxing kannte sich nur zu gut. Sein Herz war zornig über die Niederlage, die er bei der Einlösung des Niau-Zhuzi erlitten hatte. Er wusste, dass er dies um seines Friedens willen in Ordnung bringen musste. Das Om reichte dafür nicht aus. Aber sein Herz war nicht nur wegen dessen, was geschehen war, so schwer. Dunkle Schatten hatten sich auch wie Vorboten auf die erneute Begegnung mit dem Einsiedler in seinem Innern ausgebreitet. Die Finsternis nahm zu, je näher er seinem unvermeidbaren Ziele kam.

Als der Eremit damals nicht Willens war, den Bambusvogel gegen das Gebotene herzugeben, hatte der Mönch seine beiden Begleiter für einen Moment zur Seite fortgeschickt, um mit dem abgründig erscheinenden Mann alleine weiter verhandeln zu können. Während der Einsiedler auf ihn einredete, hatte Luanxing innerlich das ‚Om mani padme hum’ und auch sein eigenes, geheimes Wort gebetet. Er wusste, nichts besteht auf dieser Erde ewig, als nur Hingabe und Liebe, und er hatte die Eingebung, dass es nicht unbedingt immer erstrebenswert für sich und andere sei, sein Lebensalter zu verdoppeln, sondern die zur Verfügung stehende Zeit zum Guten für seine Mitmenschen zu nutzen. Was hatte es für einen Sinn, Totes zu behalten, wenn vielleicht dafür Lebendes erhalten bleiben könnte. Jedoch wähnte er sich noch heute als der hilflose Verlierer.

So hatte sich Luanxing durchgerungen, dem groben Mann die Tasse aus Jade anzubieten – grünlich lodernd im Licht der Mittagssonne – wohl wissend, dass dieser mit dem Stein alleine nicht zufrieden sein würde. Er nahm sie aus einer seiner Umhängetaschen und reichte dem harten Verhandler also das lichte Gefäß. Dieser nahm die Jade und betrachtete die Persimone.

„Du musst sie öffnen“,

meinte der Mönch, bevor der Mann vielleicht Abneigung zeigen könnte und fuhr hastig fort:

„Es ist nicht nur diese köstliche Jade, die ich dir biete...“

Er machte eine künstliche Pause.

„... sondern es kommt auf den Inhalt dieser Jade an.“

„Den Inhalt?“

Der Eremit hob den Blütenkelch und legte ihn dem Luanxing in die Hand. In der Schale lag ein Seidentuch, dem anzusehen war, dass ein Gegenstand in ihm eingehüllt war.

„Was ist in diesem Tuch verborgen?“,

war die Frage des Finsteren.

„Es ist ein Knochen.“

„Ein Knochen?“

„Ja, er...“

Der Einsiedler unterbrach ihn.

„Nun, ich habe viele beachtliche Knochen von verschiedenen Tieren und es sind die wertvollsten und die zierlichsten darunter.“

„Aber es ist ein ganz besonderer Knochen.“

„Von welcher Art? Zu welchem Tier gehörte das Gebein?“

„Meister.“

Dieses Wort kam dem heiligen Mann sehr schwer über die Lippen,

„Es ist nicht der Knochen eines Tieres!“

Der ungehobelte Zeitgenosse schaute erstaunt.

„Sondern?“

„Es ist der Knochen eines Menschen.“

„Eines Menschen?“,

wiederholte der Einsame fragend und ließ dabei seine Stimme langgezogen in die Tiefe gleiten.

„Wie kommt ein so guter Mönch wie du zu einem Menschenknochen?“

Der Mann mit den groben Zügen grinste nun hämisch. Das Unwohlsein beim Wandermönch verstärkte sich. Ihn ekelte und er dachte bei sich:

‚Gou zui li tubuchu xiang ya – Aus einer Hundeschnauze kommt wahrlich kein Elfenbein und aus einem dreckigen Maul kommt kein anständiges Wort.’

Doch da er den Derben nicht verprellen wollte, sprach er so:

„Hast du schon einmal die Geschichte von dem Prinzen aus dem Lande am Flusse Sind vernommen?“

Das wulstige, vernarbte, böse Gesicht des Klausners verfinsterte sich nun noch mehr. Seine Augen, die fast von den hervorstehenden und nach oben gewölbten Backenknochen verdeckt wurden, sandten verwünschende Strahlen zu denen des Luanxing.

„Der Prinz von Sind“,

entfuhr es seinem Mund, wobei jedes Wort in einem tiefen, vibrierenden und langgezogenen Ton unheimlich klang. In der Linken hielt er immer noch die Jadetasse, doch mit der Rechten schlug er sich gegen die Brust und schrie:

„Die Lehre dieses verlumpten Mönches will mich vernichten. Ich hasse ihn und seine Worte, ich spucke auf ihn und seine Lehre.“

Er tat es den Lamas von Xizang gleich, aber den Mönch von Golmud schmerzten und verletzten diese Worte und Gesten auf das Tiefste. Doch er hielt es für sich.

„Du hast also tatsächlich von dieser Lehre schon vernommen? Woher..?“

So freundlich wie es ihm möglich schien, hatte Luanxing diese Fragen gestellt. Doch mitten im Satz unterbrach ihn der Hässliche wirsch.

„...Natürlich, meine Kanäle sind tief und verschlungen und ich weiß mehr über den Prinzen, als du vielleicht denkst.“

Seine Worte klangen vielsagend und nach einer kurzen Stille sprach der Mönch:

„Nun, dann denke ich, dass dieser Knochen gerade für dich richtig ist. Er ist von den sterblichen Überresten des Prinzen, den du so hasst!“ Der Unfeine schaute verdutzt und doch gierig, nahm mit der rechten Hand hastig das kleine Paket aus der Jade und reichte die Tasse dem Wandermönch, damit er diese halte, ließ dabei aber das Eingewickelte nicht aus den Augen. Der Mann faltete nun die Seide auseinander. Vor ihm lag ein kleiner, dreigliedriger Knochen.

„Er ist von der rechten Hand des Prinzen“,

hauchte Luanxing.

Dies alles war damals geschehen. Nun aber musste er dem derben Zeitgenossen wieder begegnen.

So kam der Tag, an dem er beim Höchststand der Sonne auf dem rotsandigen Platz vor der Höhle des Eremiten stand. Nicht lange zögerte der Mönch, sondern schlug den Gong hart und willig. Luanxing sah sich um. Die Lehmbauten rechts schienen bewohnt, denn es war ein leises und klägliches Piepen von ihnen her zu hören. An den Gestängen inmitten des Platzes hingen Netze und Seile aus Hanf, an deren Enden rostige Haken aus Eisen befestigt waren. Der heiße Wind spielte mit dem Staub und hob ihn zu kleinen Spiralen empor. Dann trat der liederliche Zeitgenosse in das Licht des Mittags. Luanxing bemerkte, dass auf dem verschmutzten Weiß seines Gewandes noch dunklere Flecken waren. In den schwarzen Sandalen, die halb vom Saum des Umhangs verdeckt waren, steckten nackte Füße, deren Zehen mit dunkelgelben und verwachsenen Nägeln versehen waren.

„Nun, guter Mensch, was führt dich zu mir?“

Der Ton des Hässlichen war herablassend, die Häme glitt ihm über die vernarbte Haut. Kein „hast du heute schon gegessen“, keine Freundlichkeit und schon gar nicht Wohlwollen. Dieser Mann war wirklich abstoßend. Luanxing verbeugte sich leicht und führte seine Rechte dabei an die Stirn.

„Wie steht es um dein Wohlbefinden?“

fragte der Wandermönch.

„Ha, du bist wohl nicht gekommen, um dich nach meinem Ergehen zu erkundigen, oder? Sind wir uns denn schon einmal begegnet?“

Der Alte tat, als sei Luanxing für ihn ein völlig Fremder.

„Komm zur Sache. Was führt dich zu mir?“

„Ich kam wegen des Knochens.“

Dem Bösen blieb der Mund offen stehen. Er schüttelte das Haupt und tat, als wüsste er nicht, was gemeint war.

„Ich gab ihn dir, als...“

Nun legte der Mann seine gespielte Unwissenheit ab.

„...Ich weiß Mönch, was ich dir gegeben habe“,

entfuhr es ihm hart, erbarmungslos und grausam.

Alle Hoffnung hätte weichen können. Doch das Herz Luanxings blieb geradeaus gerichtet und er sprach:

„Und ich, ich gab dir den heiligen Knochen aus Tienchou dafür.“

„Ha! Du meinst das Gebein des Prinzen? Bist du gekommen, um es dir noch einmal anzuschauen?“

Seine Stimme wurde noch hässlicher und verriet Grausamkeit und ein gemeines Herz.

„Ich will ihn zurück.“

„Ich will ihn zurück“, wiederholte der Grobe wiehernd, gleich einem verreckenden Pferd und stampfte mit dem rechten Fuß in den heißen Sand. Doch dann beugte er seinen Oberkörper vor und raunte mit zitternder Stimme:

„Fu shui nan shou - Vergossenes Wasser lässt sich nicht zurückholen.“

Luanxing tat einen Schritt vor und griff in sein Gewand.

„Ich geb’ dir meine Dizi, sie ist wertvoll ...“

„ ... aber sie ist nicht aus Knochen, behalte sie“,

unterbrach ihn der Alte barsch und machte mit seiner Rechten eine wegwerfende Bewegung. Noch einen Schritt tat der Mönch vor und stand nun fast Angesicht zu Angesicht mit dem Geti. Natürlich war ihm klar gewesen, dass die Flöte kein entsprechendes Tauschobjekt für den Knochen sein konnte, aber irgendeinen Vorwand für ein Verhandlungsgespräch musste er haben. So sprach er nun:

„Was willst du, dass ich dir gebe, damit ich den Knochen des Prinzen wieder erhalte?“

„Vielleicht ist er ja gar nicht mehr in meinem Besitz.“

„Oh doch, so etwas gibt ein Mensch wie du nicht her, es sei denn, es gäbe noch etwas Wertvolleres. Also, was ist es, was in deinen Augen begehrenswerter ist?“

„Du weißt es genau“,

fuhr ihn nun der Grausame an.

„Bring mir diesen wunderbaren Bambusvogel zurück.“

Luanxing überlegte einen Moment. Er wollte auf seinem Wege bleiben. Deshalb sprach er:

„Der Vogel? Ich weiß nicht, wo er sich aufhält.“

„Du lügst“, fuhr ihn der Mann an.

„Wirklich, ich weiß es nicht“, log er tatsächlich und fuhr mit einer Halbwahrheit fort:

„Wir brachten ihn einem Fischer am Schilfsee. Doch bei meinem Besuch vor wenigen Tagen dort musste ich feststellen, dass der Vogel nicht mehr im Besitz des Fischers ist.“

„Ha, dann musst du eben unverrichteter Dinge weiterziehen. Und deine heilige Dizi botest du mir schon damals. Du wusstest, dass es sinnlos war, sie mir anzubieten.“

Der Grobe tat, als wollte er sich umdrehen.

„Aber es muss doch etwas noch Edleres geben als ...“

schrie der Luanxing heraus.

„Dann gib mir dein Leben“, zischte ihn der Geti derb an und hatte sich bei diesen Worten ihm wieder ganz zugewandt.

Der Wandermönch fuhr zwei Schritte zurück.

„Mein Leben?“

„Ja!“

nun war der Finstere es, der einen Schritt vortat.

„Gib mir von deinem Blut. Ich lasse dich zur Ader. Ein halbes Sheng. Nicht mehr und nicht weniger.“

‚Oh, ihr Götter und Ahnen,’ dachte der Luanxing bei sich,

‚welch ein schrecklicher Mann! Mein Blut soll ich geben? Was wird der Böse damit machen? Werde ich dann noch im Lichte wandeln können? Werde ich noch an die gute Macht über mir glauben können? Werde ich noch zu Göttern und Ahnen gehören, oder im Banne des Bösen stehen?’ Er dachte aber auch an sein Ziel und an sein Vorhaben. Der Blick des Alten verriet die grausame Wahrheit seiner Worte. Es gab keinen Ausweg. Er würde darauf eingehen müssen. Aber was nur hatte diesen Menschen so verächtlich werden lassen? Wer nur hatte ihn so grausam und hässlich, gemein und ohne Erbarmen behandelt? Da der heilige Mönch wusste, dass niemand ohne das Zutun anderer so wird, wie es der Geti geworden war, drehte sich sein Herz in ihm um und er sprach zu dem Alten:

„Du bist grausam und böse.“

„So, bin ich das?“, kam es spöttisch aus dessen Munde.

„Das bist du.“

„Sei es drum – ja, ich bin grausam und böse. Willst du den Knochen des Prinzen, so will ich dein Blut.“

Luanxing wusste, dass er mit Worten nichts erreichen konnte. Nach dieser Rede nun, zog der Schatten erneut auf sein Herz. Er spürte, wie sein Erbarmen für den Finsteren erloschen war. Zorn und Wut kamen über ihn und sein Entschluss war gefasst. So schaute er den Geti an und sprach ruhig:

„Gut. Es sei das Blut!“

Der Einsiedler führte ihn in die verräucherte Höhle. Sie bestand aus nur einem Raum und hatte kein Fenster. Im Flackern der Öllampe, die auf dem mit Kerben versehenen Tische stand, leuchteten an der verrußten Wand Fratzen auf. Einen Herd und Rauchablass schien es hier ebenfalls nicht zu geben. Alles wurde wohl auf offenem Feuer gekocht. Auf den schwarzen Steinen des Bodens, rechts zur Ecke hin, stand ein Krug, in dem sich eine ölige Flüssigkeit befand. Von der Decke hing das Gerippe eines größeren Vogels. Auf dem Tisch rechts lag frisch geschlachtetes Geflügel. In dem Bau roch es nach verbranntem Haar, schaler Milch und gegorenem Kohl. Es war widerlich. Als der üble Zeitgenosse dem Luanxing gebot, sich auf den Schemel rechts neben den Tisch zu setzen, sprach dieser zu dem Geti:

„Zeige mir zuvor, ob der Knochen auch wirklich noch in deinem Besitze ist und lege ihn hier neben mich.“

„Oh, der Herr ist misstrauisch“, spöttelte der Alte und sein heiseres Lachen ging in einen schleimigen Husten über.

„Nun, du hattest selbst angedeutet...“

„Schon gut, schon gut“, zischte der Schwarze. Er griff ins Dunkle und der Mönch hörte, wie sich eine Truhe öffnete. Wenig später stand auf dem Tisch die wunderbare Jadetasse mit der geöffneten Persimone.

„Darf ich?“

Der Knochensammler nickte widerwillig und Luanxing hob die Persimone an.

Ja, den dreigliedrigen Fingerknochen des Heiligen gab es noch. Luanxing sah es trotz der dunklen Stunde mit Freuden, als er das Seidentuch aufgeschlagen hatte. Er schlug es wieder um den Knochen, schloss die Jade wieder, ließ sich auf dem Hocker nieder und legte seinen entblößten linken Arm mit geschlossener Faust und mit einem tiefen Seufzer auf den freien Platz der derben Holzplatte. Die Rechte aber ruhte in seinem Gewand und der Mönch lehnte sich seitlich an die Tischkante. Der Unfeine hatte ihm den Oberarm mit einem Hanfseil abgebunden und inzwischen die grobe Kanüle zur Hand genommen. Sie ging über in einen schlauchartigen Behälter. Der Schwarze klopfte den Arm des Luanxing ab, fand seine Stelle und nickte zufrieden. Er stand etwas links vor dem Mönch und hatte sich leicht über sein Opfer gebeugt.

„Du bist ein mutiger Mann“, raunte er vielsagend und mit einem dunklen Singsang in der Stimme.

Aber in dem Moment, wo die Nadel in die Vene einstechen sollte, zog der Luanxing seine Rechte aus dem Gewand und hieb das Messer gewaltig in die Brust des über ihn gebeugten Körpers. Von unten, mitten ins Herz stach er. Von der Wucht des Schlages wurde der Körper des Alten etwas aufgerichtet. Seine Augen schauten erst ungläubig und starrten dann entsetzt. Er stolperte zwei und drei Schritte nach rückwärts und die Kanüle fiel zu Boden. Der Mönch hatte den Schaft des Messers losgelassen und blickte dem Geti nach. Es schien, als wollte dieser etwas sagen. Doch dann sackte er mit einem Röcheln zusammen. Das Gewand war nass von frischem Blut. Im dumpfen Licht der Öllampe brachen die Augen des Unmenschen. Das Skelett an der Höhlendecke löste sich im selben Moment. Als es auf dem freien Platz des Tisches zerschellte, klang es wie das Auseinanderfallen eines Haufens von Reisstäbchen. Luanxing löste das Seil von seinem Arm, ergriff die Jadetasse und stürzte damit zunächst nach draußen. Die Hitze schlug ihm entgegen und sein Herz raste. Die Gegend war einsam. Niemand würde auf die Idee kommen, dass ein Mönch zum Mörder geworden war und gewiss hatte niemand seine Anwesenheit beobachtet. Aber was hatte er getan? Er war zum Totschläger geworden! Doch gab es allerdings Schlimmeres im Reich der Mitte. War der Knochen des Prinzen, den er für das Leben des Bambusvogels und vieler anderer Kreaturen gegeben hatte, es nicht doch wert? Der Wandermönch hatte sein Denken darüber geändert und meinte, dass es richtig war so zu handeln. Er stolperte noch einmal zurück in die Höhle, zog dem Opfer das Messer aus dem Körper, vergoss Tran über dem Leichnam und warf die Öllampe auf den Alten. Beim Hinauseilen hörte Luanxing das gewaltige Auflodern der Flammen. Wie von einer fremden Macht gesteuert, eilte der Mönch zu den Lehmbauten und entließ die geschundenen Kreaturen. Dann machte sich Luanxing auf verschlungenen Pfaden auf den Weg nach Golmud. Er wollte dem Da Daoshi die Reliquie bringen. Luanxing musste diesem aber auch berichten, was geschehen war. Als sich der Mönch umdrehte, stand über der Höhle schwarzer Rauch und ölige Flocken regneten vom Himmel. Das Messer jedoch hatte der Mönch bald in einen Bach, den er eilends durchschritt, geworfen.

Licht und Schatten (34)

Die Veränderungen im Leben des Yüo waren für alle im Kloster zu erkennen. Er lebte auf und konnte gar manchmal lachen. Jeden Sommer, gegen Ende eines Lehrjahres, zogen die Mönche in das Land, um den Menschen zu dienen. Sie leiteten sie an zur Meditation und lehrten sie in den sanften Künsten. Sie halfen bei der Ernte, beim Bauen von Hütten oder beim Spinnen von Kamelwolle. Sie gaben Ratschläge und erteilten Unterricht im Lesen und Schreiben. Ihre Ohren und Herzen öffneten sie für die Sorgen der einfachen Leute und ermahnten die, die einen Rang hatten, gerecht zu sein und ihre Macht nicht zu missbrauchen. Aber sie erwarteten nichts, sondern nahmen, was der Himmel gab oder ihnen in die Almosenschale gelegt wurde. Der Sohn des Bauern Ku ging den Novizen in allem voran, ermutigte sie und war ein Vorbild an Fleiß. Er lernte mit Begierde und wurde mehr und mehr wissend. Bei manchem rief das Neid hervor, bei anderen Missmut, wieder andere bewunderten ihn. Allein dem Niau-Zhuzi gegenüber hatte sich aber nichts Entscheidendes gewandelt. Seine erste Liebe zu ihm wollte nicht zurückkehren. Yüo konnte beten und fasten oder versuchen, was er sonst immer in Nöten tat. Es half nichts und allein das Vorwärtskommen im Kloster, die Ermutigung und das Lob, welches er von den Daoshis erhielt, bewahrte ihn vor noch mehr Tränen der Verzagtheit.

Shui huo wu qing – Flut und Feuer kennen kein Erbarmen.

Aber auch der Garten, den er vom Meister erbeten und den ihm der Yuanding zugewiesen hatte, gab ihm großen Halt. Yüo hatte schon bei seiner heimatlichen Hütte so manches Gewächs und Gekraut angebaut und herangezogen, doch nun wollte er sehen, welche Blüten, Wurzeln, Blätter, Früchte und Kapseln zur Heilung von Seele und Körper noch gut seien. Innerhalb der Klostermauern selbst und auch in der Stadt konnte er einiges davon vorfinden und es im Tausch mit Muscheln oder anderen Dingen erwerben. Es war ihm auch erlaubt, für diesen Zweck an so manchem Tag in das Tal und auf die Berge zu wandern. Er brachte dann auch diese oder jene Rinde von Bäumen und Heilung versprechende Pilze mit. Mehr und mehr füllten sich die Beete seines Gartens. Noch am Tage, an dem der Da Daoshi den Yüo zu dem vertraulichen Gespräch zu sich gebeten hatte, war der Gartenmönch ihm zur Baumgruppe von Birken vorangeschritten, dort wo auch in der Nähe der heilige Same aus Tienchou gelegt war und sprach zu dem Schüler:

„Eigentlich wollte der Herr dir dieses Stück dort drüben zugestehen.“

Er deutete mit seiner Rechten zu den Kiefern.

„Doch er hat deinem Wunsch entsprochen und so kannst du hier deinen Garten zu unserer aller Gesundheit anlegen.“

Er wuchtete den mitgeführten Bambusstab in den braunen Boden.

„Zwölf Schritte nach da und zehn Schritte nach dort; hier soll dein Kräutergarten uns alle erfreuen.“

Der Yuanding hatte seine Worte mit Handbewegungen untermalt und fügte noch hinzu, indem er seinen Kopf zu dem mit Schilf umwachsenen Teich wandte:

„Der Da Laoshi bat mich, dich mit der Fürsorge auch dieser zwölf Keimlinge zu betrauen. Es sind Zöglinge vom Ziegenhirtenfeigenbaum aus dem Lande Sind.“

„Ziegenhirtenfeigenbaum? Sind?“

Yüo sprach beide Worte langsam und etwas abwesend.

„Ja, mein Freund, unter einem solchen Baum saß und wartete einst der Prinz aus dem Lande Tienchou auf seine Erleuchtung. So jedenfalls sagen es die Geschichten, die uns vom Luanxing und seinen Begleitern gebracht wurden.“

„Ja natürlich, ich weiß. Auch ich erhielt einst von den Dreien Samen von diesem Baum.“

„Und?“

„Ich pflanzte sie im Garten bei meiner Hütte, die ich – wie du weißt – verlassen habe.“

„Ja, ich weiß. Dann haben wir dazu noch etwas, was uns verbindet.“

Als sie so sprachen, sah Yüo den Guang, den Jiao und den Wandermönch vor sich. Er hörte sie sprechen, er hörte die Melodie, die ihm auf der Flöte vorgespielt worden war. Die Drei waren ja hier gewesen und durch den eingepflanzten Samen aus dem Lande Sind schienen sie auch jetzt gegenwärtig. Nun wurde ihm anvertraut, zu dem Gelingen der heiligen Saat beizutragen. Er hoffte aber, den Mönch mit seinen beiden Begleitern noch einmal in seinem Leben anzutreffen, oder doch zumindest von ihnen zu hören. Das Reich war groß und es gab noch andere Herrschaftsgebiete in dieser Welt. Vielleicht würden sich ihre Wege ein zweites Mal kreuzen. Vielleicht!

Yüo wurde aber auch gleichzeitig daran erinnert, dass dies damals auch der Tag gewesen war, an dem er begonnen hatte, den Käfig für den ersehnten Vogel zu bauen. Es waren auch die Stunden der großen Sehnsucht nach dem Bambussänger gewesen. Jetzt war dieses wunderbare Geschöpf eingesperrt, dort unten in Golmud in seiner Herberge. Genauso aber fühlte sich Yüo in seinem Inneren beengt. Er konnte sich nicht erklären, warum diesem Gefängnis nicht zu entkommen war und ihm war es zuwider, den Rat des Seelenheilers Zhiliao zu befolgen und sich mit den Schlangen und Dämonen zu versöhnen. Im Gegenteil, er bestand darauf, sie fortzujagen. Oft quälten ihn Schmerzen in der Brust und ein beißendes Ziehen in der Kehle. Er weinte heimlich in seiner Kammer, auch im Angesicht des Vogels. Es musste etwas geschehen, jedoch noch nicht, aber bald. Yüo wusste bei sich, dass es unbillig war, den Pflanzen seine Zuwendung zuteilwerden zu lassen, den Niau-Zhuzi aber zu vernachlässigen. Er konnte nicht tagelang in der Gegend herumstreifen, um Samen, Keimlinge, Blumen, Pilze und Kräuter zu sammeln, sich mit Bauern und Hirten, Alten und Weisen, Soldaten des Kaisers über die heilende Kraft des einen oder anderen auszutauschen, dann aber für den Bambussänger kaum einen fingerbreit Zeit am Tag zu haben. Sein Kopf hatte dies alles wohl verstanden, allein, in sein Herz war es nicht vorgedrungen. Seine Bemühungen um den kleinen Klostergarten jedoch waren unübersehbar. Er säte und pflanzte, säuberte die Beete von wildem Wuchs, grub und goss, erntete und ließ trocknen, was er eingebracht hatte. Solche Art von Arbeit lenkte ihn ab, ließ ihn vergessen. Aber nur für diesen Moment. Manches von dem, was er heranwachsen ließ, konnte aufgekocht und als Cha getrunken werden, anderes wurde zu Pulver zerstoßen und dem Essen beigemischt, und manches vermengte Yüo mit dem Honig der Rapsblüten und es war so als süßer Seim angenehm einzunehmen. Er setzte den Fingerhut in den Boden, dessen Wurzeln das Blut kühlen und den heißen Durst der Erkrankten stillte. Aus dem Fu Ling, einem recht häufig zu findenden Pilz, mischte er ein Mehl, das die Milz kräftigt, die Verdauung stärkt und das Herz und den Geist beruhigt. Mönche, deren Haut sich gerötet hatte oder gar aufgebrochen war, baten um den noch ungekeimten Hanfsamen Huo Ma Ren, der ebenfalls gut gegen Verstopfungen und Blutmangel ist und andere kamen, wegen des He Shou Wu Krautes, welches die Verhärtung der inneren Blutbahnen und das Ergrauen oder gar Verlustes des Haupthaares verhinderte. Doch nicht nur die Klosterbewohner genossen diesen Reichtum der Arzneimittel; es kamen auch Fremde, manche von weit her, weil sonst niemand ihrer Schwäche Herr wurde. Nur seine eigene Krankheit konnte Yüo nicht beseitigen.

Wiederum fielen die Blätter, dann folgten bittere Kälte und Schneegestöber, hartnäckig, um dann doch wieder dem Erwachen der Natur nachzugeben. Es wurde Frühjahr in Golmud. Yüo saß eines Abends nach dem Klosterstudium in seiner staubigen Klause und hatte die Türe des Vogelkäfigs geöffnet. Der Bambussänger hüpfte in die kleine Freiheit, aber wäre wohl gerne hinaus in die Gassen und von dort in die Steppe, in die Wälder, an die Bäche und nahe gelegenen Gärten geflogen. Der junge Mann spürte die Sehnsucht des Niau-Zhuzi und entschied, mit der Voliere hinaus in den Abend zu gehen. Der Sommer würde bald beginnen und die Sonne stand noch drei handbreit über dem westlichen Horizont. Yüo marschierte also, den Käfig auf dem Rücken, durch das südliche Stadttor und bald hinab in eine seichte Senke, wo er schon so manches heilende Kraut und köstliche Beeren gesammelt hatte. Die Vögel sangen lieblich, ein kleines Gewässer sprudelte über braune und graue Kiesel, Schmetterlinge flatterten um Sträucher und Bienen sammelten Nektar aus den ersten Blüten. Linker Hand erstreckte sich das Gelb eines Feldes voller Krokusse und auf der anderen Seite des Baches wuchs bereits der wilde Mohn. In der Ferne erhob sich Rauch in den Himmel, an dem grauweiße Wolken ruhig daher zogen. Schwalben stürzten mit ihrem schrillen „Tschirp, Tschirp“ Mücken nach und kamen dabei dem Wasser des Bächleins sehr nahe. Morgen würde es Regen geben.

Yüo setzte den Käfig ab und ließ sich daneben auf einem Stein nieder. Er öffnete das Gitter und der Vogel flog sofort hinaus, um sich, wie einst auch vor der Hütte in der alten Heimat, in einem Ginster nieder zu lassen und begann seinen herrlichen Cantus zu singen. Yüos Herz floss über vor Glück und Erregung. Er lauschte und fühlte die Vergangenheit und flüsterte:

„Oh, mei ren de Niau-Zhuzi, wo fei chang gao xing ni ren shi. - Oh, lieblicher Bambusvogel, wie gut, dass ich dich kennengelernt habe!“

Die Schatten schoben sich über die Mulde, doch der Sohn des Bauern Ku blieb. Erst als die Kühle der Nacht sich meldete und der Vogel sein Gefieder nach dem Bad im Wasser mit seinem aschedunklen Schnabel unermüdlich bearbeitet hatte, entschloss sich der Sohn des Ku, in seine Bleibe zurück zu kehren. Als er sich vom Stein erhob und seine Kleider ordnete, blieb es ihm leicht ums Herz, denn der Bambusvogel flog zurück in seinen Käfig. Yüo konnte an diesem Abend den Göttern von ganzem Herzen danken. Für alles! An diesem Abend.

Doch es blieb nicht so. Yüo ertappte sich dabei, wie er sich einen der majestätischen Adler, die am Himmel kreisten, als Besitz wünschte, wohl wissend, dass dies für ihn nicht der passende Ort wäre. In den Gassen der Stadt boten Händler Falken und Sperber feil und er begehrte sie, wohl wissend, dass er sie nicht erlangen konnte. Auf seinen Streifzügen nach Pflanzen und Blumen sah er Blutfasane, die ihn betäubten, wohl wissend, dass sie ihre Freiheit brauchten. Eigentlich geschah in seinem Innern nur das, wofür er der Allmacht an anderer Stelle früher dankbar gewesen war. Yüo konnte sich einst an der wunderbaren Schöpfung nicht satt genug sehen. Jetzt war dies alles unheilvoll und war die gleichzeitige Herabwürdigung seines Bambusvogels. Hätte er sich doch sagen können, dass es wohl auch andere schöne Vögel gab – jedoch der Bambusvogel der Vogel seines Herzens bliebe. Das, was er nicht besaß, war immer anziehender als der gegenwärtige Schatz. Wann immer der junge Bauer ein gefiedertes Geschöpf erblickte und es ihm gefiel, unterlag der Niau-Zhuzi ihnen in seinen Gedanken. Ob es das Aussehen, die Ausstrahlung oder der Gesang der anderen Geschöpfe war, schienen sie ihm doch begehrenswerter. Schwarz oder Weiß, Ja oder Nein, heiß oder kalt. Aber Yin und Yang sind nicht so. Das Yin trägt etwas von dem Yang in sich und umgekehrt ist es genauso. Wie auch der Mann Teile des Weibes in sich trägt, der eine mehr, der andere weniger, so ist es auch bei dem Weibe, welches Männliches in sich hat. Wann würde Yüo diesem Schicksalhaften auf die Schliche kommen? Wann könnte er diesen dämonischen Ring durchbrechen? Wann endlich würde er erkennen, was die eigentliche Sehnsucht in ihm war? Wann würde durchbrechen, was sich hinter den Dämmen von Lügen, Scham und selbst auferlegten Gesetzen unaufhörlich staute?

Abschied von Golmud (35)

Es waren drei Jahre, die Yüo im Kloster der Adler verbrachte. In dieser Zeit wuchs er wohl innerlich, war aber doch seinen Altergenossen gegenüber in Reife immer noch unterlegen. Zwar sahen alle seine Bemühungen und seinen Eifer, es schien aber, als käme der Antrieb dafür von außen, die Kraftquelle war nicht in ihm selbst. Es gab nur wenige innerhalb der Klostermauern, ja, es waren nur derer zwei, die durch all das hindurchschauten zu dem, was einmal werden könnte. Sowohl der Da Daoshi als auch Bang-Zhu, sein treuer Gefährte, glaubten an eine endliche Vollendung des jungen Novizen. So zog der letzte Sommer in das Land der Mitte. In Chang-An, am Gelben Meer, in der Gobi, in Dunhuang, im Tarimbecken, in Qaidam, an den Terrassen im Hochland und in Golmud stand das Jahr im Zenit. Einmal noch würden die Novizen für drei Monate in das Land ziehen, um zu erproben und zu betreiben, was sie gelernt hatten. Nach dieser Zeit würden sie diesmal nicht nach Golmud zurückkehren. Jeder von ihnen war herausgefordert, dann seinen eigenen Weg zu finden und ihn zu gehen. Der Weise und Erhabene rief die Schülergemeinschaft in die Gebetshalle. Dort nun saßen sie mit gekreuzten Beinen auf dem Boden, die flachen Hände auf den Schenkeln, dem Ruhesitz gleich. Innerlich jedoch waren sie gespannt wie des Kaisers Bogen, in Erwartung auf das, was der Herr ihnen zu sagen hatte. Ihre Kutten waren von einem hellen Gelb mit grünen Borten versehen. Wie ein Rapsfeld in seiner vollsten Blüte erschienen sie. Durch die offenen Fenster klangen die Melodien eines schönen Sommertages - Vogelstimmen, Rauschen von Blättern und das sphärische Klingen der Bambusstäbe.

Als der Da Daoshi eintrat, erhoben sich alle wie auf einen unhörbaren Befehl hin, verbeugten sich tief und ließen sich erst auf das Zeichen des Herrn und das Klatschen des Gebetsmönches hin wieder zurück auf den Boden gleiten. Dann übertönte das Rauschen der Gewänder für einen Moment das Konzert der Natur und bei allem war der Saal von Jasmin und anderem Räucherwerk erfüllt. Auch der geistliche Fürst hatte Platz genommen. Auf einem erhöhten Hocker saß er. Mit ihm hatten zwei erfahrene und weise Mönche die Halle betreten. Es waren Bang-Zhu und der Lehrmeister für die sanften Künste. Dieser aber hatte den Namen Wenrou. Wie auch der Erhabene, waren sie beide in karmesinrote Kleider gehüllt und saßen seitlich des Herrn. Bedächtig und mit tiefer Stimme begann nun der Da Daoshi zu den jungen Männern zu sprechen. Es waren zwölf und sieben, denen er nun noch wenige Ratschläge und den Segen des Klosters mit auf ihren Lebensweg geben würde. Als im Herbst vor drei Jahren der Sohn des Ku um Aufnahme in das Kloster gebeten hatte, war dies auch eine Erhörung der vielen Gebete, die der Da Daoshi gemeinsam mit vielen Räucheropfern hinüber zu den Ahnen geschickt hatte. Denn einen Monat zuvor war einer der angekündigten Novizen ausgeblieben und damit waren die heiligen Zahlen nicht erfüllt. Jedes Jahr, so geboten es Tradition und Glaube, sollte das Maß der Vollkommenheit erfüllt und der Kreis der geistigen und unsichtbaren Kraftquellen geschlossen sein. Dies war auch ein Schutz vor den bösen Geistern und gleichzeitig eine Bürgschaft für das Gelingen innerhalb und außerhalb der Klostermauern. Außerdem – so wusste der hohe Herr es inzwischen – musste es auch eine Fügung der Götter gewesen sein, dass ausgerechnet Yüo es war, der die heilige Zahl erfüllte.

Der Tempelfürst wollte die Schar der vor ihm Sitzenden in zwei Gruppen teilen und sie zu ganz verschiedenen Orten entsenden. Die Einen waren zur Reise nach Osten bestimmt, die Anderen sollten gen Norden ziehen. Dort musste ein jeder seinen eigenen Weg finden, bis auf zwei von ihnen. Denn der Da Daoshi wusste, dass jede der Wirkungsstätten, zu denen er die Novizenschar entsenden würde, einen der Mönche gerne auf Dauer behielte. Das war schon zur Tradition geworden und es hatte sich so unter den jungen Novizen von Anbeginn an herumgesprochen. Jeder aber hoffte, die Wahl würde auf ihn fallen. Es gab auch einige unter ihnen, die meinten, sie wären ganz bestimmt die Ausgesuchten. Aber die endliche Entscheidung der Klöster war immer für eine Überraschung gut. Wie dem auch sei, ein Zurück nach Golmud gab es für keinen von ihnen. Nur die beiden Leiter der Gruppen, der Bang-Zhu und der Wenrou, waren im Kloster der Adler unersetzlich. Als er mit seinen ernsten Worten geendet hatte, zog der Abt mit seiner Hand eine unsichtbare Linie mitten durch die Schar der jungen Diener und sprach:

„Jene zu meiner Rechten sollen in drei Tagen nach Hai-Mahe aufbrechen, das im Osten am Blauen See liegt.“

Ein zufriedenes Lächeln glitt über die Gesichter der Angesprochenen und ein leises Gemurmel erhob sich im Saale, denn die Gegend an diesem Wasser hatte einen guten Ruf und nicht weit entfernt von ihm befanden sich die fünf heiligen Berge.

„Diejenigen zu meiner Linken“, so fuhr der Herr fort,

„entsende ich nach Norden, bis sie die Stadt Dunhuang erreichen. Nahe bei den Orten gibt es jeweils ein Kloster, in dem ihr für drei Monate euren Dienst tun und die Götter um Rat für den weiteren Weg bitten sollt.“

In der Mitte der letzten Reihe kniete etwas versetzt Yüo und die gezeichnete Linie des Meisters war durch seine Mitte geglitten. Yüo schaute erst nach links und dann nach rechts und blickte fragend nach vorne. Das Herz aber des großen Meisters war voller Liebe für den Sohn des Bauern Ku

„Yüo.“

„Herr?“

„Welchen Weg wählst du?“

Alle Schüler wandten ihre Köpfe zur Seite und nach hinten und achtzehn Augenpaare waren gespannt auf den Yüo gerichtet.

„Herr, ich darf mich selbst entscheiden?“

„Ja, denn du sitzt mir ja direkt gegenüber. Da du dich nicht teilen kannst, musst du dich nun festlegen. Oder möchtest du, dass ich das für dich übernehme?“

Yüo überlegte einen kurzen Moment. Er erinnerte sich an die Worte seines Klosterfreundes Schmalgesicht, der ihm bei seiner Ankunft hier in Golmud erzählt hatte, wohin Luanxing und wohin die beiden Sanghas weitergereist waren. Er fühlte sich aber zu den beiden Fremdländern hingezogen, besonders zu Guang. Er hoffte nun, ihm auf seinen Spuren folgen zu können. Yüo sah hinüber zu Bang-Zhu und meinte, ein kaum merkbares Nicken seines Kopfes zu sehen.

„Oh, Laoshi, es soll der Norden sein.“

sprach er und wandte sein Gesicht wieder dem Meister zu.

„Aber Dunhuang liegt inmitten von Sümpfen, ...“

sprach der Herr des Klosters und fuhr fort:

„Wusstest du dies nicht?“

Der Sohn des Bauern Ku schüttelte den Kopf und alle Augen waren nun wieder auf den Tempelherrn gerichtet. Dabei ging ein aufgeregtes Raunen durch den Gebetsraum. Bei einigen der Novizen aber standen die Münder vor Entsetzen offen.

„Seid getrost“, sprach der Abt dann befreiend und wendete sich dabei vor allem zu denen, die zu seiner Linken saßen und fuhr fort:

„Das Kloster selbst nämlich liegt weit genug von den feuchten Wiesen und Mooren entfernt in den Bergen.“

Ein Lächeln glitt über sein erhabenes Gesicht und die Schar beruhigte sich wieder.

„Der Norden also?“

„Ja, Herr, der Norden.“

„Gut, Yüo, du wirst so reisen, wie du dich entschieden hast.“

Der Fürst ließ eine Pause folgen. Auf den Gesichtern der künftigen Mönche war nicht zu lesen, was bei diesem Vorgehen ihres Meisters sich in ihnen bewegte. Bevorzugte er den Sohn des Bauern Ku? War dieser nicht als Letzter von ihnen in das Kloster gekommen? Hätte nicht der Herr dann vor allem auch ihnen die Entscheidung selbst überlassen sollen? Neid und Ärger kroch in die Herzen so manches Novizen. Doch keiner von Ihnen wagte, es in diesem Moment zu zeigen. Im Gegenteil, manche versuchten zu lächeln. Der Da Daoshi aber breitete seine Arme aus und redete zu ihnen allen wie ein guter Vater, so, als könne er ihre Gedanken erraten.

„Ich will euch noch eine Geschichte erzählen.“

Alle lauschten nun gespannt dem Da Daoshi und er begann zu erzählen:

„Am Hofe des Kaisers gab es einmal einen Streit zwischen dem Tee und dem Wein. Beide meinten, sie wären das genussvollste Getränk, das im Palast geboten werde. Der Tee zählte all seine Vorzüge auf und der Wein tat es ihm gleich.

‚Ich kann beruhigen und aufwühlen,’ meinte der Tee.

‚Das kann ich auch und noch dazu lustig machen,’ erwiderte der Wein.

‚Aber wer zu viel von dir genießt, wird leichtsinnig oder gewalttätig,’ meinte nun der Tee.

‚Und wer dich nicht richtig zubereitet, schüttelt sich vor Bitterkeit.’ So ging es lange Zeit, bis das Wasser zu ihnen trat und sprach. ‚Was wäret ihr beide ohne mich? Keine Traube wäre prall und kein Blatt wäre genießbar ohne mich und was ist in der Wüste, wenn alle vor Durst fast sterben. Fragt dann jemand nach Wein? Bittet dann jemand um Tee? Nein, alle sehnen sich nach einem Schluck von mir!’

Da gaben der Tee und der Wein dem Wasser Recht und sprachen: ‚Du bist das Wertvollste und Genussvollste von uns dreien.’“

Die folgende Stille sollte dem Erzählten Nachdruck verleihen. Und ganz offensichtlich waren die Zuhörer beeindruckt. Der Meister genoss es und meinte dann:

„Nun, weder der Blaue See, noch Dunhuang sind die besseren Plätze. Sie bedeuten nichts, wenn nicht euer Herz aufrichtig und willens ist, das Gute zu tun. Bei allem und für euer ganzes Leben bedenket dieses:

Xiao bu ren luan da mo – wer nicht das Kleine duldet, der wird auch nicht groß.“

Wie sich nach vielen Jahren Yüo erinnerte, war das der Moment gewesen, wo der Tempelfürst seine Ansprache beendet hatte und bereit gewesen war, noch Fragen stellen zu lassen. Da war ein Pochen an der Tür der Halle zu hören gewesen und Bang-Zhu hatte fragend zum Herrn des Klosters gesehen. Dieser hatte genickt und der Mönch war zum Eingang gelaufen. Gespannt schauten alle, was sich nun ereignen würde. Einer der Arbeitermönche trat ein, murmelte dem Langgesicht etwas zu und deutete auf den Da Daoshi. Bang-Zhu aber trat zu dem Tempelherrn und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Wenig später verließ dieser den Raum und bedeutete seinen Zuhörern, zu warten. Wie ein Windstoß durch den abendlichen Hain, begann nun ein aufgeregtes Gerede unter den Wartenden. Es dauerte doch eine geringe Weile, bis der hohe Meister wieder in die Halle trat. Die Münder verstummten und Novizen und Mönche erhoben sich wie gewohnt. Doch dieses Mal unterblieb die auffordernde Handbewegung sich zu setzen, dieses Mal unterblieb das Klatschen des Bang-Zhu. Auch die beiden hohen Mönche blieben stehen. Caifeng-Pidai schaute ernst und seine Worte kamen langsam, so als müsste er diese zuvor noch einzeln sammeln.

„Heute bei Sonnenaufgang kam ein Bote aus dem Osten nach Golmud. Der Präfekt unserer Stadt lässt uns ausrichten, dass der göttliche, erhabene und unsterbliche Kaiser Wang Mang – er möge zehntausend Jahre leben - durch eine Revolte von seinem Thron gestoßen wurde. Soldaten des Machthabers der Stadt Luoyang haben die Kaiserstadt angegriffen und sie verwüstet. Nun sei, so berichtet der Bote, Liu Xuan, der sich Gengshi nennt, aus dem Hause der Han zum neuen Oberhaupt von Zhong Guo ausgerufen worden. Er hat seine Stadt zum neuen Zentrum des gelben Volkes erwählt.“

Der Tempelfürst verstummte eine Weile, und hätte jemand ein Reiskorn fallen lassen, hätte es in diesem Moment wie ein Trommelschlag geklungen.

„Wird es Krieg geben?“, kam es nun doch aus dem Mund eines der Novizen.

„Das vermag niemand zu sagen“, antwortete der Erhabene in einem Ton, der dem Ungefragten Verzeihung gewährte.

„Wang Mang wurde in den Kerker geworfen, doch die Kaisergattin und viele Mitglieder der Familie Xin, ebenso auch die Minister und Berater sind enthauptet worden. Die Eunuchen und Konkubinen wurden an die äußeren Siedlungen unseres Reiches vertrieben. So hat es uns der Bote übermittelt. Es ist eine raue Zeit außerhalb dieser heiligen Mauern und wie ihr seht, wird die Reise nach Osten unsicherer sein, als die zu den Sümpfen im Norden. Bedenkt aber die kleine Geschichte von Tee, Wein und Wasser, wie ich sie euch soeben erzählt habe. Wer glaubt, benachteiligt zu sein, wird vielleicht am Ende gesegnet sein und die Letzten werden womöglich die Ersten sein und die Ersten die Letzten.“

Nun zog Beschämung in die Herzen der Schüler. Der Abt legte wiederum eine Pause ein und fuhr nach dieser aber in einem erhobenen, ja fast scharfem Ton fort. Er sprach nun mit einem Male nicht mehr als Vater, sondern als Gebieter, als er sagte:

„Auch wenn ich des Aufruhrs müde bin, auch wenn ich es nicht mehr hören kann. Wir alle sind dem neuen Kaiser verpflichtet, denn unsere Aufgabe ist es nicht, gegen ihn zu sein, sondern für die Armen und Geschundenen zu kämpfen. Zwar war es der nun gestürzte Machthaber, der von der Lehre des Prinzen aus Sind träumte, die uns neu inspiriert hat. Doch Kaiser werden von den Göttern eingesetzt und wohl auch wieder abgesetzt. Sie sind Göttersöhne, die gesandt und zurückbeordert werden von den Mächten des Himmels.“

Der Herr verordnete der Versammlung eine kurze Schweigezeit. Dann entließ er beide Gruppen der Novizen mit den folgenden Worten:

„Auch wenn die Zeiten im Umbruch sind, werdet ihr in drei Tagen von hier aufbrechen. Bang-Zhu wird mit der Gruppe nach Dunhuang, zum Pferdehufkloster ziehen. Wenrou mit den anderen zu unseren Brüdern, im Kloster der Sieben Blüten am Blauen See. Wenn ihr auf Soldaten mit dem Banner des neuen Kaisers trefft, dann werft euch vor ihnen nieder. Begegnet ihr aber denen, die noch zu dem Entmachteten halten, dann segnet sie und bittet, dass sie euch verschonen.“

Freiheit (36)

Seit Tagen wanderte die Gruppe der Novizen gen Norden. Auch Bang-Zhu trug jetzt ein Gewand in Gelb. Gestern hatten sie Qaidam hinter sich gelassen und waren zuvor durch die Siedlung Qarhan gezogen. Dort zogen sie am Park vorbei und durch das Weberviertel. Da kamen dem Yüo die Erinnerungen an das Gespräch mit dem Seelenheiler. Mit Schmerzen und Zorn dachte er an die Schlangen, die ihm immer noch arg zu schaffen machten. Es war ihm nicht gelungen, sie zu vertreiben. Verstohlen hatte er deshalb eine zeitlang zu Boden geschaut. Allein Schmalgesicht konnte sicher wissen, warum. Es gab jedoch etwas anderes, was Yüo dem Bang-Zhu gegenüber ein wirklich schlechtes Gewissen machte. Diese Gedanken allerdings konnte Schmalgesicht nicht erraten und es geschah noch weiteres auf dem Wege: In Momenten des Unbeobachtetseins stichelte so mancher der Jünger den Yüo wegen der Bevorzugung durch den Meister des Klosters. Andere aber hatten die Worte des großen Daoshis in ihren Herzen behalten und schützten ihn.

„Aber ich saß doch nur zufällig in der Mitte des Saales. Es hätte auch einer von euch sein können“, entgegnete dann der Ungeliebte denen, die ihn angriffen.

„Nein, es war gewollt“,

meinten dann diese.

„Nein, war es nicht.“

„War es doch.“

„War es nicht.“

„Lasst ihn endlich in Ruhe,“ gingen die anderen dazwischen und meinten:

„Ihr seid doch nur mit Neid erfüllt!“

So ging es hin und her, bis endlich auch Bang-Zhu aufmerksam wurde und die Schar beruhigte. Auf den staubigen Straßen kamen ihnen Gruppen von Pilgern, Abteilungen von berittenen Soldaten und hohe Abgesandte der Städte und Kreise entgegen. Standarten und Fahnen wehten, Banner flatterten im Wind. Das Getöse von Streitwagen war zu hören. Stimmen und das Klappern der Hufe mischten sich darunter, und ebenso war das Gebimmel von Glocken und Klangsteinen zu vernehmen. Adelige auf Fuhrwerken wurden von Bediensteten und verschleierten Frauen zu Fuß begleitet. Die Mönche wichen diesen in die Kaiserstadt Reisenden an den Wegesrand aus und segneten sie im Vorbeiziehen. Manch einer von Ihnen warf den heiligen Männern ein Almosen zu.

In den kleineren und größeren Orten wurden sie freundlich aufgenommen, wenngleich es wegen der Reisenden oft schwer war, eine passende Herberge zu finden. Doch ein Stall und etwas Stroh reichte ihnen. Von kriegerischen Vorfällen war nichts zu merken. Rechter Hand am Horizont wurde die Gruppe der Mönche von den Anhöhen der Rong-Steppe begleitet. Bis dahin war das Land eben und erschien den Wanderern wie ein bunter Flickenteppich: Hirse, Hanf, Raps, Kohl, Mohn, Lavendel und verschiedenste Sorten von Birnen, Pflaumen und Äpfel wurden hier angebaut. Die sanfte und grüne Hügelkette versperrte ihnen nach Westen hin den Blick. Die Kleidung der Pilger war durch den Staub des Weges grau geworden und in ihren Gesichtern hatte der Dreck der Straße Flecken hinterlassen. Besonders Yüo war gezeichnet. Er litt zunehmend unter der Last des Vogelkäfigs. Natürlich hatte er den Niau-Zhuzi nicht in Golmud zurückgelassen. Er hatte sich diese Last zusätzlich zu dem üblichen Hab und Gut zugemutet.

Als sie einmal wieder rasteten, trat Yüo abseits zu dem Bang-Zhu und sprach:

„Wo de peng you, ich habe eine Bitte ... und ich weiß nicht, ob du sie mir gewähren kannst.“

Der Novize hatte sich leicht verbeugt.

„Was ist es, um das du mich bitten willst?“

Bang-Zhu hatte eine einladende Handbewegung gemacht und Yüo ließ sich bei ihm nieder. Seine Zuversicht schien belohnt zu werden.

„Nun, siehe ...“.

Yüo wandte sich gen Osten und streckte seinen Arm aus.

„Dort, weit am Horizont, liegt die Rong-Steppe, und auf ihr steht, wie du weißt, meine Hütte. Es mögen von hier zwei oder drei Tagesreisen sein.“

„Ja?“

Bang-Zhu hob die Schultern, verzog aber ansonsten keine Miene und fuhr fort:

„Warum erzählst du es mir, wenn du doch weißt, dass ich es weiß, was willst du mir wirklich sagen?“

„Du hast Recht,“ unterbrach ihn Yüo.

„Ich hätte dir gleich sagen sollen, was ich möchte.“

„Und? Was möchtest du?“

Bang-Zhus Augen blitzten und er schaute streng. Zu streng, meinte Yüo.

„Mein Herr ... und Freund ... ich möchte nach dort reisen.“

„Wie nach dort?“

„Zu meiner Hütte, Herr.“

„Du willst so kurz vor dem Ziele aufgeben?“

„Nein, natürlich nicht.“

„Du weißt, wir müssen nach Dunhuang.“

„Aber ich werde nur eine Nacht in meiner Bleibe schlafen und von dort so schnell ich vermag, gen Norden eilen, um wieder auf euch zu treffen.“

„Niemals wirst du dies schaffen. In den vielleicht fünf oder sechs Tagen, die du dafür benötigst, sind wir längst ...“

„ ... Und ich vermag doch, es zu schaffen!“

Das zarte Pflänzchen der Zuversicht schien zertreten, aber Yüo wollte nicht aufgeben.

„Bedenke doch, dass in diesen Tagen viele Menschen unterwegs sind. Es ist gefährlich, allein zu reisen. Was willst du denn eigentlich bei deiner Hütte? Ist es so wichtig, dass du unseren gemeinsamen Weg nicht mehr teilen willst?“, fragte der Bang-Zhu.

„Herr, der Besuch meiner Hütte ist für mich sehr wichtig, denn...“

Bang-Zhu unterbrach ihn.

„Wichtig? Wichtig ist, dem Klosterherrn zu gehorchen!“

„Aber ich bin sicher, er würde es mir erlauben!“

„Da bin ich mir nicht so sicher.“

„Doch, Herr.“

„Nein!“

„Doch!“

„Wie du meinst.“

Schmalgesicht hatte seine Lippen etwas nach vorne geschoben und auf seiner Stirn hatten sich Falten gebildet. Er war klug genug, nun nicht weiter zu fragen und sich dem Anliegen des Yüo in den Weg zu stellen. Eines aber konnte er sich nicht versagen und meinte:

„Sei ehrlich, du hast diesen Abstecher zu deiner Hütte von Anbeginn geplant, aber erst jetzt, wo wir weit genug vom Kloster entfernt sind, rückst du mit deinem Anliegen heraus, denn hättest du mir dieses in Golmud schon offenbart, womöglich ...“

Yüo unterbrach den Mönch:

„ ... Ja, ich gebe es zu. Ich plante es von Vornherein und ich hatte Angst, die Reise nach Dunhuang womöglich dann nicht mit antreten zu dürfen und mit den anderen nach Hai-Mahe ziehen zu müssen.“

Der alte Mönch schaute dem Sohn des Bauern Ku in die Augen und konnte nicht anders, als so zu reden:

„Gut, also sei es drum. Wir werden uns beim Tragen des Käfigs abwechseln, denn sicher willst du den Vogel nicht mitnehmen und auch alles andere bei uns lassen. Nimm nur das Notwendigste mit dir.“

„Nein, mein geliebter Mitbruder, gerade der Bambusvogel soll dann bei mir sein. Und für mich selbst brauche ich nicht viel.“

Yüo sah den Bang-Zhu nun mit solch einem Flehen in den Augen an, dass dieser im Herzen noch weicher und noch nachgiebiger wurde.

„Nun, ich will nicht fragen, was du mit diesem Abstecher letztendlich erreichen willst, aber im Namen der Götter und der Ahnen magst du gehen. Wir werden ein wenig langsamer wandern, denn mit dem Käfig auf dem Rücken wird es nicht so einfach sein, uns wieder rechtzeitig zu erreichen. Ich hoffe doch sehr, dass du noch vor Dunhuang auf uns triffst.“

„Aber ja!“

„Gut. So sei es.“

„Xie, xie – wo de peng you.“

“Danke nicht mir mein Freund, sondern den Göttern, die dir diese Überzeugungskraft schenkten.“

Am nächsten Morgen trennte sich der junge Bauer von der Gruppe. Fragende Gesichter ließ er zurück. Auf der Schulter die Voliere, ein wenig Hirse und Pemmikan in den Gewandtaschen, marschierte er streng gen Osten. Bäche und Gräben zwischen den Feldern gab es genug, so dass es ihm an Wasser nicht mangelte. Nach zwei Tagen erreichte er den Ming Liang und folgte ihm ein Stück nach Süden, bis dieser ihn dann wieder nach Osten wies. Immer vertrauter wurde ihm die Gegend. Yüo freute sich darauf, seine eigene Parzelle bald wieder betreten zu können. Drei Winter und drei Sommer war diese verwaist gewesen. Als er damals nach Golmud aufgebrochen war, hatte er um seine Hütte herum alles in Ordnung gebracht. Das Federvieh mit dem bunten Hahn, die Ziegen und den Bock und das Maultier hatte er sich selbst überlassen. Sie würden zurechtkommen.

Auf dem Tisch in der Hütte hatte er einen verschlossenen Steinkrug mit Wein, einen Bottich mit fermentierter Ziegenmilch, in Salz eingelegte Zwiebeln, eine Schüssel mit Hirsekörnern und einen harten Käse hinterlassen. Für Pilger und Wanderer, die hier durchreisten, hatte er gedacht. Denn so war es seit Menschengedenken Sitte im Reich des Gelben Flusses. Zwar war die Tür von Außen mit einem Riegel versehen, doch nur so, dass ein Fremder zum Eintreten geladen war. Niemand missbrauchte diese Art von vertraulicher Gastfreundschaft. Denn auch die Angst vor dem Herdgeist war allgegenwärtig. So legte jeder vor seinem Weiterziehen das eine oder andere für den nächsten Besucher auf den Tisch. Endlich, am Abend des dritten Tages, erreichte Yüo die Terrassen, die er einst bebaut hatte. Sie waren verwildert und die Bäume schienen gewachsen. Die Hütte wurde von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne in orangenes Licht gehüllt. Yüo stieg hinauf und fand um sein Heim alles recht ordentlich vor. Die Steine der Feuerstelle lagen im Kreis, und unter den alten Kastanien stand, mit Laub bedeckt, das vertraute Weinfass. Das Dreibein für die Kochstelle, Suppenkessel und Bratpfanne lehnten immer noch an der Hüttenwand. Yüo schaute auch nach den ausgesäten Feigenbäumen im Garten und tatsächlich wuchsen hier bereits drei kleine Triebe. Die Tiere aber waren fort. Yüo stellte den Vogelkäfig nahe der Gartenmauer ab, entfernte die Schilfmatte vor dem Fenster seiner Hütte und trat ein. Krug, Bottich und Schüssel standen auf dem Boden und waren geleert worden. Auch die Zwiebeln musste jemand gegessen haben. Stattdessen lagen ein paar stark geräucherte Hasenpfoten, eingewickelt in ein Tuch, auf dem Tisch. Daneben, im Kreis angeordnet, acht Jadesteine, weiße und schwarze und ein mit einem größeren Kiesel beschwertes Pergament. In den Hasenpfoten und den Jadesteinen sah Yüo Botschaften. Gewiss war die Speise von dem Händler Mai als Zeichen, dass er hier gewesen war, um nach dem Rechten zu sehen. Mai aber wusste nur zu gut, wie gern Yüo gedankenverloren am Feuer sitzen konnte und dabei die Knochen der Hasenpfote bis auf den letzten Rest Fleisch abnagte. Die Zahl Acht aber, der Kreis der weißen und schwarzen Steine, erinnerte den Sohn des Ku sofort an die Lehren des Prinzen, an das Rad mit den Speichen, an Guang, Jiao und an Luanxing. Yüo griff nach dem Pergament. Wie lange mochte es hier schon liegen und wer alles mag in den vergangenen Jahren einen Blick darauf geworfen haben? Yüo trat aus der Hütte, säuberte das Weinfass von den Blättern, setzte sich darauf und begann halblaut zu lesen. In kunstvoller Kalligraphie stand geschrieben:

„Dem Yüo –

Die Freiheit steht vor dem Recht –

Die Freiheit aber gibt der Liebe den Vortritt –

Den Ahnen und Göttern befohlen –

Luanxing – Im elften Jahr des göttlichen Kaisers Wang Mang.“

Yüo verstand den Sinn, der hinter den Worten verborgen lag. Die Zeilen waren sicher so verschlüsselt geschrieben damit ein Fremder nicht erfassen konnte, was gemeint war. Er ließ sich zu Boden auf seine Knie gleiten, legte beide Hände auf die Oberschenkel und beugte seinen Kopf auf die Brust.

„Ja, so soll es geschehen.“

Yüo hatte die Worte halblaut und doch bestimmt zu sich selbst gesprochen. Er war hierher gekommen, um den Vogel in die Freiheit fliegen zu lassen. Nun wiesen ihn die Zeilen des Tempelpriesters in dieselbe Richtung. Sie waren vor drei Jahren geschrieben worden. Es muss kurz nach der Zeit, als Yüo von hier fortgezogen war, gewesen sein. Wie konnte der Luanxing damals etwas von heute wissen?

Yüo begab sich in das kleine Bambushaus und entzündete einen Lampion. Es war Abend geworden. Er trank von dem Quellwasser, das er sich aus dem Steingarten geholt hatte, und kostete von der Hasenpfote. Allein, heute schmeckte sie ihm nicht. Die Nacht war lau und sein Herz war traurig: Morgen in aller Frühe sollte es geschehen. Yüo war sicher, diesmal würde der Bambusvogel nicht zurück in den Käfig fliegen – diesmal nicht! So saß er noch ein wenig und wollte sich bald zum Schlafen legen. Da er aber wach war wie ein Wächter der Stadt, nahm er den befeuchteten Mahlstein und den Tuscheblock und stellte damit die Tinte zum Schreiben her. Der junge Novize drehte das Pergament zur anderen Seite und begann mit dem Pinsel die Regungen seines Herzens sichtbar zu machen.

Vogel - eingesperrt in einen Käfig,

darfst du nie Vogel nennen;

er braucht die Luft und seine Freiheit,

nur dann hörst du ihn wirklich singen.

Er will das Nest – wo er es grad will,

gebaut aus Ästen und aus Glück;

lässt du ihn frei – ganz wirklich frei,

kann es sein, er kehrt zu dir zurück.

Doch lass es sein, darauf zu hoffen,

die Welt ist groß, der Vögel viele;

ein anderer wird zu dir kommen,

schenkt dir in seiner Freiheit neue Liebe.

Yüo Ku – Im ersten Jahr des göttlichen Kaisers Liu Xuan (Gengshi).’

Immer wieder hatte er innegehalten und nach neuen Worten gesucht. Denn was geschrieben stand, das stand geschrieben. Dann waren Yüos Augen wie verloren und wie auf ein unbestimmtes Ziel in der Ferne gerichtet. Hüttenwand und Dunkelheit schien es nicht zu geben. In dieser Nacht schlief Yüo kaum. Der anbrechende Morgen ließ ein Tuch nach dem anderen fallen. Erst nur waren die Umrisse der Bäume zu erkennen, dann gesellte sich zu dem Grau eine Farbe nach der anderen: eine Palette von grasgrün, blattgelb, erdbraun, ahornrot, himmelblau und wolkenweiß. Das Licht ergoss sich über die Terrassen. Nachdem Yüo sich am kleinen Flusse erfrischt hatte, nahm er die Voliere und ging mit ihr in den Steingarten. Nur ein kurzes Gebet - dann öffnete er die Tür des Käfigs. Der Niau-Zhuzi neigte den Kopf zur Seite, als wolle er fragen, was nun geschehen solle. Yüo verstand und ging darauf ein:

„Fliege mein geliebter Vogel, fliege in die Freiheit. Ich weiß, du willst die Freiheit. Ich schenke sie dir - fliege!“

So geschah es. Der Bambusvogel hüpfte auf die Türstange, verharrte einen kurzen Moment und flog zum nahen Waldesrand. Dort ließ er sich auf einem Baum nieder und sang sein Lied. Yüos Herz weinte - weinte bitterlich. Dann, nach einem Moment stellte der schöne Bambusvogel seinen Gesang ein und flog davon. Richtung Westen flog er – den Tannensaum entlang und ward bald nicht mehr zu sehen.

Yüo ließ den Käfig im Garten stehen und nahm die Jadesteine und die Hasenpfoten zu sich. Das Pergament aber steckte er unter sein Gewand. Eine der geräucherten Hasenpfoten aber legte er für den nächsten Gast zurück auf den Tisch. Er hatte seinem Freund und Herrn versprochen, nur eine Nacht in seinem Haus zu verbringen, um dann nach Dunhuang aufzubrechen. Zwar hätte er noch einen weiteren Tag hier verbringen können, denn ohne den Käfig war er nun schneller, als Bang-Zhu vermuten konnte. Es war schön und angenehm, wieder bei der heimatlichen Hütte zu sein. Doch wollte Yüo unbedingt zu seinem Worte stehen und es schien ihm irgendwie Unrecht, noch einen weiteren Tag hier zu verweilen. So verschloss er die Tür seiner Hütte, wie er es einst beim Verlassen dieser Gegend auch getan hatte, und machte sich auf den Weg nach Norden. Diesmal ging er nicht zurück, um den Riegel der Türe zu prüfen. Yüo nahm den Weg, den er schon oft gegangen war. Durch das Wäldchen und hinaus in die Steppe ging er, mit einer kurzen Rast im Hain, wo ihm einst träumte, ein Vogel gewesen zu sein. Doch oft blieb der Sohn des Bauern Ku stehen und er musste sich vergewissern, dass dies heute und jetzt kein Traum war. Einerseits war es eine Erleichterung, die Voliere nicht mehr tragen zu müssen und den etwas gebeugten Gang mehr und mehr ablegen zu können. Der junge Mönch hoffte aber doch an jeder Baumgruppe, Wegbiegung oder Wasserstelle den Niau-Zhuzi zu entdecken. Es hätte ja sein können, aber es geschah nicht und Yüo trug diese Hoffnung bald innerlich und bewusst zu Grabe.

Noch mehr Freiheit (37)

Auf dem Weg nach Dunhuang entschloss sich der Wanderer recht bald, die Welt um sich herum zu genießen, ohne sich dabei Vorwürfe zu machen, oder einem üblen Gewissen Raum zu geben. Als er sich dieses Vorhabens bewusst wurde, des abends auf dem Lager am Rande eines Wäldchens, beim Schein des Feuers, war Yüo erschüttert darüber, dass er dies all die Jahre im Beisein des lieblichen Vogels wohl offensichtlich nicht hatte tun können. Er stellte sich nun vor, wie alle möglichen Vögel sich bei ihm niederließen und er ihnen Liebkosungen zuflüsterte. Yüo erinnerte sich, dass die Einengung seines Herzens bald nach der Zeit, als der Vogel ihm zugeflogen war, begonnen, sich aber durch den Aufenthalt im Kloster zu Golmud verstärkt hatte. Doch ihn deuchte, dass weder der Vogel, noch das Kloster für seinen Seelenzustand verantwortlich seien. Der Grund dafür muss weit mehr und tiefer in seiner Geschichte liegen und wenn überhaupt jemand, dann war er es deshalb selbst, der in der Pflicht stand, etwas zu ändern. Es war sein Leben, das bis hierher geformt wurde. Sein Leben bis hierher war nun die Vergangenheit. In ihr müsste etwas aus der Bahn gelaufen sein. Wohl dachte Yüo zurück an seine Kinderzeit, wie es ihm schwer fiel, ausgelassen zu sein und sich einfach am Leben zu freuen; etwas zu haben, ohne Angst, es gleich wieder zu verlieren; Erfolg zu haben, ohne den Gedanken an die nächste Niederlage, die schon lauerte; gelobt zu werden, ohne dahinter Heuchelei zu vermuten; etwas zu genießen, ohne sich das Leben zuvor selbst zur Qual zu machen. All das war ihm nicht möglich gewesen. In allem fand sich meist das beißende Gewissen wieder. War der Sturz von der Kiefer mit dafür verantwortlich? Wie war der kleine Yüo vorher gewesen? War er unbefangen, lebenslustig und mutig gewesen? War es zu einem Bruch in seiner Seele gekommen? Ja, es musste in der Kindheit geschehen sein. Doch dann, als er von zu Hause fortgezogen war, hatten sich Freude und Unbefangenheit zurück gemeldet. Viele Monate und Jahre seines Lebens am Rande der Rong-Steppe konnte er sich maßlos an der wunderbaren Natur ergötzen. Aber bald nach dem Erscheinen des Vogels hatte seine Einengung wieder begonnen. Was hatten die Kindheit und das Erscheinen des Bambusvogels, was hatten die Kindheit und die Zeit im Kloster gemeinsam? Dem Yüo kamen bei all dem schweren Denken diese Worte in den Sinn und er sprach sie laut vor sich her, so als wollte er sich selbst erbauen:

„Ich sollte nicht soviel darüber nachdenken, woher ich komme, sondern darüber, wohin ich gehe.“

Bei all den Gedanken aber hoffte Yüo inständig, dass es dem Bambussänger, dort wo er sich gerade jetzt befand, wohl war und ihm nicht noch einmal eine halbherzige Liebe widerfuhr, geschweige denn Schlimmeres. Dass ihn jemand finden würde, der ihn grenzenlos liebte und dem seine Schönheit nicht verborgen blieb. Das wünschte er dem Niau-Zhuzi von Herzen. Es tat ihm weh, als er daran denken musste, wie wenig Yüo den Vogel verdient gehabt hatte und dass es auch für ihn verlorene Jahre gewesen waren. Yüo war überrascht, welche Einsichten in den letzten Tagen über ihn gekommen waren. Er begriff Dinge, die ihm zuvor verschlossen gewesen waren; er durchschaute Angelegenheiten, die zuvor unergründlich für ihn waren; er sah ein, was ihn zuvor blind sein ließ. Yüo dachte an das zurück, was er in der Hütte aufgeschrieben hatte, und gerne hätte er auch hier etwas festgehalten. Es gab aber kein leeres Pergament, und schon gar keine Tusche oder einen Pinsel. So versuchte er, sich die Eingebungen in seinem Inneren einzuprägen und zu warten, bis sich eine Gelegenheit ergäbe, die Gedanken in Wort und Schrift festzuhalten.

Am folgenden Tag aber, als er den Ming Liang überquert hatte, dort, wo dieser in der Form eines gebeugten Knies eine Klippe umspült, nachdem er sein Gewand im klaren und kalten Wasser gewaschen und zum Trocknen aufgehängt hatte, konnte er mit einem der Jadesteine diese Worte in den Felsen ritzen:

‚Warte nicht auf etwas Bestimmtes,

sondern lebe mit dem, was ist.

Bleibe gelassen in allen Dingen

und warte auf das, was geschieht.’

Noch heute - kommt der Wanderer an jene Stelle - sind diese Worte Yüos dort zu lesen. Yüo verließ die Anhöhe der Rong-Steppe und zog durch die Felder und Siedlungen gen Westen. Er wollte unbedingt seinem Vertrauten aus dem Kloster gegenüber im Wort bleiben. Zwar spürte der Sohn des Bauern Ku eine große Erleichterung, denn seine Blicke konnten umherschweifen wie sie wollten und es stellte sich kein mahnendes Gewissen ein. Ebenso waren seine Gedanken den Vögeln gleich und waren hier und da und niemand verbot es ihm. Doch je näher er auf die unausweichliche Begegnung mit dem Bang-Zhu und den neun Novizen zuschritt, desto beklommener wurde sein Herz deswegen. Yüo vertrieb dieses Gefühl und beschwor sich selbst wegen seines Gelöbnisses.

An dem Tag nun, wo er hoffte, aber auch ein wenig bangte, auf die Mönchsschar zu stoßen, in den Stunden des Morgens, durchschritt Yüo auf dem Pfad einen Birkenhain, in dessen Mitte sich ein kleiner Tümpel befand. Gerade wollte er aus dem Schutz der Bäume an den Rand des Wassers treten, um etwas zu trinken, als ihm der Atem stockte. Vor ihm, auf der anderen Seite des Gewässers, nur einen Steinwurf entfernt, entstieg ein Weib dem kleinen See. Die Gewänder der Frau lagen im Sand und sie war vollkommen nackt. In der Vergangenheit, ja, noch vor wenigen Tagen, hätte sich der junge Mann auf den Boden geworfen und die Götter um Vergebung gebeten, solches gesehen zu haben. Doch nun tat er es nicht. Wie angewurzelt blieb Yüo stehen. Seine Blicke waren gebannt auf die Frau gerichtet. Kein beschämtes zu Boden Schauen. Kein Gewissen, das biss. Das Herz Yüos dagegen schlug ihm wild im Hals und Erregung schwoll in seinen Lenden. Das Weib stand am Ufer und hatte dem Betrachter den Rücken zugekehrt. Wie jedes Mädchen, wie jede Frau, trug es ein schwarzes Halsband. Zu gerne hätte Yüo gewusst, ob sich vorn an dem Lederriemen eine Quaste befand. Erinnerungen an die Erzieherin vom Kranichsee wurden wach. Doch so etwas hatte er noch nie gesehen.

‚Ihr Götter und Ahnen,’

jubilierte der junge Mönch still und innerlich, und war doch zugleich erschrocken über sich selbst. Während Yüo begann sich Gedanken zu machen, ob wohl in der Nähe ein Dorf und ob die Frau eine Kurtisane sei, beugte diese ihren Oberkörper nach vorne, um sich mit dem gegriffenen Tuch die herunterhängenden langen und schwarzen Haare zu trocknen.

„Gaiside - Verflixt!“

entfuhr es dem zur Salzsäule Erstarrten. Es war zwar nur ein leises Zischen, doch das Weib fuhr herum. Unmöglich konnte es ihn gehört haben. Ein kurzer schriller Schrei, ein hastiger Griff zu den Kleidern und die junge Frau war zwischen den Sträuchern und Bäumen entschwunden. Nur zwei oder drei Herzschläge, dann drehte sich Yüo um. Was war zu tun? Sein Herz war aufgescheucht wie ein Rehkitz, seine Seele war aufgeflogen wie ein Kiebitz, sein Körper war aufgestört wie ein Ziegenbock. Nach Norden ziehen? Dem Weibe folgen? Zurück zur Hütte? Yüo hörte die Worte des Luanxing. „Tu, was dein Herz dir sagt!“

Mit einem Male aber war Yüo klar, dass er kein Mönch mehr bleiben konnte. Zu sehr war er dem Weiblichen zugetan. Irgendwie war es doch schon immer so gewesen, aber er hatte es im Innern nie zugelassen. Es tat ihm weh, aber er musste sein Wort dem Bang-Zhu gegenüber brechen. Ja, lieber war er seinem Gelöbnis gegenüber untreu als sich selbst. Auch das, was ihm der Da Daoshi einst gesagt hatte, kam ihm wieder in den Sinn und bekam eine eigene Bedeutung: Du musst erst das Eine ausleben, um das Andere mit Leichtigkeit befolgen zu können. Die Wahrheit ist ein Widerspruch.

So beschloss Yüo nach einigem Hin und Her und doch endlicher Gewissheit, zunächst zu seiner Hütte zurückzukehren. Dort war der Ort, wo er sein Leben in Ruhe neu ordnen konnte. Auch der Hain wäre ein Platz zur besseren Einsicht und die benötigte der Sohn des Bauern Ku dringend. Denn so kurz die Szene auch gewesen war - die wenigen Herzschläge hatten genügt dem Sohn des Bauern Ku vor Augen zu führen, dass das Leben als Mönch, mit all den Vorschriften und Einschränkungen und vor allem dem Leben in der Keuschheit nicht das sein konnte, für das er eigentlich geschaffen war. Denn wie gerne wäre er dem Weibe gefolgt! In dem kurzen Moment, wo es sich ihm zugewandt hatte nämlich, waren nicht nur ihr wunderschönes Gesicht mit den betörenden Augen und den lustvollen Lippen, sondern auch ihre festen Brüste zu sehen gewesen. Es war nur für die Zeit eines Wimperschlages, doch was ist Zeit in solchen Momenten! So gebannt von ihrem Fleisch war der Mönch gewesen, dass er sich nicht erinnern konnte, ob sie eine Quaste am Halsband trug.

„Ihr Götter“,

rief er nun aus und beschleunigte seine Schritte,

„was habt ihr uns Männern nur angetan!“

Gewissheit (38)

Die erste Nacht allein in dieser gottverlassenen Wüste war unangenehm und auch ein wenig unheimlich. Im jetzt fast vollen Mond gleißten die gewaltigen Sandberge wie das in Falten geworfene Gewand eines Riesendämons. Jiao konnte nicht schlafen und legte immer wieder einen getrockneten Fladen von Yakdung ins Feuer. Was sich sein Bruder nur bei diesem Unternehmen gedacht hatte? Nun, er hoffte, Guang würde vernünftig werden und im Morgengrauen wieder bei ihm sein, denn eine Nacht in dieser Geisterstadt würde ihm sicher genügen. Aber Guang kam nicht mit dem Morgengrauen und er blieb auch aus bis zum Abend des ersten Tages. Jiao hatte seine Hand schützend über die Stirn gelegt und zu den Salzbergen geschaut, in der Hoffnung, es würde sich dort ein Punkt lösen und auf ihn zukommen. Aber es geschah nicht an diesem Tag und es geschah auch nicht an den beiden folgenden. Da beschloss der Jiao für sich, mit den Tieren und mit Sack und Pack noch näher, so nahe wie möglich, an die Salzsäulen und die erste der gewaltigen Dünen heranzuziehen, um sich auf die Suche nach dem Bruder zu machen. Jiao warf die Decken auf den Boden, zwang die Tiere nieder und pflockte sie an. Dann verstaute er die Vorräte, nahm den Wasserschlauch und ein wenig feste Nahrung und zog durch die Salzstelen und die vor ihm liegende Salzwelle hinauf. Die Sonne stand ihm im Rücken und sein Schatten lief voran. Diese Düne mochte an die einhundertfünfzig Chi hoch sein und verlangte dem Kletterer alles ab. Im ersten Wellental war von dem Guang nichts zu sehen. Der Anblick der vor ihm liegenden Gegend jedoch nahm ihm fast den Atem. Höher und höher wuchsen die Dünen vor seinen Augen und schuppig wie die ausgeblichene Haut eines längst verendeten Krokodils vom Flusse Sind erschienen ihm ihre Oberflächen. Wie um Gottes und der Götter Willen, sollte er mit den Tieren und dem Gepäck jemals diese Bastion überwinden? Wo hielt sich Guang auf? Kurz vor dem Höchststand der Sonne entdeckte Jiao den Bruder, als er eine weitere der hohen Dünen überwunden hatte. Guang saß in der Hocke nahe eines einzelnen, ebenso mit Salz verkrusteten und abgestorbenen Dornenstrauches. Seine Hände hatte der Bruder vor das Gesicht gelegt. Der leicht gewölbte Wasserschlauch aber lag neben ihm auf dem Boden. Er schien noch nicht leer zu sein.

„Guang“, flüsterte Jiao, als er zu diesem herangetreten war. Doch dieser antwortete nicht.

„Guang“, nun sprach der Bruder lauter.

Doch Guang antwortete immer noch nicht. Da packte ihn der Jiao mit der Linken an die Schulter, schüttelte ihn ein wenig und rief ihn bei seinem ursprünglichen Namen:

„Joshua, Sohn des Zimmermanns und Sohn der Mariam. Ich bin es, dein Bruder Johanan!“

Fast wäre der Beter ins Ungleichgewicht gekommen und zu Boden gefallen. Doch mit der linken Hand stützte er sich ab, sah zur Seite und sprach barsch:

„Was machst du hier? Hatte ich dir nicht gesagt, du solltest bei den Tieren auf mich warten.“

„Aber, verzeih mein Bruder, ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Es sind nun schon vier Tage und ...“

„ ... Und wie du siehst, ist immer noch Wasser in meinem Vorrat.“

Guang schlug mit der flachen Hand auf den Schlauch.

„Ja, aber hast du denn gar keinen Durst in dieser unbarmherzigen Hitze? Ich habe schon zwei ganze Schläuche in diesen vier Tagen getrunken und die Yaks saufen wie immer.“

Guang erhob sich nun und streckte seine Glieder.

„Mein lieber Bruder, weißt du noch, was unser großer König vor Urzeiten einmal gesagt hat?“

„Nun, er hat viel gesagt und alles ist aufgeschrieben auf den Schriftrollen.“

„Ja, aber ich meine etwas ganz Bestimmtes.“

„Nämlich?“

Guang erhob seine Augen und auch seine Hände zum bleiernen Himmel und sprach so:

‚Wie der Hirsch lechzt nach frischem Wasser,

so schreit meine Seele zu Gott.

Meine Seele dürstet nach Gott,

sie verlangt nach dem lebendigen Gott.

Wann, ja wann werde ich dahin kommen,

dass ich das Angesicht Gottes schaue?’

„So empfinde ich, denn diese Worte sind nicht nur zum auswendig lernen überliefert.“

Guang sah seinen Bruder trotz der Anstrengung der letzten Tage etwas verschmitzt an und fuhr fort:

„Das Verlangen meiner Seele nach einer Antwort unseres Gottes ist größer als das Begehren meines Körpers nach Wasser. Lass mich noch ein oder zwei Tage, dann komme ich zu dir.“

„Aber lieber Bruder, unsere Wasservorräte reichen nicht ewig und auch die Nahrung für Mensch und Tier vermehrt sich nicht alleine“,

antwortete der Ältere von beiden.

Da veränderte sich der Gesichtsausdruck des Guang und er schaute Jiao an, als wären zwei glühende Rubine auf diesen gerichtet und aus seinem Mund kam es wie ein Schwert:

„Was glaubst du denn? Kann nicht unser Gott uns einen sprudelnden Quell aus der Wurzel dieses verdorrten Busches entstehen lassen, oder aus diesem hier...“

Guang unterbrach seine Rede. Er bückte sich und griff mit seiner Linken in die Salzkruste. Als er sich wieder aufrichtete, hielt er einen faustgroßen Stein in der Hand und vollendete seinen Satz mit den Worten:

„ ... einen Fladen Brot, oder einen Kloß aus leckerer Hirse machen?“

Der Gescholtene ließ seinen Kopf und seine Arme sinken.

„Der Mensch, mein lieber Bruder, der Mensch lebt nicht von Hirse, Reis, Brot und Wasser allein, sondern von der Antwort Gottes auf seine Fragen.“

Jiaos Gesicht errötete noch mehr als es wegen der sengenden Hitze sowieso schon war. Es war zu spüren, wie Zorn, Wut und Enttäuschung in ihm aufstiegen.

„Ich hoffe, mein Bruder, das alles wird sich eines Tages gelohnt haben. Ich hoffe, es war nicht umsonst.“

Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging gebeugt davon. Als die Sonne die Dünen küsste, saß Jiao bei den Kamelen und Yaks und weinte. Auch Guang weinte, ob seiner Härte dem Bruder gegenüber. Warum nur hatte er so heftig auf das eigentlich gut Gemeinte mit Worten und seinem Verhalten geantwortet? Aber wie ein Geschenk des Himmels kam ihm da dieser Gedanke:

‚Ein Diamant ist klar und ohne Trübung, doch leider ist er auch sehr hart.’

Guang war durch diese Worte ein wenig getröstet; sie spornten ihn aber auch an. Denn vor Gott und den Menschen klar und durchsichtig zu sein, das war sein innigster Wunsch. Er war sich gewiss, dass die Antwort seines Gottes kommen würde. Zu sehr war Guang in den vergangenen Tagen von inneren Dämonen angegriffen und von den bösen Geistern dieser Gegend bedroht worden. Es waren nicht die unheimlichen Schreie, die ihn zum Sinneswandel bewegen wollten, es war auch nicht die Einsamkeit, die ihn zurück zur kleinen Karawane treiben sollte. Es waren die lautlosen Aufforderungen, das Leben doch wie alle anderen zu genießen. Erfolg in der religiösen Gemeinschaft, Profit durch das Handwerk, Ansehen in der Gesellschaft durch Mitläufertum, schöne Weiber und Empfänge, kurz: Das Leben leben. Aber Guang wusste, dass Gott dies so von ihm nicht wollte. Nicht jedenfalls der Gott, an den er glaubte. So fragte er und zitterte, flehte und jammerte, betete, schwieg und wartete.

Nachdem Jiao gegangen war, setzte sich Guang und schlug seine Beine über Kreuz. So saß er und fuhr er mit all dem fort. Noch einmal erlebte Guang in seinen Gedanken die Zeit in Tienchou und im Kloster von Golmud. Wie merkwürdig es doch war. Jedes Land auf dieser Erde, jedes größere Volk, schien eine andere Vorstellung von dem zu haben, was die Götter wollten. Ja, es war, als gäbe es nicht nur den einen Gott. Jedes Volk schien seinen Gott zu haben. Wie gegensätzlich schienen ihm doch die Lehren des Prinzen von Sind und die des Vaters Mo! Wieder ganz anders war das, was der Da Daoshi glaubte. Sanftheit, Ruhe und Gelassenheit standen im starken Widerspruch zur Erfüllung vieler Gesetze und was war mit der Verehrung der Ahnen? War nicht das ‚Om’ des Prinzen etwas ganz Anderes als das ‚Amen’ und die Gebete der alten Schriften in seiner Heimat?

Der Königssohn, der den Palast verließ, um auf Glanz, Reichtum, Anerkennung und Erfolg zu verzichten, um den Verstoßenen das Menschsein zurückzuschenken, ließ den Guang nicht mehr los. Ja, es ging darum, den Himmel auf die Erde zu holen, um der gegenwärtigen Hölle zu entkommen. In den Tagen der Einsamkeit erkannte der Fastende, dass Gottes Reich kein Jenseitiges sei. Wenn es diesen Gott der Väter gab, an dem er immer noch festhielt, und wenn er der Schöpfer des Lebens war, und wenn er tatsächlich die Menschen liebte, dann konnte es unmöglich sein Wille sein, Leben zu vernichten und Ströme von Blut zu vergießen. Sündenvergebung musste auch anders möglich sein! War es nicht Strafe genug für den Menschen, wenn er gottlos lebte? Wenn er nicht zu erkennen vermochte, dass Leben in Gelassenheit und im Vertrauen zur Macht der Liebe im Hier und Jetzt das größte Geschenk war? Wenn der Mensch sich beständig um sich selbst dreht, wenn er nur an sein eigenes Wohlergehen denkt: War das dann nicht schon die Hölle? Hatte dieser Schöpfergott den Menschen mit seiner Hinfälligkeit von Beginn an so geschaffen? Musste Gott nicht deshalb auch die Verantwortung dafür übernehmen und selbst der Anlass für Vergebung, Gnade und Annahme des Menschen sein? Musste nicht die Versöhnung mit der Schöpfung von IHM aus gehen? Guang erinnerte sich des Wandermönchs. Auf den langen Märschen von Tienchou nach Zhong Guo und auf dem Weg zu den Fünf Heiligen Bergen, hatte der Luanxing auch immer wieder von dem Wu-Wei gesprochen. Er sprach von dem Kind, das am Flusse sitzt und in die Wellen schaut. - ‚Es denkt nicht darüber nach, woher das Wasser kommt, es macht sich keine Gedanken darüber, wohin das Wasser fließt. Es freut sich einfach über den Moment des Schauens.’ - Das waren die Worte des Wandermönches gewesen.

„Wie die Kinder, ja so müssen wir sein“, sprach Guang leise vor sich her, „sich nicht sorgen um den nächsten Tag und nicht zurückschauen auf gestern.“

Doch um so leben zu können, müsste es einen Gott geben, der wie ein liebender Vater mit offenen Armen auf den Menschen wartet, auch wenn dieser gefehlt hat. Ein Vater im Himmel, wünschte sich Guang, der alle die, die ihm vertrauen, zu einer Familie zusammenschließt. Doch weder am Flusse Sind, noch im Land der Seide hatte er eine solche gute Allmacht gefunden. Und war nicht auch der Gott der Väter ein grausamer Regent des Universums? Was nun von dem allen, dass Guang so bei sich dachte, war richtig, war die Wahrheit? Er kam zu dem Schluss, es müsste einen Vater im Himmel geben, dem die Irdischen vertrauen könnten, und der auf Opfer jeder Art verzichtet. Es sollte ein Gott sein, der nicht jedes Wort in die Waagschale wirft und der fünf Reiskörner auch einmal sechs sein lässt, ein Gott, der die Gedanken der Menschen kennt, bevor sie zu Worten geformt werden, ein Gott, vor dem man nicht alles aussprechen muss. Guang dachte an seinen irdischen Vater, den Zimmermann, zu dem er völliges Vertrauen hatte. Ja, er konnte auch streng sein, aber er war gerecht und er war vergebend. Joseph war fleißig und hatte immer genug Aufträge, um sich und die Familie zu ernähren. Er war nicht aufbrausend, sondern bedächtig; er war nicht ungeduldig, sondern gelassen; er war nicht laut, sondern immer ruhig. Kamen die Kinder zu ihm, dann ließ er von seiner Arbeit ab und nahm sich ihrer und ihrer Sorgen an. Dann konnte es schon sein, dass er sich setzte, die Kinder auf den Schoß nahm und zuhörte, was sie zu sagen hatten. Selbst wenn sie gefehlt hatten, trauten sie sich zu ihm, denn zwar schalt er sie kurz, aber dann war auch schnell die Verzeihung da. Ja, so müsste auch Gott ein Vater sein. Guang dachte an seine Mutter, wie sie ihn und die Geschwister bei sich am Herd versammelte und ihnen Wärme gegeben hatte. Wie sie, waren die Kinder beim Spielen gefallen, die Wunden versorgte. Ihr Arm um den Körper gelegt, ihre Hand auf der wunden Stelle waren schon Heilung genug. Wann immer es die Zeit zuließ, spielte und sang sie mit ihm und den Geschwistern und ihre Augen schauten auch an schlechten Tagen immer warm und gütig. War Not, dann legte sie ihr Gerät zur Seite hörte zu und ließ die Arbeit ruhen. Ja, auch so müsste Gott sein.

In solchen Gedanken war Guang versunken und entrückt. Doch war er gegenwärtig und erfuhr, wie wohltuend es war, jeden Moment des Lebens bewusst wahrzunehmen. Er wollte sich nicht mehr fürchten, er wollte sich nicht mehr sorgen, er wollte sich nicht mehr in Vorwürfen ergehen, er wollte einfach glauben, dass Gott ein liebender Vater und eine wärmende Mutter ist.

‚Der Himmel,’ so dachte der Einsame bei sich, ‚der Himmel beginnt hier auf Erden, oder er beginnt nie.’

Vor seinem inneren Auge sah Guang auch all das Leid, das er in Tienchou und in Zhong Guo gesehen hatte. Ihn erinnerte die Aussätzigen und Bettler, die Huren und Tagelöhner, die Witwen und Waisen in seinem Land am Mittleren Meer. Er dachte aber auch an die Reichen, die Kaufleute und Landbesitzer; er dachte an die fremden Soldaten in seinem Land und die Zöllner aus dem eigenen Volk. Guang wusste um die Sehnsucht der Menschen nach Befreiung. Was war mit denen, ob in Zhong Guo, in Tienchou, am Mittleren Meer oder sonst wo, die einen harten Vater und eine lieblose Mutter hatten? Was war mit denen, die als Waisen ohne Eltern aufwachsen mussten? Konnten sie glauben, dass ausgerechnet Gott im Himmel nicht streng, nicht unbarmherzig, nicht ungeduldig, nicht nachtragend und nicht berechnend sei? Ja, konnten sie überhaupt glauben, dass es einen Gott gäbe, einen noch dazu, der barmherzig, von großer Geduld und die Liebe sei? Ja, Gott ist! Aber er ist nicht nur ein harter Herrscher, sondern auch ein Ort der Geborgenheit. Er schlägt, aber er heilt auch. Er lässt in die Irre gehen, aber macht sich auch auf, zu suchen. Er lässt den Menschen weinen, aber trocknet auch seine Tränen ab. Er schickt das Übel. Aber nur deshalb schickt er es, damit der Mensch umkehre zu IHM. Hatten nicht die Väter in der Zeit der Wüste auch viel Leid erfahren? Da war die Geschichte von den Schlangen, die von Gott wegen der Ungeduld und des Murrens der Männer und Frauen gesandt wurden. Ihr Biss war tödlich. Guang erinnerte sich daran, wie er im Kloster von Golmud im Gespräch mit dem Da Daoshi schon einmal mit diesen Gedanken befasst gewesen war. Ja, nur wer auf die von Mo an einem Stab erhöhte eherne Schlange sah, konnte gerettet werden. Bei diesen Gedanken kam dem Fastenden eine tiefe Erkenntnis. - „Das ist es“, flüsterte der Guang in die Stille.

„Wir müssen dem Übel in die Augen schauen. Wir müssen das Böse beim Namen nennen, um von ihm befreit zu werden. Wir müssen die Ursache für das Leid billigen, dann erfahren wir die Heilung. Nur dieser Kampf ist notwendig.“

Der Suchende wusste aber, dass es nicht allein die Soldaten der fremden Macht waren, die das eigentlich Böse vertraten, nicht nur die Diebe und Mörder, die Ausbeuter und Lügner, die Huren und Wegelagerer, sondern auch diejenigen, die vorgaben, besonders fromm zu sein und meinten, Gottes Willen ungetrübt zu erfüllen. Sie waren die Schlimmeren, sie waren diejenigen, die am verlorensten schienen, weil sie ihr Verderben vor lauter Scheinsein nicht sehen konnten.

Die Unterdrückten, ob äußerlich oder im Innern, und auch die sich für vollkommen Haltenden benötigten etwas auf das sie schauen konnten, so wie es in den alten Zeiten gewesen war. Aber wer oder was konnte dies sein? Es musste auf jeden Fall etwas sein, das von Gott her stammt, so wie die Schlangen in der Wüste von Gott gesandt wurden, so musste auch die Erlösung von Gott kommen. Guang dachte an die Worte seines Lehrers im Kloster von Golmud. Er hatte davon gesprochen, dass zwar der Lotus aus dem dreckigen Schlamm heraus wächst, selbst aber nicht schmutzig, sondern schön und rein sei. - ‚War dies nicht auch so bei jedem Menschen?’ so dachte Guang bei sich, - ‚mag der einzelne Mensch noch so böse erscheinen, ob Dieb oder Mörder, ob Hure oder Säufer, ob gnadenloser Steuereintreiber oder Betrüger, Heuchler oder Vollendeter: Jeder von ihnen bleibt doch das Abbild des Gottes, der ihn erschaffen hat.’ Das war bei ihm selbst nicht anders. Er, der Guang, unterschied sich nicht von denen, an die er gerade gedacht hatte. Nur weil er der Sohn eines ehrbaren Zimmermannes war, nur weil er eine immer liebende Mutter hatte, nur weil er sich fernhielt von Rausch und Glücksspiel, nur weil er sich auf die Suche nach der Wahrheit gemacht hatte, war er nicht besser als jene. Guang warf sich der Länge nach auf den Boden und tat vor Gott Buße für sein Leben und machte vor IHM fest, dass er selbst an erster Stelle vor all den anderen seiner Gnade, Güte, Vergebung und Liebe bedurfte und dass er – wenn es Gottes Wille war – sein Bote dieser guten Nachricht sein wollte. So verharrte er eine gewisse Zeit.

Als Guang sich wieder aufgerichtet und gesetzt hatte, durchflossen ihn Dankbarkeit und tiefer Friede. Er war sich der Verzeihung und der Freundlichkeit seines Gottes gewiss und das, obwohl er Gott kein blutiges Opfer gebracht hatte. Ihm war so, als habe dieser ihm in diesem Moment das Gesetz in das Herz geschrieben. Es war ihm, als habe Gott ihm das steinerne Herz genommen und stattdessen eines aus Fleisch gegeben. Es war ihm, als bräuchte er die Gebote, die der Vater Mo einst auf dem Berg in der Wüste erhalten hatte, nicht mehr zu befolgen, sondern, dass er nur das eine üben sollte, so wäre alles andere erfüllt. Aber dieses Eine, war nichts anderes als Liebe, grenzenlose Liebe. Guang spürte und fühlte, dass der heilige Gott ihm seinen lebensbejahenden und liebenden Geist gegeben hatte.

Aber sollte das, was er hier in der Wüste erlebt und was Gott im Himmel ihm hier auf Erden geschenkt hatte, nicht für jeden Menschen möglich sein? Egal welchen Standes er war, gleich, ob er ein Reiner oder Aussätziger war, egal welche Hautfarbe er hatte und egal aus welchem Volk er stammte? Ja, so müsste es sein für jeden Menschen. Wenn Gott, wenn sein Gott, dem er hier in der Wüste jetzt begegnete, ein Gott der Liebe wäre, dann gäbe es für diese keine Grenzen. Zwar wusste der Guang aus den alten Schriften, dass der HERR sich ein Volk erwählt hatte. Aber stand nicht auch geschrieben, dass dieses Volk ein Licht unter den Heiden sein sollte, damit blinde Augen aufgetan und zerbrochene Herzen verbunden werden und um die in die Freiheit herauszuführen, die in Kerkern und in der Finsternis sitzen!

Als Guang so über die Schrift nachsann, wusste er mit einem Male, dass es sich lohnte, jedem einzelnen Menschen nachzugehen, um ihm von der Liebe Gottes zu erzählen. Wie ein Hirte, der ein verlorenes Schaf sucht, bis er es gefunden hat und die anderen dafür in ihrer sicheren Hürde zurücklässt, so müssten die Menschen für einander sorgen. Das wäre der Himmel. Mit diesen Gedanken saß der Guang und er meditierte weiter – und der Friede Gottes war bei ihm.

Dann, am sechsten Tag, sprach Gott zu ihm. So als wäre er zugegen wie damals, als er dem alten Mo im Dornbusch erschienen war, so hörte er deutlich diese Worte: „Geh du und verkünde meinem Volk und den Heiden dazu das, was ich dir offenbart habe.“ Und so als wäre der unzugängliche Gott tatsächlich anwesend, fragte der Guang zurück: „Ich, HERR?“ Und die Antwort war: „Ja, du.“ Aber der Guang gab keine Ruhe, sondern warf nun ein: „Aber ich bin zu schwach und ich bin allein und ich bin zu jung. Es wird den Mächtigen nicht gefallen, wenn ich auch den Heiden dein Wort verkündige“ Da sprach der HERR: „Das sehe ich wohl. Aber du bist nicht allein. Ich habe dir doch deinen Bruder Jiao an die Seite gestellt. Er wird dich begleiten und dir vorausgehen, damit er den Weg für dich ebne und bereite.“ Als aber der Guang fragen wollte, ob denn sein Bruder auch dazu bereit sei, war Gott aus seiner Nähe auch schon wieder entschwunden. Guang war während der Unterredung mit Gott auf die Knie gegangen. So verharrte er noch einen Moment und betete, versank, meditierte und ließ die Gedanken kommen und gehen. Gott hatte ihm nun einen Auftrag gegeben. Aber er brauchte diesen nicht alleine auszuführen. Er war wie alle anderen auch, aus Fleisch und Blut und er hatte seine Stärken und Schwächen. Doch war er entschlossen, die Welt zu verändern und der Jiao würde ihn unterstützen. Denn dieser war ja ganz anders als der Guang selbst. Das war gut so, denn so konnten sie einander ergänzen. Außerdem stand der Bruder ihm am Nächsten und erfasste am besten, was ihn innerlich bewegte. Würde sich aber Jiao von dem Vorhaben überzeugen lassen? Was, wenn er nicht wollte? Was, wenn er es vorzog, sein Leben zu leben? Aber hatte nicht Gott ihm die Hilfe des Bruders zugesagt! Dann müsste Gott auch zu Jiao gesprochen haben. Guang war gespannt auf das Zusammentreffen mit seinem Bruder und er freute sich darauf.

Entschlossenheit (39)

Jiao horchte weiter des nachts auf Schritte, spähte weiter am Tag mit der Hand an der Stirn nach Westen. Und tatsächlich! Am Abend, in der Dämmerung des sechsten Tages, kroch ein kleiner Punkt über den Kamm der Düne, eilte den Hang hinunter und wenig später lagen sich die Brüder in den Armen. Nachdem sie sich geherzt hatten, hielt Jiao den Guang in Armeslänge von sich, schaute ihn an und sagte:

„Du bist noch immer der Guang. Aber deine Aura, deine Augen, deine Gesichtszüge, ja, sogar dein Gang – das alles hat sich verändert. Was ist geschehen?“

Als sie saßen, als sie ausgiebig gemeinsam aus einem neuen Schlauch Wasser getrunken hatten, als sie am Feuer sich wärmten, als sie sich auf die ausgebreiteten Filzdecken gesetzt hatten, Feigen zu sich nahmen und die letzten Heuschrecken grillten, sprach Guang:

„Unser Gott hat zu mir gesprochen, der HERR hat mir Antwort gegeben, die gute Macht der Liebe hat mich nicht in Ungewissheit gelassen. Es war nicht umsonst, es hat sich gelohnt!“

Lange, sehr lange unterhielten sich die beiden Männer vom äußersten westlichen Bogen. Ernst war das Gespräch und auch mit langen Pausen versehen war die Zeit. Dann war nur das Schnaufen der Yaks, das Schlagen ihrer Schwänze nach dem Ungeziefer und das Kauen der Trampeltiere zu hören. Die Nacht kam und auch beim Morgengrauen saßen sie noch redend beim Rauch des Feuers. Jiao war nicht nur erstaunt über die Gedanken seines Bruders. Er war auch erschrocken und außer sich. Wenngleich Gott ja auch zu ihm gesprochen hatte. Es war nur ein kurzes Wort, das er meinte vom HERRN empfangen zu haben: „Tue, was immer dir der Guang sagt und gehe ihm mutig voran.“ Das gefiel ihm gar nicht und deshalb hatte er gesagt: „Aber Herr, muss es immer der Guang sein, den du bevorzugst?“ Da war die Antwort: „Ich begünstige ihn nicht, denn wisse, sein Weg wird der schwerere sein.“ Dann war Gottes Gegenwart entschwunden. Dennoch war manches, was er nun von Guang hörte, geradezu wahnwitzig und gefährlich. Immer wieder war daher sein ‚Aber’ zu hören und immer wieder sprang Jiao auf, um unruhig hin und her zu laufen. Er hätte es wissen müssen. Schon beim Pferdehufkloster hätte er wissen müssen, dass der Guang eigenwillig, verstellt und zu Unvorstellbarem fähig ist. Ja, vielleicht war er gar verrückt. Doch wiederum gehorchten ihm ja die Naturgewalten, wie er es mit dem Schwarm der Heuschrecken erlebt hatte. Und er war weise, gelehrig und dem Herrn ergeben. War nicht ganz tief in seinem Herzen auch der Wunsch, dass der Gott der Väter nicht so grausam sei, wie es der alte Mo geschrieben hatte? Hatte er nicht außerdem von Gott einen ganz klaren Auftrag erhalten, den Auftrag, seinem jüngeren Bruder untertan zu sein! Jiao schwankte zwischen Zustimmung und Ablehnung. Als der Himmel im Osten begann, seine ersten Farben in den neuen Tag zu werfen, sprach er zu seinem Bruder:

„Lieber Guang, deine Gedanken sind mir noch ein wenig fremd. Doch wenn ich es mir recht überlege, dann wird es so sein, wie du es vor unserem Gott erkannt hast. Und zu mir hat er gesprochen, dass ich dir zur Seite stehen soll.“

Guang nickte wissend und Jiao fuhr fort:

„Es sind auch nicht nur deine Worte, die mich letztlich überzeugen, es sind deine Augen, die unhörbar zu mir sprechen. Trotzdem, eines hätte ich gerne noch gewusst: Wenn Gott so ganz anders ist, so wie du es dir vorstellst, wie erlangen wir dann Vergebung unserer Sünden? Und wie kann es dann sein, dass sich unsere Väter durch die Jahrhunderte geirrt haben?“

„Unsere Väter haben sich nicht geirrt.“

„So?“

„Die Alten haben nur den Gott des Herrschens gesehen. Der HERR

hat aber noch eine andere Seite.“

„Welche?“

„Es ist die Liebe des Vaters.“

„Wie erlangen wir denn nun Vergebung?“

„Nun“, sprach Guang und schaute dem Jiao fest in das Gesicht,

„Vergebung der Schuld erlangen wir, indem wir von unseren alten Wegen umkehren und IHM, dem Herrn aller Herren, von Augenblick zu Augenblick vertrauen. Ich glaube auch, dass unser Gott dies von Anfang an so gewollt hat und er Blut und Opfer nur wegen unserer eigenen Grausamkeit und Unbelehrbarkeit, wegen unserer Herzenshärtigkeit verlangte. Wenn wir aber so im Vertrauen zu IHM umkehren, wird er einem jeden von uns seinen heiligen Geist geben. Er wird uns fähig machen, den anderen – egal, wer er sei und was er uns angetan hat – zu lieben. Denn Gott ist Liebe!“

Jiao sagte nichts. Kein ‚Aber’ und keine weitere Frage, kein Einwand war zu hören. Er presste seine Handflächen gegeneinander, legte sie an seine Lippen und nickte dreimal leicht mit dem Kopf.

Guang unterbrach die Stille zunächst nicht. Doch dann fragte er vorsichtig:

„Du wirst mir also zur Seite stehen?“

„Ich weiß nicht...“

„Alleine aber werde ich es nicht schaffen können.“

„Wirst du dir jemand anderen suchen, wenn ich es nicht tue?“

„Nein, wer auch könnte mich verstehen und gemeinsam mit mir an einem Strang ziehen?“

„Dann wirst du also nichts unternehmen?“

Guang schwieg und Jiao sprach:

„Du machst mir ein schweres Gewissen, Bruder. Wenn ich dich im Stich lasse, bleibt alles das, was du erkannt hast, ungeschehen. Das aber wäre ein großer Verlust und es wäre dann meine Schuld. Außerdem würde ich mich damit gegen den HERRN stellen. Das aber sei ferne von mir.“

„Du hast also auch Sehnsucht nach Veränderung? Und du willst – wie auch ich – dem HERRN, unserem Gott gehorchen.“

Ja, es stimmte. Doch war sich Jiao nicht sicher, ob er sich in so große Gefahr bringen wollte. Aber war das nicht feige? Er zögerte noch einen Moment, dann sprach er:

„Ja, ich werde dir zur Seite stehen! Bedenke jedoch: Wenn wir tatsächlich das verkünden und tun, was dir unser Gott gezeigt und was wir beredet haben, werden deine Mutter und dein Vater, meine Eltern, unsere Brüder und unsere Schwestern sich womöglich von uns abwenden.“

„Nun, das glaube ich nicht. Aber sollte es so sein, dann werden die, die uns folgen, unsere Väter, unsere Mütter, unsere Brüder und Schwestern dafür werden.“

Jiao hob erstaunt seine Augenbrauen, stutzte einen Moment und fuhr fort:

„Aber sie werden uns töten!“

„Wer, unsere Väter und Mütter und ..?“

Guang kniff leicht das rechte Auge zu und ein leises, schelmisches Lächeln ging über sein Gesicht.

„Das ist nichts zum Spaßen, mein Bruder. Gerade habe ich mich überwunden, diesen Schritt mit dir gemeinsam zu tun und du machst dich lustig über mich. Die Verfechter des Glaubens und die Machthaber werden uns nach dem Leben trachten.“

Sprach Guang:

„Verzeih, du hast Recht. Ja, und es kann niemandem gefallen, was wir reden und tun werden, niemandem, der an der Macht hängt. Es mag sein, dass ihr Hass soweit geht, dass sie uns töten.“

„ Willst du so bewusst in das Verderben laufen?“

„Mein lieber Bruder“, sprach Guang nun,

„wenn es etwas gibt, für das es sich zu sterben lohnt, dann ist es die Wahrheit.“

„Ja, aber“, wandte Jiao ein, „hattest du nicht selbst den Tempelherrn von Golmud gefragt, was denn Wahrheit eigentlich sei?“

Der Jüngere von beiden zögerte nicht lange zu antworten:

„ ... Sicher. Aber ich spreche nicht von der Wahrheit schlechthin, einer solchen nämlich, die für alle Menschen Gültigkeit hätte. Denn diese Wahrheit gibt es gewiss nicht.“

„Sondern?“

„Nun“, antwortete Guang,

„ich rede von der Überzeugung des Herzens – des meinigen und ja auch des deinigen.“

„Wie aber willst du Andere von der Wahrheit deines Herzens überzeugen? Wie soll ich sie von der Wahrheit meines Herzens überzeugen?“

Trotz des ernsten Gedankens, der beide Brüder bewegte, musste der Guang laut auflachen.

„Merkst du nicht, dass du nur noch Fragen an mich stellst? Dies und Das und Wer und Jenes. Kannst du dich an die Mönchsbrüder vom Pferdehufkloster erinnern, wie sie für uns diese Filzdecken zusammennähten?“

Guang klopfte mit der rechten Hand neben sich auf den Boden.

„Oh ja, das kann ich, doch nun fängst du an, mir die Fragen zu stellen.“

Guang musste innerlich schmunzeln und für das, was er beabsichtigte zu sagen, blieb nur die Freundlichkeit.

„Stelle dir also vor, die Brüder hätten nur den Knochendorn genommen und keine Sehne mit ihm geführt.“

„Das wäre unsinnig und hätte nur Löcher hinterlassen und wir hätten diese Filzdecken so nicht.“

„Genau, mein Bruder.

Wahrheit ohne Liebe ist wie eine Nadel ohne Faden: Sie sticht, aber sie verbindet nicht!“

Für eine ganze Weile war es still. Jiao blickte sehr nachdenklich und er blickte erkennend. Ganz leicht war das Nicken seines Kopfes zu erkennen. Dann beugte er sich vor und umarmte seinen Bruder. Sie wollten nicht nur aus Gehorsam dem HERRN gegenüber hingehen und die Wahrheit verkünden. Sie wollten es vor allem aus Liebe zu IHM und den Mitmenschen tun und so mit ihrem eigenen Sein zeigen, was es heißt, beides – Gehorsam und Güte; Gebote und Nachsicht - nämlich Wahrheit und Liebe zu leben.

Guang spürte die Tränen an seinem Hals. Als sich beide wieder voneinander lösten, war es in ihrer beider Seelen beschlossen. Sprach als erster Guang:

„Mit unserem Dasein,

mit Wahrheit und mit Liebe

werden wir die Menschen überzeugen.

Und für dies alles lohnt es sich

– wenn es denn sein muss – das Leben zu lassen.“

Yüo (40)

Yüo aber war an dem Tag, als er eine Ahnung vom wahren Abenteuer des Lebens bekommen hatte, denselben Weg, den er von seiner Hütte gekommen war, zu ihr zurückmarschiert. Wie aus einer anderen Welt schien ihm auf einmal die Zeit im Kloster, wie aus einem anderen Leben die Gelübde. Was war geschehen? Sollte es wirklich ein Zufall gewesen sein? Yüo mochte es nicht glauben und er war verwirrt. So kam Yüo auch an jene Stelle des Ming Liang, wo er mit der Jade die Worte in den Stein geritzt, und wo er sein verschmutztes Gewand gewaschen hatte, damit es wieder leuchtete. Hier machte er für die Nacht Rast. Dieses Weib! Wieder und wieder musste der junge Mann an die Frau denken. Wieder und wieder sah er ihre Nacktheit. Sein Herz pochte, aufgeregt schlug es ihm im Hals. Er hatte ein Feuer entzündet, ein wenig Wasser getrunken und von dem, was er fand, ein karges Mahl eingenommen. ‚Ich werde es wagen’, dachte er beim Züngeln der Flammen. ‚Ich muss diesen Ort noch einmal besuchen!’ Er schlug mit einem Ast in die Glut. Die Funken stoben in den Sternenhimmel, um sich für einen kurzen Moment zu den Punkten am schwarzen Gewölbe zu gesellen.

„Doch nicht in diesem Gewand!“

Yüo erschrak ein wenig. Wie es ihm schon ein anderes Mal widerfahren war, so meinte er auch jetzt die Stimme des Luanxing, des Wandermönchen, zu vernehmen. Würde ihm der heilige Mann den Rat geben, dass Mönchsgewand auszuziehen? Würde er tatsächlich so sprechen, säße er mit ihm hier am Feuer?

Wie dem auch sei! Im Inneren war er kein Mönch mehr, und er wollte es auch nicht mehr sein. Wenn er es aber nicht mehr war, dann sollte dieses auch nach außen hin für alle sichtbar werden. Er würde also zunächst auf dem Weg zu seiner Hütte bleiben. Dort gab es Kleidung für den Alltag und dort würde er die Kutte ablegen, für immer. Yüo würde so mit seiner Vergangenheit als Mönch abschließen und etwas Neues beginnen.

‚Ich muss zu mir selbst zurückkehren.’

Dieser Gedanke erschrak ihn heftig. War denn das, was er einst für das Richtige erachtet hatte, in Wirklichkeit falsch gewesen? Wie merkwürdig, dass das, was gut zu sein schien, mit einem Male nicht mehr gut sein sollte. Konnte dies sein? War er womöglich von Sinnen? Während er grübelte, erinnerte er sich erneut an die Worte, die damals der Herr des Tempels zu ihm gesprochen hatte:

Du musst erst das Eine ausleben, um das Andere mit Leichtigkeit und ohne Wissen befolgen zu können. Die Wahrheit ist ein Widerspruch.

Aber mit Wehmut dachte Yüo an jene Tage zurück, wo er den Bambusvogel zum ersten Male gesehen und gehört hatte. Traurig war er, dass die erste Liebe, diese keusche und reine Begierde erloschen war. Wie hatte er sich das Wiederkommen des Sängers so sehnlich gewünscht. Wie war doch sein Herz erfüllt von Sehnsucht nach ihm und wie hatte er frohlockt, als der Niau-Zhuzi eines Morgens zu seiner Parzelle zurückgekehrt war! Aber vorbei war vorbei. Was gewesen, war gewesen. Der Vogel war auf und davon und Yüo hatte ja eingesehen, dass es besser so für beide gewesen war. Nun denn! Yüo kramte in seinem Beutel, ob er nicht doch noch etwas Essbares fände. Da hielt er auf einmal die letzte ihm noch verbliebene Kupfermünze in der Hand. Sie hatte ein eckiges Loch in der Mitte. Auf der einen Seite stand in winzigen Zeichen Wang Mang für zehntausend Jahre. Auf der anderen Seite war der Wert des Metalls angegeben. Es waren zwei Fen. Jemand in Golmud hatte ihm einst dieses Geldstück in die Almosenschale geworfen. Wenn also diese Münze die Wahrheit darstellen soll, dachte er bei sich, dann hat sie tatsächlich zwei Seiten. Wang Mang ist nicht mehr Kaiser von Zhong Guo und doch bleibt der Wert von zwei Fen bestehen. Ein Fremder aber, der von den Vorgängen im Reich nichts wusste, würde zudem meinen, Wang Mang sei noch der Herrscher. Was also ist die Wahrheit? So dachte Yüo bei sich und musste wiederum dem Tempelherrn von Golmud Recht geben: Die Wahrheit besteht aus Gegensätzen, die Wahrheit kann eine Täuschung sein. Wahr kann unwahr sein. Wahrheit ist veränderlich – die Wahrheit ist tatsächlich ein Widerspruch! Gewiss war Bang-Zhu mit den anderen bereits im Pferdehufkloster angekommen oder aber die Schar wartete in der Stadt Dunhuang auf ihn. Ganz sicher war Schmalgesicht tief enttäuscht, weil Yüo sein Wort ihm gegenüber nicht eingehalten hatte und sicher machte er sich seinetwegen Sorgen. Es hätte ja sein können, dem Yüo war etwas zugestoßen. Oh ja, das war es wohl!

Aber Yüos Entschluss stand fest. Er würde zu seiner einstigen Bleibe am Rande der Rong-Steppe marschieren, würde dort zusammensuchen, was noch an Hab und Gut vorhanden war, würde sich kleiden, wie er es damals getan hatte, als er zum Hain der Träume gegangen war und würde dann zu dem kleinen See wandern. Mal sehen, was geschieht. Nach einem kurzen Gebet schlief Yüo bei noch glimmender Glut des Feuers in einer lauen Nacht ein.

Und es geschah, als er der Wirklichkeit entglitten war, da träumte ihn. Mit seinem Bruder ging er entlang des Kranichsee, dort wo die Eltern einst beide Kinder hingeschickt hatten. Im Wind sang das Schilfrohr. Mal waren es liebliche Töne, die zu hören waren, mal klang das Ried jedoch bedrohlich. In diesen Wechsel von Friede und Unstimmigkeit mischte sich mit Nachdruck mehr und mehr der Cantus des Bambusvogels. Doch als Yüo sich wand dem Bruder zu sagen, dass er diese Melodie kenne, da stand neben ihm der ehemalige Freund Chang Tou-fa, und dieser sprach: „Ist das nicht der Bambusvogel, der da singt?“ Yüo suchte mit seinen Augen am Ufer. Es waren aber nur das Schilf und das Wasser zu sehen. Da wollte er zu dem Chang Tou-fa sprechen und während er sich zu ihm hinwandte, sah er auf dessen Schulter, auf der linken, einen goldenen Vogel sitzen. Wieder wandelte sich das Gesicht des Gegenübers und es war der Guang, jener Fremde, der mit dem Wanderprediger einst zu seiner Hütte gekommen war. Der goldene Vogel saß nun auf seiner Schulter. Guang öffnete den Mund, deutete mit der Rechten nach vorne und sprach: „Schau, Yüo, schau, wer sich dort uns naht.“ Yüo blickte in die gezeigte Richtung. Im Abendwind, am See, beim Rauschen des Rieds, beim leichten Schlagen der Wellen, sah er vor sich die Erzieherin, jene, die ihn geliebt hatte. Nur mit einem Badetuch war sie bekleidet - und sie trug ein Lederband mit einer Quaste am Hals. Bald stand sie vor ihm. „Es ist Zeit, zu schlafen,“ flüsterte sie und fuhr fort: „Leg´ dich zur Nacht.“ - „Hier?“ fragte Yüo ungläubig und deutete auf das Gras. Sie nickte und ihre Augen blickten verführerisch. Die Sonne war rasch am Horizont versunken und ein leichtes Grau hatte sich über die Landschaft gelegt. Über dem See jedoch, im Westen, waren zwei nebeneinander stehende Sterne zu sehen. Es war genauso, wie die Ma ihm einst erzählt hatte. „Ja, hier,“ wurde Yüo in seinen Gedanken und Beobachtungen unterbrochen. Das Weib sprach nun auffordernd. Sanft drückte es ihn mit der Rechten zu Boden. Mit der Linken noch, hielt sie ihren Schutz. Yüo glitt nieder und das Weib beugte sich über ihn. Da fiel das Tuch. Sprach die Erzieherin: „Yüo, Sohn des Bauern Ku, kennst du den Weg zu den Inseln der Glückseligkeit?“ Doch ehe er Antwort geben konnte, verschloss sie seinen Mund mit ihren Lippen und ihre Zunge spielte mit der seinen.

Vollbracht (41)

Den Göttern des Ostens und dem Gott des Westens bot sich ein Bild, das nur Erbarmen hervorrufen konnte. Wie viele Wochen des Marsches waren es gewesen, wie viele Momente des Verzichtes auf einen Schluck aus dem Lederbeutel und wie viele Sonnenuntergänge in die Ungewissheit? Ihre Gesichter waren kaum noch zu erkennen. Haupthaar und Bart verwehrten dem Betrachter den freien Blick in die ohnehin ausgemergelten Antlitze. Die einst hellen Gewänder, natur belassenes leichtes Leinen, waren zerrissen und dunkelgrau. Die Füße waren wund und sie waren voller Schwielen und Blasen. Lippen und Hände waren aufgeplatzt. Aber sie hatten es vollbracht. Nachdem Guang Antwort von seinem Gott erhalten hatte, waren er und Jiao weiter durch die Einöde gezogen. Sie hätten auch umkehren und vom Kloster aus den Weg über das Gebirge nehmen können. Aber sie waren nun schon so viele Tage in die Wüste hineingeritten. Weit konnte es bis zu ihrem Ende nicht mehr sein. Hätten sie es besser gewusst – vielleicht wären sie dann doch den Weg zurück gegangen. Aber so war es ein Sieg über die Natur, der sie für weitere Strapazen unanfechtbar gemacht hatte. Vor ihnen nun liefen die Gebirgsketten zur Rechten und zur Linken zu einem gewaltigen Massiv zusammen. Rot leuchtete es im anbrechenden Tag. Höher und höher erhob es sich. An seiner Spitze zog sich ein gezahnter Eisstrom dahin. Er glich einem bleichen Drachen, dessen Zungen hinab in Hänge voller Geröll leckten. Von der letzten der ihnen an Zahl endlos scheinenden Dünen sahen Guang und Jiao direkt vor sich eine steinige Öde – vielleicht eine halbe Tagesreise weit. Wie ein Steinbruch deuchte ihnen diese Gegend - scharfkantige Felsen, die von Riesen hier hingeworfen schienen. Doch dahinter lag wie ein Türkis ein See, ein geschliffener Edelstein aus dem Paradies, tiefblau mit grün. Die beiden Wanderer liefen neben den Kamelen. Mehr stolperten sie als dass sie gingen. Auch die Tiere schienen zu wanken. Am Fuße der Düne angelangt, ließen sich die treuen Wüstenschiffe von alleine nieder. Guang und Jiao warfen sich zu Boden und jeder für sich pries den HERRN mit kaum hörbaren Worten. Die Wasserschläuche waren gänzlich in sich zusammengefallen und auch die Nahrungsmittel waren fast aufgebraucht. Nur die geräucherten Würste aus Blut und Fleisch waren unberührt geblieben. Irgendwo hinter ihnen, sechs oder sieben Tagesreisen entfernt, lagen die beiden Yaks im heißen Staub und ihre bleichen Knochen würden für Generationen das einzige Zeugnis ihrer beschwerlichen Reise sein. Es war nicht der Hunger, der sie an diesem Morgen weiter trieb. Es war der nie gekannte Durst, es war die zugeschnürte Kehle und der sandige Gaumen, die fiebrige Stirn und die leicht vernebelten Sinne, die sie zum Weiter riefen. Allein, die Trampeltiere wollten nicht. Die beiden Männer forderten die Treuen mit Kommandos und Stockschlägen. Doch die Kamele blieben am Boden. Ihre Höcker waren zur Seite gefallen - wie leere Säcke hingen sie am Rücken hinab. Einst prall mit Fett gefüllt, war nun keine Hoffnung mehr in ihnen. Sie überlegten, ob die Filzbahnen und das Gestänge für die Jurte und all die noch verbliebene Last von den Kamelen genommen werden sollte. Oder sollten sie die Treuen von Zaumzeug und Holzpflöcken, die durch ihre Nüstern getrieben worden waren, befreien? Während sie gemeinsam beratschlagten und auf die Kamele einredeten – mal laut und befehlend, mal fast flüsternd und liebkosend, ja fast betend, da hoben die Tiere mit einem Male leicht den Kopf, streckten ihre Nasen vor und ließen diese spielen. Die Sonne war gestiegen und nun kam eine leichte Brise vom See her.

„Sie riechen das Wasser,“ rief der Guang,

„sie wittern ihre Rettung!“

Nun ging es doch gemeinsam weiter. Durch die steinige Gegend tasteten sie sich und wankten, das Zaumzeug in der Hand, den Kamelen voran. Nie schien die Sonne so heiß gebrannt zu haben wie an diesem Tag. Nie waren die Schritte so schwer gewesen wie in diesen Stunden. Nie war die Zeit so zäh wie in diesem Labyrinth. Doch angesichts des nicht mehr weit entfernten Gewässers war all das nun zu ertragen. Nachdem die Sonne ihren Scheitelpunkt überschritten und sich nach Westen gewandt hatte, wurde das Gelände ein wenig umgänglicher. Die kantige Gegend wandelte sich in eine Steppenlandschaft mit kurzem, festem Gras. Die Kamele liefen einen Schritt schneller und Guang und Jiao mussten ihnen bald freien Lauf lassen. Dann begann eine saftige Weide und es war nur noch ein Li bis zu dem See. Das Wasser war klar, es war eiskalt, es war wie der Himmel, es war wie eine Aue und es war wie der Garten Eden. Gespeist wurde der See von zwei Gebirgsflüssen auf der gegenüberliegenden Seite. Endlos saugten die Kamele und an diesem Tage waren es gewiss mehr als hundertfünfzig Sheng, die sie in sich aufnahmen. Auch Guang und Jiao tranken um die Wette, tauchten ihre Köpfe in das erlösende Nass und warfen sich schließlich selbst ganz, so wie sie waren, für einen kurzen Moment in die Fluten. Anschließend füllten die Männer ihre Schläuche und Lederbeutel randvoll mit dem köstlichen Wasser und bespritzten sich gegenseitig, so wie es die kleinen Kinder tun. Dann priesen sie den HERRN ihren Gott noch einmal, aber dieses Mal mit lautem Gebet und mit lautem Gesang und Tanz. Doch bald – wenig später - stellte sich ein großer Hunger ein. Die Blutwurst aber hatten sie bis heute nicht angerührt und sie taten es auch jetzt nicht. Sie nahmen sich vor, am anderen Ende des Sees ein paar Fische zu fangen.

So brachen sie bald auf und wanderten am See entlang, hinüber auf die andere Seite. Als der Tag sich zum Abend senkte, war das westliche Ufer erreicht. Das Gebirge war nun sehr nahe und vor ihnen lag eine Schlucht, wie das geöffnete Maul eines Tigers, aus der es bald auf einer Geröllhalde steil nach oben ging. Sie waren schon einmal auf diesem Pass gewesen, als sie mit dem Luanxing von Tienchou kommend von dort den südlichen Weg nach Dunhuang gewählt hatten. Die Sonne stand schon tief im Westen und sie ritten im Schatten des Massivs. Sie kamen an eine Gruppe von Birken. Als sie diese gerade passiert hatten und darüber sprachen, wie sie am besten die Fische für das Abendlager angeln könnten, sahen sie wohl einen Ruf weit von sich entfernt eine Jurte stehen. Linker Hand auf einer saftigen Wiese weideten ein paar Kamele und Yaks. Auch eine kleine Herde von Schafen, Hammeln und Ziegen graste dort. Zwischen den Tieren spielten zwei Kinder. Als die Fremden nahe gekommen waren, liefen die Kleinen aufgeregt in das Zelt. Gleich darauf trat ein Mann heraus. Groß war er und aufgerichtet stand er wie eine Säule. Sein Gesicht war hell und aus ihm funkelten tiefliegende, große und doch schlitzartige Augen wie zwei leuchtendgrüne Blitze. Über ihnen wölbten sich wohlgerundete und buschige Brauen, die fast bis an die Hälfte der Schläfen reichten. Sie waren, wie auch das Haupthaar, das bis zu den Schultern reichte, schwarz. Die Backenknochen waren etwas hervorgehoben. Die Nase war ein wenig platt und doch frech gebogen, wie der Schnabel eines Bussards. Die Ohren waren groß, aber von feiner Form und die Gesichtshaut war straff. Seine Füße und seine Waden steckten in langen Stiefeln aus braunem Leder. Die sandfarbenen Beinkleider aus groben Leinen wurden von einem Gürtel aus grün gefärbtem Leder gehalten. Der offene Mantel aus Kamelhaar aber reichte bis zu den Knöcheln. Der Mann maß wohl fast sechs Chi – ähnlich in seiner Stattlichkeit war er jenem Wandermönch, dem Luanxing, den Guang und Jiao lange begleitet hatten. Einen Bart trug der Mann nicht. Unter den vollen, geschwungenen und doch etwas ernst wirkenden Lippen lag ein scharfes Kinn. Die Hände waren groß, aber feingliedrig.

Guang und Jiao hielten inne, ließen ihre Reittiere ins Gras sinken und traten mit einer Verbeugung auf den Zeltbewohner zu. Sprach der Guang:

„Herr, sei gegrüßt, ich hoffe, du verstehst die Sprache der Han-Menschen.“

„Seid herzlich bei uns willkommen. Ihr seht aus, als kämet ihr direkt aus der Hölle. Aber warum meinest du, ich würde die Sprache von Zhong Guo nicht verstehen?“

„Nun, oh Herr,“ meinte Jiao,

„ihr seht wie ein Fremder aus.“

„Das mag sein. Aber ihr doch auch, oder?“

Ihr Lachen ging über in Husten.

„Aber kommt. Wie ich sehe, benötigt ihr wirklich Hilfe. Gewiss habt ihr heute noch nichts gegessen.“

„Das ist wohl wahr, Herr,“ gab Jiao zur Antwort.

Der Fremde bat sie in das Rundzelt. Die weißen Filzdecken waren mit blauen Streifen durchsetzt. Das Innere des Zeltes war mit Teppichen ausgelegt. Die Kinder waren wieder zu den Tieren geeilt. Die Männer saßen rechts vom Eingang. Links hockte das Eheweib – einfach und schlicht und doch hübsch anzusehen. An der Zeltwand gegenüber stapelten sich die getrockneten Dungfladen, lagen Essensvorräte, hingen Riemen, Gurte und Zaumzeug und lagen die Sättel. Oben am Zelt gab es eine Öffnung für den Rauch. Nachdem das Weib ihre wunden und entzündeten Füße gereinigt und mit Fett eingerieben und ihnen für die Hände Walnuss-Öl gegeben hatte, tranken Guang und Jiao mit dem Herrn des Zeltes Tee und saure Milch. Sie aßen mit ihm Hammelfleisch, nahmen von dem Wein und kosteten von den Datteln und Feigen. Das Fett triefte den Weitgereisten in den Bart.

„Mein Weib wird euch von der Last der Haare befreien,“ meinte der Rothaarige. Sein Name war Didymos, was soviel wie der Zwilling bedeutet.

„Didymos!“, hatten die Gäste wie aus einem Munde gerufen, als sich der Stattliche vorgestellt hatte.

„Ist das nicht ein Wort aus der Sprache der Hellenen?“

„Oh ja, ganz recht. Ihr scheint sehr gebildet.“

„Nun Herr, das weiß ich nicht“ meinte Guang und fuhr fort:

„In unserer Heimat wird das Hellenische auch gesprochen.“

„Wo ist eure Heimat und bitte sagt mir doch eure Namen.“

„Oh natürlich, wir sind Jiao und Guang und kommen vom Mittleren Meer.“ Beide verbeugten sich erst zu dem Manne und dann zu dem Weibe. Didymos aber sprach:

„Wir wohnen in der Stadt Marakanda auf dem Hügel Afrasiab jenseits dieses Gebirges. Wir sind Nachkommen des Xandros von Hellas, der vor fünfunddreißig Dekaden von Jahren hier eine Schlacht verloren hat. Viele seiner Soldaten wurden gefangen genommen, lebten hier weiter und nahmen sich Frauen. Ich bin einer ihrer Nachkommen.“

Guang und Jiao runzelten die Stirne, so als erinnerten sie sich an etwas. Dann sprach Didymos:

„So, vom Mittleren Meer kommt ihr. Das ist sehr weit weg. Aber ihr sprecht die Sprache des Gelben Volkes. Was tatet ihr in Zhong Guo und auf welchem Wege seit ihr hierher gekommen?“

Er nahm genüsslich einen Schluck aus der Schale. Die beiden Pilger berichteten nun lange und ausführlich. Sie sprachen von ihrer Heimat und von den fremden Mächten in ihrem Land, sie sprachen von dem alten Vater Mo, der ihnen die Gesetze gab, sie sprachen von ihrer Reise nach Tienchou und von der Botschaft des Prinzen, sie sprachen von ihrem Glauben und von ihrem Gott, sie sprachen auch von der Widersprüchlichkeit der Lehren, sprachen vom Reich der Mitte und vom Kloster, sprachen davon, wie es dazu kam, dass sie mitten durch die furchtbare Wüste zogen, sprachen von der dort erhaltenen Berufung und sie sprachen von dem Entschluss, einen Vater-Gott der Liebe in ihrer Heimat zu verkünden.

„Wir haben geschworen, unsere Haare nicht schneiden zu lassen, bis unser Vorhaben ausgeführt ist. Dein Weib braucht sich daher keine Mühe zu machen.“ Das waren die Worte Guangs.

D i d y m o s (42)

Im Schatten der Berge, in der Kühle des Abends, am Rande des Hains saßen die drei Männer am Feuer. Didymos hatte sie zur Nacht eingeladen. Am nächsten Tag wollte er zurück durch die vor ihnen liegende Schlucht, nach Marakanda. Gerne nahmen Guang und Jiao das Angebot an zu bleiben und mit der Familie des Didymos gemeinsam gen Westen zu reisen. Sprach Guang zum Didymos:

„Welchem Gott hängst du an? Von uns hast du ja darüber gehört.“

Didymos nahm die Frage auf.

„Wie ihr sicher bei euren Erzählungen bemerken konntet, habe ich an der ein oder anderen Stelle zustimmend mit dem Kopf genickt, ein anderes Mal aber auch fragend geschaut. Aber ich wollte euch nicht unterbrechen und deshalb schwieg ich.“

Guang und Jiao hatten es sehr wohl bemerkt.

„Nun,“ so fuhr der Erzähler fort, „in uralten Zeiten lebte jenseits des Gebirges und jenseits des Flusses Ox ein Mann namens Pferdeherr. Er besaß eine große Herde weißer Hengste und weißer Stuten. Ihm gehörte aber auch eine Herde gehörnter Schafe.“ Didymos machte mit beiden Händen eine spiralförmige Bewegung an seinen Schläfen.

„Sein Sohn hatte nun eines Tages draußen in der Steppe, beim Hüten der Widder, eine Offenbarung, die ihm sagte, dass es nicht gut sei, Massenopfer von Tieren zu bringen, weil diese auch eine Seele haben.“

Die beiden Zuhörer sahen sich erstaunt an und nickten dann dem Gastgeber zu.

„Dann sagte ihm das Gesicht auch noch, es gäbe nur einen Gott, der ein guter Schöpfer des Himmels und der Erde sei und Hüter der Wahrheit und des Lichtes und alles bewirke er durch seinen heiligen Geist.“

Didymos machte eine Pause, nahm von dem milchigen Tee und fuhr fort:

„Aber dieser Gott ist auch Wächter über Gut und Böse. Er belohnt die Einen und er bestraft die Anderen. Am Ende aller Zeiten wird er der Richter über jeden Menschen sein.“

Guang fand zuerst Worte.

„Was aber nun ist deiner Meinung nach die Aufgabe der Menschen? Was müssen wir tun, um nicht verurteilt zu werden von diesem Gott?“

„Nun, jeder Mensch muss sich jeden Tag entscheiden für das Gute oder für das Böse. Wer in Gerechtigkeit lebt, wer dem Guten zum Sieg verhilft, wer dem Bösen eine Absage erteilt im Kleinen und im Großen, den wird unser Gott in das ewige Reich des Friedens versetzen. Ewiges Leid aber gehört den Anhängern der Lüge.“

„Aber das Leben ist schwer, die Versuchungen sind groß, die Lust scheint überall zu lauern,“ meinte da Jiao. Aus seinen blauen Augen blitzte es wie bei einem Unwetter und Didymos sprach so:

„Es gibt daher auch sechs Erzengel, die dem Menschen helfen, das Böse zu überwinden. In der unsichtbaren Welt kämpfen sie gegen die Erzdämonen, von denen es ebenfalls derer sechs gibt. Denn ihr müsst wissen, der gute Gott, der Eine und Einzige, hat einen Gegenspieler.“

Lange noch saßen sie, lange noch sprachen sie bis in die Nacht. Der Mond ging auf im Osten und warf sein Licht auf die Gegend. Weiß blinkten im Nachtwind die Blätter der Pappeln. Guang stand nach langem Sitzen auf und begab sich zu der Last der Kamele. Er kramte in einer der Taschen und kam mit einem kleinen Päckchen zurück. So sprach er zu Didymos:

„Gab euer Gott euch auch Speisegesetze? Ich meine, dürft ihr alles essen?“

Er schaute den Gastgeber offen an. Doch der Jiao grinste und Schelmenhaftigkeit lag um seinen Mund. Sehr wohl bemerkte es der Guang in seinen Augenwinkeln. Die Blicke des Gastgebers glitten von Einem zum Anderen.

„Ja, ich meine, nein. Er gab uns keine Verbote. Alles dürfen wir zu uns nehmen, wenn wir es in Maßen tun und weder uns noch andere damit schädigen. Aber warum deine Frage? Was führst du im Schilde?“

Didymos schien etwas verunsichert.

„Dann also,“ sprach der Guang, „nimm diese Köstlichkeiten aus dem Land der Mitte. Unser Gott verbot uns diese Speise zu essen. Denn diese Würste sind aus Fleisch und Blut. Sie sind geräuchert und haben daher die Wochen unserer Wanderung gut überstanden.“

Didymos nahm den Packen und sprach:

„Ich werde sie meinem Weibe zum Probieren geben. Vielen Dank.“ Dann beugte er sich vor und fragte:

„Sagt mir, wie sind eure wirklichen Namen. Ihr berichtetet mir, dass ihr vom Mittleren Meer kommt. Wie wurdet ihr da gerufen - doch nicht Guang und Jiao?“

„Nein, natürlich nicht,“ sprach der Guang.

„Diese Namen gab uns ein Wandermönch aus Zhong Guo, weil er sie passender fand. Eigentlich heißen wir Joshua und Johanan.“ Sie saßen beim Tee und die Nacht war vorangeschritten. Die Kinder schliefen schon und das Weib war in der Jurte. Da war es nun der Guang, der sich nach vorne beugte und mehr flüsterte als dass er sprach:

„Willst du uns nicht begleiten?“

„Natürlich, ich versprach es euch.“

„Nein, ich meine nicht durch diese Schlucht und in deine Stadt jenseits der Berge, sondern weiter, in unsere Heimat!“

„Wie könnte ich und warum sollte ich! Habe ich doch ein Weib und zwei Kinder!“

„Ja, aber wie du weißt,“ fuhr Guang fort,

„leben wir alle nur einmal. Oder denkst du anders darüber?“

„Nun, jedenfalls auf dieser Erde - nur einmal.“

„Also. Sollten wir da nicht alles einsetzen, um die Welt zum Guten zu verändern? Und sollten wir nicht am Ende unseres irdischen Lebens zu uns selbst sagen können: Ja, ich habe etwas bewegt und mein Name wird bei denen weiterleben, die durch mich gesegnet wurden?“

„Recht hast du. Aber das kann ich auch in Marakanda,“ sprach nun Didymos

„Ja, doch da du bist allein. Aber zu dritt sind wir stärker. Denke nur einmal an ein dreimal geflochtenes Hanfseil. Wer vermag es zu zerreißen!“

„Dann bleibt doch in Marakanda und lasst uns dort die Welt verändern.“

„Mein Lieber,“ sprach nun Guang feierlich:

„Komme du erst einmal nach Tel-Abram, unserer Stadt, schau dir das Land am äußersten Westmeer an. Und außerdem - unser Vorhaben können wir natürlich nur dort ausführen.“

„Natürlich. Du hast Recht.“

„Du scheinst seelenverwandt mit uns,“ sagte nun Jiao mit tiefer und eindringlicher Stimme.

„Wir und die Sache unseres Gottes,“ dabei zog er mit seinem rechten Arm einen weiten Kreis um den gesamten Platz, „könnten dich gut gebrauchen.“

Doch Didymos sagte dazu gar nichts, sondern klatschte in die Hände und rief trotz der vorgerückten Stunde in Richtung der Jurte:

„Weib, bringe uns bitte noch von dem Hammelfleisch und von dem Tee.“

Er legte eine kurze Pause ein und fügte in lauten, aber doch nachdenklich klingendem Ton hinzu, so als hätte er eine Entscheidung zu treffen:

„Und etwas Wein wäre auch nicht schlecht.“

Aufbruch ins Neue (43)

Yüo war zu seiner Hütte geeilt. Er hatte kaum gerastet, um nach Stunden strengen Marsches zur ruhen und um sich ein wenig Schlaf zu gönnen. Seine Gedanken kreisten um den Traum und er wollte das in ihm Gesehene, das in ihm Gesprochene, das in ihm Gehörte festhalten. Denn Yüo war sich einer gewissen und tiefen Bedeutung des Traumes und der in ihm aufgestiegenen Bilder ganz sicher. Bei seiner Hütte wollte er den Traum niederschreiben. So eilte Yüo der alten Heimstatt entgegen. Dort angekommen, bereitete er auf dem Vorhof das Lagerfeuer. Anschließend ging er in die Hütte, entzündete dort den Lampion und legte das Novizengewand ab, um sich mit einem leichten Übergewand zu kleiden. Es gab dort auch noch ein kleines Päckchen von Pemmikan, von dem er etwas nahm und es genüsslich kaute. Nun aber wollte er zur Tat schreiten und schnitt sich zwei Bogen des Pergamentes zurecht. Yüo nahm den Pinsel in die Hand, und tauchte ihn in das Tintenfass, das ihm einst der Jugendfreund Lüshi als Geschenk mitgebracht hatte. So ließ er nun bei anbrechender Nacht den Traum noch einmal an sich vorüberziehen. Er hielt fest, an was er sich erinnern konnte und er konnte sich an alles erinnern. Die beschriebenen Bögen aber legte Yüo auf das Bord über der Reismatte. Dann schlief er den Schlaf der Kinder bis weit in den Morgen. Am nächsten Tag, nachdem der Sohn des Bauern Ku sich im Flüsschen unterhalb der Terrassen gewaschen und sich den Tee bereitet hatte, kleidete er sich wie einst, als er zu dem Hain der Träume aufgebrochen war. Doch dieses Mal würde er mit dem Gesicht nicht alleine bleiben und er würde auch nicht warten, ob ihm der Luanxing erschiene und mit ihm redete. Nein, dieses Mal wollte er sich von Angesicht zu Angesicht mit Fleisch und Blut beraten. Vom nahen Waldesrand holte Yüo etwas Holz und warf es auf die blasse Glut. Er hatte bereits die gelbe Kutte in der Hand und warf sie, nachdem das Feuer begann zu lodern, in die Flammen. Zur Asche wurde das Zeichen seiner Keuschheit. In Rauch ging auf das Bekenntnis seiner Heiligkeit. Funken zerstörten das Bild der Würde. In den morgendlichen Himmel entwich der fromme Mantel.

Das Weib, der kleine See.

Yüo wollte unbedingt zurück an diesen Ort. Hoffte er doch, die Frau dort noch einmal zu treffen. Allerdings schien es Yüo wichtiger, sich zuvor mit jemandem über den Traum zu besprechen. Damals, als ihm im Hain träumte, war er mit dem Gesicht alleine geblieben, hatte es Chang nicht offenbart. Allerdings hatte es sich später für ihn eröffnet. Das musste aber dieses Mal nicht so sein. Sollte er doch noch zu dem Pferdehufkloster nach Dunhuang reisen, um sich mit Bang-Zhu über den Traum zu unterhalten? Sollte er zum Kloster von Golmud sich wenden, um dem Alten das Gesicht zu erzählen? Während Yüo so überlegte, fiel ihm Zhiliao ein, jener Heiler, bei dem er einst mit Bang-Zhu gewesen war. Er erinnerte, dass der Seelenarzt durchaus die Gabe hatte, in das Verborgene zu schauen. Dieser hatte ihm Dinge gesagt, die eigentlich niemand hätte wissen können. Gewiss kannte er sich auch mit der Deutung von Träumen aus. Außerdem war Yüo sehr erpicht darauf, einem Vertrauten von der Befreiung des Vogels und vor allem von der Begegnung mit dem Weibe zu erzählen. So beschloss der Sohn des Bauern Ku, zunächst hinab zur Stadt Qarhan zu ziehen. Zum Weiher konnte er dann immer noch gehen. So ging er noch einmal in die Hütte, nahm die beiden Bögen von dem Bord über der Schlafstatt und steckte sie sorgfältig in die Innentasche seines Gewandes.

Yüo ließ die Stadt Qaidam rechter Hand liegen und bog erst dann zu der Straße ab, auf der die Mönchsschar noch vor einem halben Monat in umgekehrte Richtung gezogen war. Es hatte sich viel verändert – nicht nur im Äußeren, sondern auch in ihm selbst. Yüo hatte nicht nur das gelbe wehende Gewand gegen das aus dunklem Stoff getauscht. Nicht nur waren seine schwarzen Haare nun nach hinten zu einem Knoten gebunden, anstatt in Strähnen bis auf die Schultern zu reichen; einst war er mit der Schar dem Bang-Zhu gefolgt, jetzt ging er aus eigenem Entschluss; damals waren sie im Begriff, ihr Novizensein einzutauschen in ewige Keuschheit zwischen Mauern, heute spürte Yüo dass das Leben mehr zu bieten hatte; damals war es die Kutte, die ihn schützte, jetzt war er offengelegt wie ein noch nicht beschriebenes Stück Papier.

Das Nordtor von Qarhan war zu erreichen über eine abschüssige Straße, die in eine Allee von Buchen mündete. Im Schatten der Bäume säumten, im Abstand von etwa hundertfünfzig Chi, kniende Elefanten aus Stein den sandigen Weg. Ihre mächtigen Köpfe waren dem Ebenbild gegenüber zugeneigt und ihre Rüssel berührten den rotbraunen Boden. Die wuchtigen Ohren waren eng an den Körper gelegt. So ging Yüo nach vielen Tagen einer mühevollen Reise auf dem Shen Dao der Stadtmauer entgegen. Diese war mächtig, nicht nur in der Höhe. Denn wollte der Wanderer das Tor queren, benötigte er dafür wohl dreißig Schritte. Die Stadtmauer war von gleicher wuchtiger Breite. Auf dem Tor war noch ein Turm errichtet, dessen ausladende Zinnen mit blauen Ziegeln belegt waren. Der Turm war drei Stockwerke hoch. Zwischen jedem der drei übereinander liegenden Dächer gab es einen Erker in naturbelassenem Holz. Yüo aber freute sich schon auf den Schatten, den er beim Durchschreiten des Tores genießen konnte, denn die Sonne hatte ihm heute mächtig zugesetzt. Doch vor dem Eingang zur Stadt, dort wo die Tafel mit den Vorschriften hing, saß ein Mann auf einem Hocker und vor ihm stand ein grober Tisch. Auf diesem lagen allerhand Rollen aus Papier und es lagen dort Schreibwerkzeuge. Yüo konnte ihm nicht entgehen.

„Kein Fremder erhält Zutritt zu dieser Stadt.“

Der Ton war barsch. Der Wanderer hielt inne und trat dem Tisch entgegen. In ihm brach die alte Verletzung auf. Ja, er wusste um sein Aussehen. Hatte dies der Wächter auch so gemeint? So sprach der Neuankömmling mit gesenktem Haupt:

„Aber Herr, auch ich bin ein Mann des Gelben Volkes, ich bin kein...“ Er wurde unterbrochen.

„Nun, das glaube ich dir schon. Aber bist du auch Bürger von Qarhan?“

„Nein Herr, das bin ich nicht.“

„Siehst du, das habe ich gemeint,“ sagte er triumphierend.

„Was treibt dich also nach hier?“

In Yüo stieg wieder Achtung auf. Aber es war noch nicht lange her gewesen, als Bang-Zhu und die Mönche durch dieselbe Stadt gezogen waren. Yüo konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, dass es solche Prüfungen gegeben hatte. Weder war dies am Südtor noch hier so gewesen. Deshalb gab er so zur Antwort:

„Herr verzeih, aber es kann dieses Wächteramt noch nicht all zu lange geben. Wir zogen als Novizen noch vor Kurzem durch Qarhan und weder ...“

„... Novizen?“ wurde er unterbrochen

Auf der Stirn des Wächters hatten sich Falten gebildet und die Augenbrauen waren hochgezogen.

„Ja, Herr, ich verstehe deine Ungläubigkeit. Bis vor wenigen Tagen gehörte ich zu der Schar der Frommen. Wir waren auf dem Wege nach Dunhuang. Doch dann ... Das ist eine recht merkwürdige und lange Geschichte. Deshalb und wegen eines Traumes bin ich nach hier gereist, um mich mit jemandem zu beraten.“

„Ja?“

„Ich will mich einem Freund, einem Bürger dieser Stadt anvertrauen...“

Yüo hatte die letzten Worte mit etwas erhobener Stimme und bestimmter Betonung gesprochen und fuhr fort:

„... und ihn um Rat fragen.“

„Nun, der Reihe nach.“

Der Beamte hatte verständnisvoll genickt und doch schaute er streng, als er weiter sprach.

„Hast du nicht gehört von Liu und den Roten Augenbrauen? Sie sind in den letzten Tagen raubend nicht weit von hier vorbei gezogen. Deshalb haben die Stadtväter diese Kontrollen eingerichtet. Kennst du jemanden aus dieser Bande, oder hast du mal den ein oder anderen von ihnen gesehen?“

Natürlich hatte Yüo von der Bande mit dem Henna auf der Stirn gehört und ganz gewiss auch hatte er diese Kerle gesehen. Viel schlimmer noch! Immer wieder gewährte er dem ein oder anderen von ihnen eine Tasse seiner guten Hühnersuppe, wenn sie an seiner Hütte vorbeigekommen waren und bevor sie eiligst weiterzogen. Wie konnte er die Kämpfer für Gerechtigkeit missachten. Auch ihm lag ja an Ausgleich von Arm und Reich. So wie es auch sein Vater ihn gelehrt und versucht hatte, danach zu leben.

„Aber nein, Daoshi!“

Yüo log und schüttelte eifrig mit dem Kopf. Bewusst hatte er den Beamten mit einem Titel, der ihm gewiss nicht zustand, angesprochen.

„Wenn dem so gewesen wäre ... ich hätte es sofort dem Präfekten melden lassen. Gehört von ihnen ... ja das habe ich wohl schon. Aber den Göttern sei es gedankt, bin ich niemals jemandem von diesen Schurken begegnet.“

Manchmal war es leicht, zu lügen.

„Gut. Ich glaube dir. Und nun zu deinem Freund. Wer ist es, den du aufsuchen willst?“

„Nun, es ist Zhiliao, der Heiler. Er wohnt inmitten der Stadt, dort wo der Park sich befindet, nahe dem Weberviertel.“

Der Mann am Tisch nickte und sprach:

„Du hast Glück, mein Freund. Ich kenne diesen Heiler sehr wohl.“

Er errötete leicht und sprach weiter:

„Nun gut, dann schreibe hier deinen Namen. Du bestätigst damit, dass du mit der Bande des Liu nichts zu tun hast. Wenn du die Stadt wieder verlässt, egal durch welches der Tore, musst du wieder unterschreiben.“

Er reichte dem Reisenden den Pinsel, den er zuvor in die schwarze Tusche getaucht hatte und schob das Pergament über die Tischplatte. Yüo griff nach dem Schreibwerkzeug, bückte sich leicht und setzte seine drei Zeichen auf das Papier. Die Lüge war jetzt beschlossene Sache.

„Darf ich nun gehen?“

„Ja, aber natürlich,“ antwortete der Wächter und warf dabei einen Blick auf das gerade Geschriebene, machte dabei eine einhaltende Armbewegung und meinte:

„Kannst du mir einen Gefallen tun - Yüo, Sohn des Bauern Ku?“

„Ich?“

„Ja, du.“

„ Welchen Gefallen meinst du?“

Nun winkte der Beamte den Yüo näher zu sich und sprach leise über den Tisch gebeugt, so als könnten es andere ansonsten hören:

„Verrichte dem Zhiliao einen Gruß von mir und sage ihm, dass es meinem Weibe jetzt viel besser geht.“

Er deutete auf seinen Bauch. Yüo nickte und meinte verstanden zu haben.

„Aber wie ist dein Name? Von vom soll ich dem Heiler gegenüber sprechen?“

„Ja, natürlich, du hast Recht. Mein Name ist Deng Dai.“

„Gut, lieber Herr Deng Dai. Ich werde von dir und deinem Weibe grüßen.“

„Xie, xie ... und die Götter und Ahnen seien mit dir, wo de peng you!“

„Vielleicht kannst du mir irgendwann erzählen, warum aus einem Novizen wieder ein normaler Bürger wurde,“ rief der Wächter dem Davongehenden hinterher. Mitten im Tor – schon ein paar Schritte im Schatten - blieb Yüo stehen, drehte sich halb und hob die Rechte.

„Ja, vielleicht.“ - Wie seltsam, dass in Momenten, wo alles andere möglich scheint, ein neuer Freund in das Leben tritt. Wie seltsam! Und es geschah durch eine Irreführung! –

Keine Freundschaft ist möglich, es sei denn durch Anstrengungen und manchmal auch durch Zugeständnisse sich selbst gegenüber.

Beim Heiler (44)

Yüo schritt zuversichtlich durch die Gassen. Um in den Park zu gelangen, musste er das Weberviertel durchqueren. Der Garten aber befand sich mitten in der Stadt und war überhaupt nicht zu verfehlen. Heute lag er in seiner ganzen Pracht da. Wie ganz anders war es gewesen, als Yüo einst mit dem Bang-Zhu hier gewesen war. Wie eine gebrochene Seele schien ihnen da die Anlage. Inmitten des sommerlichen Trubels nun sollte der Park ein Ort der Ruhe sein. Er war offen für jeden Bürger der Stadt und für jeden ehrlichen Besucher. Yüo trat durch ein steinernes Tor in das Reich des Friedens. Der Garten selbst war mit einer übermannshohen Mauer umgeben, auf deren Krone grün lackierte Ziegel angebracht waren. Die Außenseite der steinernen Umfassung war schlicht und an manchen Stellen mit Efeu oder wildem Wein bewachsen. Hin und wieder wurde die Mauer von Fenstern in der Form von Vasen oder Blüten durchbrochen. Das Tor aber war rund wie der Mond in seiner Vollkommenheit. Rechts und links von dem Bogen gab es Wasser speiende Drachenköpfe und Yüos Blick viel auf Beete von Päonien und Chrysanthemen, von Rosen und Jasmin, von Begonien und Forsythien. Kleine Tümpel, solche mit offenem Wasser, aber auch solche, deren Oberfläche mit Seerosen oder Lotusblüten fast vollkommen bedeckt waren, lagen diesseits und jenseits der gewundenen Pfade. Dort wo sich die Wege gabelten, standen Tierfiguren aus Stein. Heute lustwandelte so mancher durch die Anlage. An einigen Plätzen in diesem Park waren Stelen errichtet worden, um die im Kreise Kalksteinbrocken in den absonderlichsten Formen gelegt waren. Grotten gab es, über die sich Trauerweiden mit ihren schützenden Armen breiteten und Pavillons gab es, die einluden zum Ruhen. Entlang von Bächen ging Yüo und konnte diese über kleine und gebogene Brücken hin und wieder überqueren. Inmitten der Anlage, von hohen und alten Kiefern umsäumt, war ein kleiner Tempel erbaut worden, der dem Meister Kong geweiht war. Seine Grundfesten bestanden aus vier mächtigen Ziegelsäulen, auf denen drei übereinanderliegende Dächer Schutz gewährten. Das untere von ihnen wölbte sich über den Grundriss des Heiligtums, das fünfzig mal fünfzig Chi maß. Die beiden folgenden Dächer verjüngten sich um jeweils zehn Chi. Das Dreidach wurde von gewaltigen Holzbalken getragen, die auf den vier Steinsäulen lagen. Auch die Dächer waren aus Holz. Das untere war blau, das mittlere grün und das oberste rot lackiert. Die Ostseite des Tempels war durch ein Holzgitter versperrt, so dass jeder einen Blick in den Innerhof werfen konnte. Hier befand sich auch die Tür, durch die der beten Wollende eintreten konnte. Die anderen Seiten des Tempels waren vermauert. Im Park stand neben den vielen Pavillons und dem Tempel noch ein kleines Haus, um das herum es einen Garten gab. Es befand sich aber gleich am Beginn einer Kastanienallee. Im Schatten der ersten Bäume ging Yüo auf das Haus zu. Es war ein wunderschöner Nachmittag. Die Wipfel rauschten im Wind, und Amseln und Drosseln, Finken und Spatzen, Krähen und Tauben sangen, zwitscherten, gurrten und krähten ihr Lied. Untermalt war all’ dies vom Gurgeln des kleinen Baches, der den Weg rechter Hand begleitete. Yüo hatte sich nicht allzu viel Gedanken gemacht, ob Zhiliao überhaupt daheim wäre. und wenn ja, ob er denn Zeit für den Weitgereisten hätte. Es würde sich zeigen und meist begleitete den Yüo eine gütige Hand. So trat er in den Vorgarten und schlug dreimal mit der flachen Hand auf die Türe. Wenig später wurde diese geöffnet. Vor ihm stand der Seelenarzt. Doch schaute dieser fragend auf den Neuankömmling.

„Ja?“

„Ich bin es. Der Yüo.“

„Yüo?“

„Ich war mit dem Mönchen Bang-Zhu bei dir und ...“

„Ah ja.“ Zhiliao überlegte kurz und sprach dann so:

„Aber trugst du da nicht das Gewand eines Novizen?“

„Ja, Herr, deswegen komme ich zu dir. Ich muss mit dir reden.“

Zhiliao schien etwas verlegen.

„Ich habe Gäste und nachher muss ich noch jemanden aufsuchen. Es wird spät für mich. Die Gastfreundschaft gebietet mir aber, dich nach deinem Hunger zu fragen. Hast du ...?“

„... Oh ja Herr, mich hungert und dürstet.“

„Dann tritt ein und gehe durch das Haus hinein in den Garten. Mein Weib wird dir vorsetzen, was wir haben. Wenn du willst, kannst du auch bei uns in der Nebenkammer nächtigen. Morgen früh dann, können wir miteinander reden.“

So geschah es.

Die Nacht war lau und Yüo lag lange wach. Er war froh, den Weg nach Qarhan gewählt zu haben und er war froh, dass Zhiliao am nächsten Tag Zeit für ihn haben würde. Dann endlich gab er sich den Traumgeistern hin. Des Heilers Weib war sehr fürsorglich und sie war für den Yüo schön anzusehen. Zum Frühmahle gab es klebrigen Reis mit geschmorten Auberginen, drei verschiedene Sorten von gebratenen Mogus, eingelegtes Kraut und Gurken, stark gesüßten Cha und Dou-Fu mit dem Geschmack von Zitronen. Zuvor schon hatte Yüo sich im Hause frisch machen und für den Tag richten dürfen. Zum Essen aber saßen sie draußen im morgendlichen Garten. Dieser war umgeben von einer Mauer und er schien das Abbild des großen Parks um sie herum zu sein. In seiner Mitte lag ein kleiner Teich von Ried umsäumt, in dem sich Goldfische tummelten. Stauden von Bambus, knorrige Kiefern, Pflaumen- Kirschbäume und Kastanien waren im Garten verteilt. Kieswege, die mit weißen Steinen begrenzt waren, wanden sich durch das Gras. An manchen Stellen erhoben sich kleine Felsen, gleich den Panzern von Schildkröten aus dem Boden. Nachdem sie einige Bissen zu sich genommen und von dem Cha gekostet hatten, sagte Zhiliao.

„Du hast den weiten Weg sicher nicht auf dich genommen, um mir von einer Kleinigkeit zu erzählen. Ich bin sehr gespannt, was du mir alles zu berichten hast.“

„Herr, ich weiß nicht wo anfangen.“

„Am besten von vorne.“ Ein schelmisches Lächeln ging um die Augen des weisen Mannes.

„Herr, es gibt drei Dinge von denen ich dir berichten muss. Da ist zunächst die Tatsache, dass ich den Bambusvogel in die Freiheit habe fliegen lassen.“

„So.“

„Dann bin ich einem Weibe begegnet, was mich dazu veranlasste, mein Novizensein aufzugeben.“

„Ah ja.“

„Dann hatte ich noch einen interessanten Traum, den ich dir unbedingt erzählen muss. Ich habe ihn hier aufgeschrieben.“ Yüo klopfte sich bei diesen Worten auf die Brust.

„Das klingt viel versprechend, beginne am besten so wie du es vorgeschlagen hast.“

Der Morgen ging und der Mittag kam. Yüo hatte von seiner Reise mit der Schar und dem Bang-Zhu nach Dunhuang berichtet, wie er sich entschlossen hatte, mit dem Vogel zu seiner Hütte zu marschieren und wie er den Niau-Zhuzi dort freigelassen hatte. Er ließ sich dabei viel Zeit. Er sprach von dem Weiher und wie er dort ein Weib entdeckt hatte. Er sprach aber erst sehr verhalten davon und traute sich nicht, gleich alles zu erzählen. Dann hatte Yüo das Pergament hervorgeholt und dem Heiler vorgelesen, was ihn kurze Zeit daraufhin geträumt hatte. Zhiliao hatte die ganze Zeit mit offenem Gesicht zugehört. Seine Augen schauten milde und fürsorgend. Gesprochen hatte er bisher kaum etwas. Nur als Yüo über das Weib sprach, hatte er ihm ein paar Mut machende Worte gesagt. Doch blieben ein paar Fragen offen. Als sie vom Tische aufstanden, sich in den Schatten der Birken setzten und den heißen Cha schlürften, meinte Yüo zurückblickend:

„Vielleicht war es verkehrt, in das Kloster zu gehen. Aber ich mag auch nicht glauben, dass sich der Abt so in mir getäuscht haben sollte. Denn er stimmte ja meinem Verbleib zu und er hatte sich zudem – wie er mir sagte – mit den Mönchsbrüdern darüber beraten. Außerdem hatte mir mein Herz damals ganz deutlich gesagt, dass ich diesen Weg gehen soll.“

Von der damaligen Erscheinung Luanxings aber sprach Yüo nicht. Zhiliao hatte beim Zuhören Falten auf seine Stirn geworfen und sprach so:

„Lieber Yüo – ich denke schon, dass du sehr überzeugend sein kannst und dass du in der Lage bist, andere deshalb in die Irre zu führen. Außerdem – bei allen deinen Fehlern, die du dir sicher manchmal selbst vorhältst – hast du eine große Liebe zu den Göttern. Du kamst einst mit dem Mönchen zu mir und auch heute ist es so, dass du dir Hilfe suchst. Das zeigt mir, dass du es ehrlich meinst.“

Yüo war rot geworden, weil er sich nicht sicher war, ob er es auch tatsächlich immer ehrlich meinte. Hatte er wirklich so viele Fehler, wie der Heiler eben meinte? Wie kam er darauf, ihm Überzeugungskraft zuzusprechen? So sagte er nichts und der Seelenarzt fuhr fort:

„Selbst wenn sich der Abt getäuscht hat, wenn die Brüder ein Fehlurteil gefällt haben und wenn du selbst zu einem Fehlschluss gekommen bist - alles hat seinen Sinn. Die Wege der Götter sind oft erst vom Ende her zu erkennen.“

„Ja, das mag sein,“ sprach Yüo nachdenklich, denn der Spruch über die Wege der Götter war gut und er fuhr fort:

„Wie dem auch sei, Herr, ich wollte dieses Mal aber den Rat eines Seelenarztes einholen, um nicht wieder in die falsche Richtung zu laufen und wollte deshalb deinen Rat zur Hilfe nehmen.“

„Du glaubst, ich wäre weiser als der Abt und die Brüder?“

„Nein,“ log Yüo, „das nicht. Aber du bist ein Arzt und ich hatte die Hoffnung, dass du dich deshalb vielleicht auskennst mit der Deutung von Träumen. Außerdem hattest du bei unserer ersten Begegnung Dinge über mich gesagt, die du eigentlich nicht hättest wissen können. Dein Blick – so hoffte ich und glaube es auch eigentlich – geht tief.“

„Nun, vielleicht hast du Recht – lasse uns beginnen. Sag mir, was hast du wirklich empfunden als du das halbnackte Weib sahest. Warst du beschämt?“

„Herr, ich muss dir gestehen – es war ganz nackt. Es trug nur das Halsband.“

„So. Ganz nackt! Davon sprachst du nicht.“

„Ich traute mich nicht.“

„Nun aber hast du es gesagt. Gut. Was tatest du?“

„Ich habe es genossen, Herr.“

„Das wundert mich. Warum warfest du dich nicht auf den Boden?“

„Ich musste schauen, Herr, ich konnte nicht anders. Hätte ich mich denn auf den Boden werfen sollen?“

„Nun – ihr Mönche tut doch so etwas.“

„Aber in meinem Herzen war ich auf einmal nur der Yüo und ich konnte in diesem Moment nicht anders.“

„Du wolltest nicht anders.“

„Ich konnte nicht anders.“

„Du wolltest nicht.“

„Ja, du hast Recht. Jedenfalls hätte ich mich noch wenige Tage zuvor tatsächlich auf den Boden geworfen, wie du sagtest.“

„Was war wenige Tage zuvor so anders?“

„Ich war bei Bang-Zhu.“

„Und? Sonst war weiter nichts anders?“

„Nein. Das heißt, doch. Ich hatte den Bambusvogel bei mir.“

„Erzähle mir genau, was du empfunden hast, als du das ganz nackte Weib so vor dir sahst. Du sprachst davon, dass du es genossen hast.“

„Ja, Herr, diese Pracht und diese Schönheit waren in meinen Augen nichts Verwerfliches und ich fing an, ein solches Weib zu begehren.. Ich war so ergriffen von diesem Bilde, dass ich einen Fluch ausgestoßen habe. Als ich das tat, drehte sich das Weib zu mir um und ich sah noch mehr von ihrer Pracht.“

„So – nichts Verwerfliches also. Erzähle mir nun noch einmal von dem Bambusvogel .“

Yüo berichtete nun genauer, wie er sich von der Gruppe der Mönche getrennt hatte, um mit seinem Vogel zu seiner Hütte zu wandern. Dort habe er ihn dann frei gelassen und vorgehabt, wieder auf die Schar der Frommen zu stoßen.

„Wie ging es dir, nachdem du dem Vogel die Freiheit gegeben hattest?“

Yüo wurde wieder rot und sprach etwas verschämt.

„Auch ich fühlte mich befreit, obwohl ich bis heute die Hoffnung habe, der Niau-Zhuzi kehre zu mir zurück. Trotzdem - es war mir, als hätten der Bambusvogel und ich uns aneinander gekettet und dass ich mich selbst – wie auch den Vogel – in einen Käfig gesperrt hatte.“

Zhiliao machte eine Pause und grinste.

„Was ist es?“, wollte Yüo wissen.

„Nun, du hast eben Dinge gesagt, die auch ich hätte sagen können. Du bist demnach deinem Heil schon selbst auf die Spur gekommen und du bist dabei, dein eigener Arzt zu werden.“

Doch dann wurde der Weise ernst. Er setzte seinen Teebecher ab, beugte sich zu Yüo vor und sprach zu ihm klare und doch huldvolle Worte. Er legte Yüo noch einmal dar, was dieser ja auch schon für sich im Kleinen erkannt hatte. Dass nämlich der Vogel ihn im Umgang den Lüsten der Welt gegenüber verklemmt gemacht hatte. Nicht aber der Vogel selbst war es, sondern sein Umgang mit dem Besitz des schönen Niau-Zhuzi. Ja es gab sie, die schönen Dinge dieser Welt und es gab sie, die noch schöneren Dinge in den Augen eines Mannes. Es war falsch, sie zu leugnen, sie zu verdrängen, sie zu dämonisieren. Im Gegenteil sollte ein Mann diesen Dingen geradewegs ins Auge schauen und sie anerkennen. Doch sei es wichtig zu erkennen, dass bei all dem Prachtvollen, bei all dem Betörenden, bei all dem Berauschenden doch nur eine Sache die Sache des Herzens sein kann. Da wird dann alles andere schnell zu bröckelndem Lack auf tönernem Erz.

„Wenn du so mit dem Besitz des Bambusvogels umgegangen wärest, dann wäre das gesund gewesen. So aber warst du an dieser Stelle krank.“

„Und? Bin ich womöglich deshalb ein Novize geworden?

„Überlege.“

„Nun. Ich hatte den Entschluss zum Kloster zu gehen gefasst, weil mir ...“

Yüo stockte, denn er hatte die Begegnung mit dem Schemen des Luanxing bisher nicht erwähnt. Nun aber erzählte er Zhiliao auch davon und dass ihm der Luanxing geraten hatte, das zu tun, was ihm selbst, dem Yüo, schon klar geworden sei und es daher überflüssig, ja unrecht wäre, das Orakel, wie er es beabsichtigt hatte, zu befragen.

„Ja, es war gut, dass du in diesem Fall das Orakel nicht befragt hast.“

„Nun Herr, um es kurz zu machen, wenn ich im Nachherein ehrlich bin, dann wollte ich es wohl selbst. Die Erscheinung des Luanxing hat es nur bestätigt.“

„Gut. Nun erzähle mir, warum wolltest du nach dem Kloster von Golmud?“

„Um Klarheit über mein Leben und meine Stellung zu dem Niau-Zhuzi zu erhalten.“

„Und – hattest du die Erleuchtung dort?“

„Nein, Herr, es wurde ja nur noch schlimmer.“

„Warum, was denkst du, war dies so?“

„Das vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht aber deshalb, weil ich jetzt auch noch eingesperrt in Mauern war und das alles zuviel für mich wurde.“

„Vielleicht.“

Zhiliao machte eine Pause und Yüo fragte:

„Ja?“

„Weißt du, was ich glaube, lieber Yüo?“

„Herr, was ist es?“

„Das Novizengewand sollte all das Ungereimte in dir übertünchen. Vielleicht gingst du in das Kloster, um vor den Göttern etwas gut zu machen. Du hattest die erste Liebe zu dem Niau-Zhuzi verloren und nun wolltest du sie eintauschen gegen die zu den Göttern. Kann das sein?“

Wieder einmal war der Sohn des Ku erstaunt, wie dieser Heiler messerscharf an ihm arbeitete. Ja, so könnte es nämlich gewesen sein. Sie sprachen noch lange., sprachen noch einmal über das Weib, sprachen über das Leben, sprachen über die Zukunft, sprachen über den Gewinn und über den Verlust von Dingen, sprachen über den Bambusvogel und kamen so zu dem Traum.

Sprach Yüo so:

„Herr, ich habe dir vorgelesen, was ich über den Traum aufgeschrieben hatte. Wisse, es war kurz nach der Begegnung mit dem Weibe.“

„Willst du wissen, was dir der Traum sagen wollte?“ fragte der Heiler.

„Ja Herr, vor allem deswegen bin ich zu dir gekommen.“

„Nun gut, lies doch noch einmal vor, was dir träumte.“

Und Yüo las noch einmal was ihm geträumt hatte in jener Nacht.

„Ich ging mit meinem älteren Bruder entlang des Kranichsee, dort wo uns die Eltern einst hingeschickt hatten. Das Schilfrohr sang im Wind. Mal waren die Töne schön, mal waren sie es nicht. Mehr und mehr aber war der Gesang meines Bambusvogels zu hören. Doch als ich mich zu meinem Bruder wandte, war an seiner Stelle der Chang Tou-fa, jener Mann vom Schilfsee. Dieser aber sprach zu mir: „Ist das nicht der Bambusvogel, der da singt?“ Mit meinen Augen suchte ich das Ufer ab, sah aber den Bambusvogel nicht. Stattdessen sah ich auf der linken Schulter des Chang einen goldenen Vogel sitzen. Da wandelte sich das Gesicht wieder und dieses mal war es der Guang, jener junge Mann, der den Wanderprediger begleitet hatte. Der goldene Vogel aber saß auf der Schulter des Guang. Dieser öffnete den Mund und sprach zu mir „Schau, Yüo, schau, wer sich dort uns naht.“ Ich blickte in die gezeigte Richtung und sah jene Erzieherin, die mich mit so viel Liebe bedacht hatte. Nur mit einem Badetuch war sie bekleidet und sie trug ein Lederband mit einer Quaste am Hals. „Es ist Zeit, zu schlafen,“ flüsterte sie mir zu und fuhr fort: „Leg´ dich zur Nacht.“ - „Hier?“ fragte ich. Sie nickte und ihre Augen sahen verführerisch. Sanft drückte das Weib mich mit der Rechten zu Boden. Mit der Linken noch, hielt sie ihren Schutz. Ich glitt nieder und das Weib beugte sich über mich. Da fiel das Tuch. Das Weib aber sprach zu mir: „Yüo, Sohn des Bauern Ku, kennst du den Weg zu den Inseln der Glückseligkeit?“ Doch ehe ich Antwort geben konnte, verschloss sie meinen Mund mit ihren Lippen und ihre Zunge spielte mit der meinen. Über dem See jedoch, im Westen, waren zwei nebeneinander stehende Sterne zu sehen. Es war genauso, wie meine Mutter mir einst erzählt hatte.“

Der Seelenkundige hatte noch einmal aufmerksam zugehört und sprach so:

„Wir wollen den Traum der Reihe nach durchgehen. Ich werde dich bitten, mir das Eine oder Andere noch zu erzählen. Ich habe Fragen und du kannst mir Antworten geben. So berichte mir noch etwas über den Kranichsee.“

„Herr, der See war sehr viele Tagesreisen von unserer Heimat entfernt. Drei Tage und drei Nächte habe ich dort geweint, weil meine Ma und mein Pa mir fehlten und ich dachte, ich würde sie nie wiedersehen.“

„Drei Tage und drei Nächte?“

„Ja, Herr. Mein Bruder aber und eine der Erzieherinnen haben sich sehr um mich bemüht. Mein Bruder redete gut auf mich ein und die Erzieherin küsste mich vor dem Schlafen zur Nacht auf den Mund.“

„So.“

„Und noch Jahre nach diesem Erlebnis hatte ich Schwierigkeiten einzuschlafen. Es sei denn, ich schaukelte mich auf dem Lager selbst in den Schlaf.“

„Hat dich dieses Erlebnis so mitgenommen?“

„So scheint es, Herr.“

Der Arzt nickte. Seine schmalen Lippen waren leicht geöffnet und die weißen Zähne gaben ihm Autorität.

„Erzähle aber weiter. Du hattest dich im Traum an deinen Bruder gerichtet. Dass du von ihm träumtest, liegt auf der Hand, denn mit ihm warst du ja tatsächlich am Kranichsee. Doch dann war der plötzlich der ... wie hieß er noch?“

„Chang -Tou-fa, Herr, so heißt er.“

„Gut. Erzähle mir, was der Chang Tou-fa in der Wirklichkeit mit dem Bambusvogel zu tun hat. War er ein Bekannter, ein Freund oder gar Vertrauter von dir?“

Yüo wurde rot. Wut und Trauer legten sich auf sein Gesicht. Er überlegte einen Moment und sagte dann so zu dem Heiler:

„Ich dachte nicht, dass du mir solche Fragen stellst.“

„Nun, wir wollen der Sache doch aber ganz auf den Grund gehen und dazu sollte ich das Ein oder Andere schon noch wissen. Wenn es dir unangenehm ist, dann ...“

„ ... Schon gut, schon gut,“ fuhr ihm Yüo dazwischen und er erzählte:

„Eines Tages war mein Bambusvogel verschwunden. Lange Zeit kehrte er nicht zurück. Bis eines Tages jener Chang Tou-fa gemeinsam mit ihm zu meiner Hütte kam und ihn aber für sich beanspruchte. Wir gerieten in Streit und unsere Freundschaft ist wegen dieses Vogels bis heute zerbrochen.“

„Interessant, interessant. Bereust du den Bruch zwischen dir und ihm?“

„Eigentlich ja, Herr. Doch ich weiß nicht, wie ich es anfangen soll, das alles rückgängig zu machen.“

„Nun ... kommt Zeit, kommt Rat ... hat schon der alte Meister Kong gesagt. Du sprachest dann davon, dass sich das Gesicht deines ehemaligen Freundes wandelte. Erzähle mir von diesem Gesicht.“

„Oh Herr. Es war der Guang. Ich habe ihn vorhin beim Erzählen des Traumes erwähnt, aber von ihm selbst habe ich noch nichts erzählt. Eines Tages kamen zu mir drei Wanderer. Ein Mönch war es, der zwei junge Begleiter hatte. Der eine hieß Jiao und der andere Guang. Und ihn sah ich im Traum statt des Chang.“

„Ja, und auf seiner linken Schulter saß ein goldener Vogel, oder?“

„Ja, Herr. Von dem goldenen Vogel hatten mir diese Fremden erzählt und auch die wundersame Geschichte von dem Prinzen aus Sind. Hast du von ihm gehört?“

„Aber ja doch. Auch von dem goldnen Vogel, den der alte Kaiser Wang Mang einst im Traum gesehen hat, habe ich gehört.“

„Das dachte ich mir, Herr.“

„Aber,“ so fuhr der Meister fort, „welche Rolle spielt dieser ... Guang in deinem Leben? Ist er etwas Besonderes? Warum er und nicht der andere?“

„Herr, der Guang versprühte schon von Beginn an eine andere Aura als sein Bruder. Mich deuchte von Anfang an, dass er etwas Besonderes sei. Er sprach nur die nötigsten Worte und strahlte eine besondere Ruhe aus.“

„Nun gut, wir kommen später darauf zurück. Was gibt es sonst noch über den Traum zu sagen?“

Die Stirn Zhiliaos war hoch und für den Himmel offen. Wenn er seine Augen für einen Moment schloss, zeichneten die gegen einander geschlagenen Wimpern eine Welle und die Lider waren ohne Falten.

„Herr, es war der Guang der mich im Traum auf das Weib aufmerksam machte.“

„Ja, und er nannte dich bei deinem Namen, stimmt doch, oder?“

„Ja, Meister, bedeutet dies etwas Schlimmes?“

Zhiliao musste etwas lächeln und sagte:

„Sei nicht so ängstlich. Aber auch darüber will ich dir später berichten ...“

Sie nahmen vom Reis, kosteten ein paar Pilze und tranken vom lauen Tee. Dann sprach Zhiliao:

„Also, jene Erzieherin war nur mit einem Badetuch gekleidet. Hattest du sie schon einmal so gesehen, ich meine damals, als du mit deinem Bruder am Kranichsee weiltest?“

„Nein, sie nicht. Aber jenes Weib am Weiher hatte doch nach ihrem Tuch gegriffen.“

„Ja, und nun kommst du mir fast zuvor und fängst wieder an, deinen Traum selbst zu deuten. Aber das ist gut so. Lass uns eine Pause einlegen und mit frischem Pfirsichwasser uns laben.“

So taten sie es. Zwischen ihnen und dem Haus lag der Sandplatz im Morgenschatten. Die Kiefern in ihrem Rücken jedoch wurden schon von der Sonne beschienen. Am Stamm einer dieser Bäume verharrte ein Eichhörnchen und genoss die wärmenden Strahlen.

Nach einer Weile forderte Zhiliao den Yüo auf, noch einmal über das Ende des Traumes zu sprechen.

„Ja, Herr. Nachdem ich zu Boden geglitten war, sah ich mit einem Male am westlichen Himmel zwei Sterne wie zu einem Stern vereinigt.“

„Du meinst so, wie es in der Vergangenheit vor großen Ereignissen schon geschehen ist?“

„Ja.“

„Woher wusstest du davon?“

„Ich erwähnte es schon: Meine Ma hatte mir in Kindheitstagen davon erzählt. Ich war von einem Baum gestürzt und musste lange das Krankenlager hüten. Es war ein schwerer Unfall und fast wäre ich gestorben.“

„Ja, du hattest den Unfall damals erwähnt. Rühren deine beiden Narben daher?“

Der Heiler deutete mit seiner Rechten auf den Kopf des Yüo. Seine Hände waren groß, aber feingliedrig und fast jede Ader schimmerte durch die Haut.

„Ja, sie sind von jenen Tagen übriggeblieben. Sie verunstalten mich, oder?“

„Aber nein, mein Freund. Überhaupt nicht. Sie machen dich interessant.“

Der Gastgeber hatte die Rechte erhoben und den Kopf geschüttelt. Über Yüos Gesicht huschte Erleichterung.

„Nun lass uns noch einmal über das Weib in deinem Traum reden. Wie war das noch?“

„Soll ich?“

„Ja, erzähl noch einmal!“

Zhiliao wollte diesen Schluss noch einmal zum Thema machen.

Obwohl schon zweimal vom Pergament vorgelesen, erzählte Yüo die Geschichte noch einmal:

„Die Erzieherin drückte mich also mit ihrem rechten Arm sanft zu Boden. Mit der Linken hielt sie ihren Schutz. Ich glitt nieder und das Weib beugte sich über mich. Da fiel das Tuch und ihre Lippen waren mir ganz nahe.“

Den Traum deuten (45)

Sie nahmen ein wenig von dem klebrigen Reis, nahmen von den Pilzen und schlürften den lauen Tee. Dann begann der Heiler so zu reden:

„Wir wollen den Traum gemeinsam versuchen zu deuten. Du hattest ja bereits damit begonnen. Doch sage mir, warst du in dem Traum ein Kind oder warst du ein erwachsener Mann, wie du es heute bist?“

„Mmmh, Herr, ich weiß nicht so recht. Ich denke, am Anfang war ich noch das Kind. Aber sobald der Chang und der Guang und vor allem das Weib im Traum erschienen ... ja, da war ich dann ein Mann.“

Weiter sprach der Heiler:

„Ist dir aufgefallen, dass es in deinem Traum drei Sinnbilder gibt?“

„Sinnbilder? Was meinst du damit, Herr?“

„Nun, es sind Zeichen, die nicht nur dem Träumer, sondern allen Menschen etwas zu sagen haben.“

Yüo überlegte eine Weile, dann meinte er:

„Ich denke, die beiden Sterne in ihrer Verschmelzung sind auf jeden Fall so ein Zeichen.“

„Das sehe ich auch so. Weiter!“

„Der goldene Vogel auf der linken Schulter des Chang – äh, ich meine des Guang - ist gewiss auch ein Sinnbild.“

„Ja, wenn auch ein nicht so altes wie das der Sterne. Aber es entstehen immer wieder neue Zeichen und außerdem erschien dieser goldene Vogel ja auch dem alten Kaiser. Weiter! Gab es noch ein Sinnbild?“

„Ich weiß nicht, Herr, vielleicht der Bambusvogel oder der Guang selbst.“

„Ich denke da an etwas anderes. Halte dir noch einmal das Weib vor Augen.“

„Das Weib?“

„Nein, nicht das Weib selbst, sondern ... überlege.“

„Ich weiß nicht.“

„Was hatte es an?“

„Ein Tuch, sonst nichts.“

„Doch, da war noch mehr.“

„Du meinst das Lederband mit der Quaste am Hals?“

„Ja, genau. Es ist das Zeichen, dass dies Weib einem anderen versprochen ist. Erinnerst du dich?“

„Aber natürlich, Herr. Vielleicht war es aber ein Zufall.“

„Nun, das glaube ich nicht.“

Beide schwiegen für einen Moment und Yüo nippte ein wenig verlegen an seinem Teebecher.

„Lass uns fortfahren, über den Traum zu sprechen. Welche Bilder des Traums bleiben noch übrig – ich meine jene, die nur dir etwas sagen wollten.“

Yüo war erleichtert, dass das Thema um das Weib im Moment nicht weitergeführt wurde.

„Nun, da ist mein Bruder, der Chang Tou-fa, der Guang, der Bambusvogel und der Gesang des Rieds.“

Yüo meinte nun, der Zhiliao würde jetzt über die einzelnen Bilder zu ihm reden. Damit, was nun kam aber, hatte er nicht gerechnet, denn die Frage kam ganz unvermittelt.

„Warum hast du die Kutte verbrannt?“

„Herr, wie meinst du?“

„Warum?“

„Herr, ich wollte nicht mehr Novize sein. Ich war es in meinem Herzen nicht mehr. Ich wollte es auch nach außen hin zeigen.“

„Aber warum hast du sie gleich verbrannt? Hätte es nicht genügt, sie abzulegen und in der Hütte zu verwahren?“

„Du meinst, falls ich es mir doch noch anders überlege?“

„Nein, mein lieber Yüo. Dein Entschluss stand ja fest. Ich meine als Mittelweg.“

„Mittelweg?“

„Ja. Bei dir muss es alles oder nichts sein. Stimmt es? Ja oder Nein! Schwarz oder weiß. Heiß oder kalt.“

„Ja Herr, da hast du wohl recht.“

„Vor allem muss immer gleich geschehen, was zu tun ist. Du kannst nicht warten.“

Yüo schaute einen Augenblick beschämt zu Boden und hörte, wie Zhiliao nun sprach:

„Schau, das Novizentum gehörte zu deinem Leben. Es war mal ein wichtiger Teil deines Lebens, ja dein Leben selbst – warum dann die Kutte im Gedenken daran nicht aufbewahren?“

„Ja Herr, da hast du Recht.“

Es war inzwischen Mittag geworden. Sie hatten aber das Morgenmahl bis in diese Zeit genossen, so dass es jetzt nur einen Erfrischungstrank gab. Das Weib trat in den Garten und trug einen steinernen Krug. Es war ein bezauberndes Weib. In dem Steinkrug aber befand sich kühles Wasser. Zhiliao und Yüo labten sich daran. Dann sprach der Gastgeber:

„Es ist Zeit, sich ein wenig zur Ruhe zu legen. Danach lasse uns weiter über den Traum sprechen.“

Zhiliao zog sich zurück in das Haus und Yüo döste unter der Birke. Er ließ aber seine Gedanken treiben. Dann nach der Mittagsruhe sprachen sie in Klarheit über den Traum.

„Lass uns wieder mit dem Weibe beginnen,“ eröffnete der Heiler das Gespräch und sah dem Gast mitten ins Gesicht.

„Sag mir noch einmal, Yüo, was trug das Weib aus deinem Traum um den Hals.“

„Herr, du weißt es.“

Yüo sprach es nicht aus, sondern in diesem Moment erschrak er, denn er fühlte sich durch den Blick des Zhiliao auf dem Grund seiner Seele getroffen. Dessen Weib hatte seine Sinne angesprochen, hatte ihn innerlich erregt, hatte sein Begehren geweckt. Das war nicht gut und es war nicht richtig. Er sollte keine Frau begehren, die einem anderen versprochen war. Yüo erwartete ein scheltendes Wort seines Gastgebers. Doch stattdessen stellte dieser eine Frage, eine erlösende Frage:

„Wer hat dir von den drei Inseln der Glückseligkeit erzählt ... ich meine, du musst davon gehört haben, sonst hättest du nicht im Traum diesen Namen vernommen?“

„Herr, es war das Weib, das im Traum von diesem geheimnisvollen Ort sprach.“

„Ja, aber du musst zuvor davon gehört haben.“

„Herr, es war wiederum meine Mutter, die mir ... du erinnerst dich an das Krankenlager... davon erzählte.“

„Was genau erzählte sie denn?“

Yüos Augen begannen zu leuchten.

„Es war der Gottkaiser, der Erhabene, der sein ganzes Leben darauf verwandte, die Unsterblichkeit zu finden. Er sandte Expeditionen aus, um das ewige Leben zu finden. Schiffe sandte er auf das Meer Richtung Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Doch jene Männer und Frauen kehrten niemals zurück.“

„Ja, das ist richtig. Und weiter?“

„Aber Herr, du kennst doch diese Geschichte, warum lässt du mich sie zählen?“

„Das werde ich dir gleich sagen.“

„Wie du meinst ... Der Kaiser Wudi also ließ dann einen schönen Garten anlegen, in dem es einen See gab, in dessen Mitte sich drei wilde Felsen erhoben. Sie sollten jene Inseln der Glückseligkeit versinnbildlichen, jene, die die Gesandten unseres Ahnherrn nie finden konnten.“

„Genauso war es, mein Guter. Schau, auf diesen Inseln, so wird es überliefert, sollen angeblich die acht Unsterblichen wohnen. Wir haben also in deinem Traumgesicht noch ein weiteres Zeichen. Ich sah deine Augen leuchten, als du von den Inseln der Glückseligkeit vorhin sprachst. Es war mir nicht nur wichtig, die Geschichte von dir zu hören, sondern ich wollte auch erleben, mit welchen Gefühlen du die Geschichte erzählst. Deshalb ließ ich dich sie nochmals erzählen.“

„Herr, ich fürchte mich vor dem Tod.“

„Ich weiß.“

Zhiliao nickte wissend und er schob seine Unterlippe etwas vor. Er spürte die tief sitzende Furcht, die wie eine Kralle schier unlösbar sich an der Seele des jungen Mannes festhielt.

„Und? Was denkst du? Kann dir die Erzieherin den Weg zur Unsterblichkeit gezeigt haben wollen?“

„Du meinst, das Verlangen ist der Weg in die Unsterblichkeit?“

„Womöglich!“

„Ich weiß nicht, Herr. Es gibt diesen Ort der Glückseligkeit vielleicht gar nicht. Außerdem hörte ich von Gerüchten, es gäbe ein Kloster irgendwo verborgen und unzugänglich in der Provinz Xizang, wo Mönche weilen, die schon zu Lebzeiten unseres Ahnherren über diese Erde gegangen sind.“

„Du redest von Shangri-La?“

„Ja, Herr, jene Stätte, wo Himmel und Erde sich küssen! Es wurde schon gemunkelt, das Adlerkloster bei Golmud wäre jener Ort. Aber das ist natürlich Unsinn. Und überhaupt ... ich zweifle und halte alles für gut gemeinte Legenden. Wir alle werden sterben und hinüber schweben in das Reich der Ahnen und Geister. Nur, mir scheint ... ich, der Yüo, habe mehr Angst vor dem Tode als du und alle anderen Menschen zusammen.“

Zhiliao aber sprach so:

„Ich dagegen bin zutiefst davon überzeugt, dass es eine solche Stätte gibt. Ob es nun Shangri-La im Süden ist, oder ob es die drei Inseln dort im fernen Ostmeer sind: Es gibt diese Eilande der Glückseligkeit und des ewigen Lebens.“

Yüo errötete.

„Herr, ich wollte nicht...“

„Schon gut. Du bist jung, du bist unerfahren und du weißt noch nicht viel. In einem allerdings hast du Recht: Es wird niemand diese Inseln finden ... und auch nicht den Ort Shangri-La. Jedenfalls nicht in diesem Leben. Das heißt aber nicht, dass diese Orte nicht da sind!“

Der Arzt beugte sich vor, nahm Yüos beiden Hände zwischen die seinen und sprach väterlich: „Siehe, die Erzieherin, jene, die dir in Kindheitstagen schon zeigte, dass du ein Mann bist, fragte dich nach dem Weg, nicht nach dem Ort. Kennst du den Weg, fragte sie. Kennst du ihn?“

„Herr, ich sagte doch schon, niemand ...“

„Wenn es auch keiner Menschenseele gelingen wird“,

unterbrach der Seelenschauer und fuhr fort,

„den Ort der acht Unsterblichen zu erreichen: Auf den Weg dahin aber sollte sich jeder begeben. Und dieser Weg wird für jeden von uns anders aussehen. Ich denke, der Traum will dich auf diesen Pfad schicken.“

„Und woran erkenne ich, ob ich auf dem richtigen Wege bin?“

„Wenn du glücklich bist, wenn du die Angst vor dem Tode verloren hast. Wenn überhaupt Angst und Furchtsamkeit aus deinem Leben verschwunden sind.“

Yüo nickte. Sie nahmen von den süßen Feigen und kosteten von den klebrigen Datteln. Das Weib hatte sie ihnen vorgelegt. Als Yüo zu ihr aufschaute, flog ein bunter Schmetterling vorbei. Zhiliao aber wollte das Gespräch über den Traum fortführen und er sprach so:

„Dieser Fremde ... Guang hieß er doch ... sprach dich also mit deinem Namen an?“

„Ja, Herr, es war Guang.“

„Und auch das Weib, bevor du erwachtest, nannte dich bei deinem Namen?“

„Ja. Aber was hat das nun wieder zu bedeuten?“

Der Seelenkundige antwortete nicht gleich, wusste er doch, dass der junge Mann sich allzu schnell fürchtete. Furcht jedoch brauchte Yüo nicht zu haben.

„Aus meiner Erfahrung weiß ich um diese Angelegenheit. Das Hören des eigenen Namens im Traum bedeutet die Selbstannahme. Du, Yüo, Sohn des Bauern Ku, sollst selbst zu dir Ja sagen. Zu deinem Wesen, deinen Vorzügen, deinen Erlebnissen in der Kindheit; zu deinen Schattenseiten und ... zu deinem neuen Weg! Du musst dir selbst auch vergeben, wo du meinst schuldig geworden zu sein. Hoffe nicht nur auf die Verzeihung der Götter.“

„Wirklich? Ist es so? Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass ich mir auch selbst vergeben muss. Ich bin innerlich nicht so stark, wie es nach außen hin scheinen mag. Ich bin so leicht zu verunsichern.“

„Das ist etwas anderes. Aber sei ehrlich: Du willst doch mit niemandem auf dieser Welt tauschen, oder?“

„Ja, ich meine, nein. Herr, mit niemandem will ich tauschen. Ich bin froh, der Yüo zu sein. Trotz aller meiner Fehler und aller meiner dunklen Seiten.“

„Siehst du, du willst du selbst bleiben. Das ist schon mal ein wichtiger Schritt. Sicher wirst du auch bald dahin kommen, ganz Ja zu dir zu sagen, so wie ich es eben meinte. Du wirst es schaffen. Ich glaube an dich!“

„Danke, mein Herr. Was aber ist mit den Sinnbildern, die ich im Traume sah? Was wollen diese mir sagen?“

„Solche Zeichen wollen in unserem Leben wie Brücken sein, die Gegensätze überspannen. Sie leiten ein Zwiegespräch mit der anderen Seite unserer Person ein, damit wir zu neuen Erkenntnissen und neuen Erfahrungen kommen und sie setzen Kräfte in uns frei, um die Ängste in unserem Leben zu besiegen.“

„Herr – verzeih – ich befürchte, ich habe dich nicht verstanden.“

„Ja, es war wohl zuviel für dich.“

Ein leichtes Lächeln ging um die Lippen des Heilers.

„Nicht zuviel – zu schwer war es.“

Yüo lächelte zurück.

„Nun schau. Ich will es dir noch einmal erklären. Zwei Sterne waren zu einem einzigen verschmolzen. Stimmt es?“

„Ja, Herr.“

„Dies ist das Zeichen für eine neue und gute Herrschaft.“

„Wird es einen neuen Kaiser geben?“

„Das ist nicht sicher. Vor allem, ob es ein guter Kaiser wird. Denke an die Vergangenheit.“

Zhiliao machte eine Pause und sprach so:

„Ich glaube es wird aus deinem Traum heraus irgendwo eine neue Herrschaft für dich beginnen. Mich deucht, der Guang hat damit etwas zu schaffen. Ich will dir gerne weiter sagen, welche Gedanken ich dazu habe.“

„Ja, Herr, ich bin gespannt.“

„Nun, die beiden verschmolzenen Lichter sagen dir, dass über deinem Leben ein neuer Stern aufgegangen ist. Schon immer war dies ein Zeichen des Umbruchs. Gewiss wird es in deinem Leben einen entscheidenden Wandel geben. Etwas Neues wurde in dir gezeugt und bald wird es sichtbar werden und es wird aufbrechen wie ein Weizenkorn.“

Yüo schluckte und war ergriffen. Mit halb offenem Mund lauschte er, was sein Gegenüber weiter zu sagen hatte.

„Wie du schon erwähntest, hatte dich der Guang tief beeindruckt. Ich sprach auch schon von dem Guang und glaube, dass die vereinten Sterne auch auf ihn hinweisen wollten.“

Zhiliao ließ eine Pause folgen und sprach dann weiter:

„Dass nun aber der goldene Vogel auf seiner Schulter saß, jener Vogel, der dem Kaiser eine neue Vorstellung vom Jenseits und von Glaubensdingen ankündigte, bedeutet, dass du ihm folgen sollst.“

„Warum? Und wie soll ich ihm folgen? Soll ich bis an den Rand der Welt ziehen? Ich weiß ja gar nicht, wo er sich jetzt aufhält?“

„Warte. Auf deine erste Frage will ich so antworten: Ich weiß nicht, woher es ist, aber dieser Guang wird ganz offensichtlich der Träger einer neuen Glaubenswelt sein. So jedenfalls deute ich das Bild. Ich sagte dir ja, dass die Sinnbilder eines Traumes allen etwas zu sagen haben. Guang wird die Welt verändern. Frage mich nicht, warum und wie und weshalb. Er wird es tun.“

Sprach Yüo:

„Herr, Guang kam aus einer fremden Welt vom äußersten Westen noch weit hinter dem Lande Tienchou. Er war ergriffen von der Lehre des Prinzen. Das wird es sein.“

„Nun, ich weiß es nicht. Mich deucht, es ist mehr als dieses. Aber wie dem auch sei. Auf deine zweite Frage will ich so antworten: Natürlich sollst du nicht bis an den Rand der Welt ziehen, um Guang zu folgen. So war es auch gar nicht gemeint. Sagtest du nicht, dass seine Ausstrahlung dich beeindruckte und dass er ruhig und zurückhaltend war, ja, kaum ein Wort sprach?“

„Ja“, antwortete Yüo und ahnte beschämt, was gemeint war. „Siehe, eine solche Aura kann nur haben, wer innerlich heil ist. Dann nämlich richten sich die Dinge um diesen Menschen auf den Frieden aus. Was sind da noch Worte! Folge diesem Beispiel. Erkenne die Widersprüche in deinem Leben und versöhne dich mit ihnen, dann wirst du im Innern ganz gesund. Dazu brauchst du nicht erst alt zu werden. Es kann auch in jungen Jahren geschehen. Du hast ja schon längst damit begonnen.“

Für einen Moment schwiegen sie. Die Blätter der Kastanien, die aus dem Park über die Mauern des Gartens schauten, rauschten, als deuchten sie im Wind wie Küsse einer Geliebten. Zhiliao sprach in die Stille hinein.

„Leider aber gibt es in deinem Leben auch jemanden, der dir folgt, ob du es willst oder nicht.“ Yüo drehte sich hastig um und dann wieder seinem Gegenüber zu.

„Herr, du machst mir Angst.“

„Schon wieder?“

„Verzeih. Aber was meintest du?“

„Es ist Chang, von dem du sprachest. Solange du dich nicht mit ihm versöhnt hast, wird er an dir kleben wie dein zweites Ich.“

„Mmmh, Herr, meinst du wirklich? Und wenn ich es versuche, und er will nicht?“

„Dann hast du deinen Teil getan. Dann wird er von dir weichen. Aber solange du es nicht versuchst, bleibt er dein Schattenbruder.“

Sie sprachen noch lange über dieses und jenes, das die Traumgeister zu Tage gebracht hatten. Sie sprachen auch über das Mannsein und das Begehren, die Lust und die Erfüllung.

„Du hast den Wunsch, mit einer Frau vereint zu sein. Du wünschst dir ein Weib, das dir an Erfahrung weit voraus ist. Nicht wahr, so ist es doch?“

Yüo errötete und nickte leicht mit dem Kopf.

„Doch bedenke, es ist nicht gut und es kann tödlich sein, wenn du in eine bestehende Beziehung einbrichst.“

Yüo nickte und wusste, was sein Gegenüber meinte. Es war das Halsband mit der Quaste, von dem er geträumt hatte.

„Es scheint mir – wenn ich das einmal so sagen darf - dein ganz persönlicher Weg zum Glück führt dich vor allem in die Arme eines Weibes, das frei ist und das dich liebt, nicht weil du interessant aussiehst, nicht weil du etwas darstellst oder dieses und jenes kannst, sondern weil du einfach ‚Du’ bist – der Yüo, der liebenswert ist, so wie er ist mit seinen Stärken und mit seinen Schwächen. Es wird die Frau sein, in deren Augen sich dein ‚Ich’ findet. Ich wünsche es dir jedenfalls von meinem ganzen Herzen.“

Der junge Mann erschauderte innerlich bei diesem Gedanken und sein Herz schlug höher. Ihn durchströmte eine Wärme und es war als würden ihn tausende von Nadeln stechen. Er fühlte sich von göttlicher Liebe durchströmt. – Sprach Zhiliao:

„Noch eines ist mir in dem, was du mir heute alles berichtet hast, aufgefallen.“

„Ja?“

Der Heiler griff zu einer Dattel, brach sie in zwei Hälften und bevor er die eine zum Munde führte, hörte Yüo ihn sagen:

„Du sprachest zweimal von deiner Ma. Wie sie dir von dem neuen Stern und auch von den Inseln der Glückseligkeit erzählt hatte.“

„Ich habe ihr viel zu verdanken.“

„Und?“

Zhiliao hatte dem jungen Mann die andere Hälfte der Frucht gereicht. Gedankenverloren nahm Yüo diese. Würde er später auf sein Leben zurückblicken, würde der Sohn des Bauern Ku immer noch das fragende und gleichzeitig auffordernde ‚Und’ des Zhiliao hören. Lang gezogen und am Ende hoch gesprochen war es. Zhiliao schluckte den Bissen hinunter.

„Hast du es ihr wirklich gedankt?“

Yüo schoss das Blut in den Kopf und er stotterte:

„Herr, ich, ich ... ja, du hast Recht. Meine Ma wurde von mir sehr ungerecht behandelt und...“

Zhiliao unterbrach ihn:

„... Mmh, ich hatte nicht behauptet, du würdest deine Mutter schlecht behandelt haben. Ich hatte nur eine Frage gestellt.“

„Aber du tatest es so, als wüsstest du die Antwort, die ich gerade gegeben habe.“

„Nein, gewiss nicht. Ich habe dieses Thema gewählt, weil ich wissen wollte, wie du mit Frauen umgehst.“

„Wie ich mit Frauen umgehe ..?“

Yüo sprach die Worte so, als wäre er erstaunt und ein wenig ungläubig. Dann aber fuhr er mit festen Worten fort:

“Es gibt ja gar keine Frauen in meinem Leben – außer meine beiden kleinen Schwestern und eben meine Ma ... Was meine Ma anbetrifft, ... Ich habe sie beschimpft und habe sie angeschrien. Aber sie hat mir immer wieder Verzeihung gewährt.“

„Was glaubst du, warum hast du dich ihr gegenüber so verhalten ... trotz des Guten, das deine Ma dir getan hat? Das hat sie doch, oder?“

Yüo brauchte nicht lange in sich hineinzuhorchen, um die Antwort darauf zu finden. Vor seinem inneren Auge sah er die fürsorgende Ma, und er hörte sie singen. Der Heiler aber sah auf Yüos Gesicht tiefe Dankbarkeit und er hörte das Zirpen der Grillen und das Knarren der Äste im Wind des Mittags.

„Herr, du hast ein wichtiges Thema angesprochen. Denn meine Mutter gab mir viel .... vielleicht mehr, als sie meinen Brüdern und Schwestern gab. Aber ihr gedankt in Wort und Taten ... das habe ich wohl nicht.“

„Also ... warum?“

„Ich denke, ich konnte mir ihrer Liebe immer sicher sein. Nie würde sie mich verlassen. Egal, was ich tue, sage, oder nicht tue und nicht sage. Selbst wenn ich mich gegen sie gestellt und sie verleugnet hätte, sie hätte immer zu mir gestanden.“

„Ja ... aber das kann nur die Liebe einer Mutter.“

Zhiliao hatte diese Worte mit einem feierlichen Unterton gesprochen. So, als teilte er dem Yüo ein bisher nicht gelüftetes Geheimnis mit. Aber da war noch etwas anderes, das nachklang. Etwas, was der unbedingten Ergänzung bedurfte. Doch der Seelenarzt schien die dafür notwendige Bemerkung verweigern zu wollen. So schwiegen sie beide – der Gastgeber und der Gast. Die gesprochenen Worte über die unbedingte Liebe einer Mutter aber schwebten durch den Garten. Nach einer geraumen Weile ergriff wieder der Heiler das Wort.

„Erzähle mir weiter und genauer. Wie bist du mit deiner Ma umgegangen? Und überhaupt, wie ging es zu in deiner Familie, in deiner Kindheit?“

Yüo schluckte den nicht vorhandenen Bissen hinunter.

„Da sind meine Geschwister. Der ältere Bruder war mir immer ein Vorbild. So wie er wollte ich sein. Ich bewunderte seine Einfälle und seine Gelassenheit. Dann sind da meine beiden jüngeren Geschwister. Wir spielten viel zusammen. Aber es gab immer wieder Streit und sie verbündeten sich gegen mich und gaben mir die Schuld... Leider war es dann auch die Mutter, die den Kleinen Recht und mir Unrecht gab. Das hat mich, glaube ich, tief verletzt. Dann ist da noch die jüngere Schwester Mei. Sie saß oft auf meinem Schoss und ich habe ihr Geschichten erzählt.“

„Danke. Aber berichte mir mehr über deine Mutter.“

„Ich habe meine Mutter mit bösen Worten beworfen. Ich war voller Jähzorn. Vielleicht war ich so, weil sie mir, gegenüber den jüngeren Geschwistern, kaum Recht gegeben hat.“

„Mag sein,“ meinte der Heiler und bat Yüo, fortzufahren.

„Aufbrausend war ich, und immer musste ich es sein, der zuerst den Reis in die Schale bekam und es musste immer der größte Happen für mich sein.“

„Und?“ Da war es wieder, dieses ‚Und’.

„Nun, natürlich war das nicht immer möglich, denn da waren noch die Brüder und die Schwestern ... und der Vater. Doch gedachte meine Ma mir oft heimlich ein übriggebliebenes Stück Fleisch nach dem Mahle zu, oder den Rest von geschmorten Auberginen oder anderes.“

„Würdest du sagen, dass du im Grunde immer unersättlich warst, dich also Unzufriedenheit in der Kindheit begleitet hat?“

Yüo erschrak. Ja, genau das war es und leider war es bis auf diesen Tag so. Hatte er es nicht in der Kindheit – wie er gerade erzählt hatte – auch so erlebt? Aber unersättlich? Er war sich darüber nicht im Klaren, gab aber zur Antwort:

„Da magst du wohl Recht haben, Herr.“

„Also ... der Erste wolltest immer du sein!“

„Ja, auch den Freunden gegenüber. Ich erinnere mich sehr gut, wie wir eine Bande bildeten, um die Buben eines anderen Wohnviertels zu bekämpfen. Natürlich musste ich der Anführer sein. Doch die meisten der Buben wollten Lüshi.“

„Aber das konntest du nicht dulden, oder?“

„Nein, ganz gewiss nicht. Also redete ich auf alle ein und pries meine Vorzüge an. Ich stritt und wurde böse, ich drohte, den Kreis zu verlassen und äußerte mich über Lüshi abfällig.“

„Was geschah dann?“

„Mit einer Stimme mehr wurde ich zum Anführer gewählt. Aber...,“

Yüo sprach es in einem Atemzug mit dem zuvor Gesagten, um der unvermeidlichen nächsten Frage des Seelenheilers zuvorzukommen. „... Aber es zeigte sich, dass die Freunde insgeheim mehr auf Lüshi hörten, als auf mich. Ich sei zu bang, zu verschreckt, könne mich nicht entschließen, was zu tun sei, sagten mir die anderen später.“

„Ja, ja. So ist es halt, wenn wir etwas erzwingen wollen, was gar nicht vorhanden ist. Ein wirkliches Oberhaupt zu sein, ob in der jugendlichen Bande, in einer Stadt, oder in einem Reich wie dem unseren, ist etwas anderes als Anmaßung.“

Das Weib brachte grünen Tee und schenkte den in der Tiefe Redenden davon in die Schalen. „Mein Gemahl“, sprach sie und verbeugte sich leicht, „es ist schon spät und ...“

„Ja, ich weiß, mein Täubchen. Xie, xie, doch wir sind gleich am Ende.“

Der Heiler deutete auf den Gast, und das Weib zog sich wieder in das Haus zurück. Dieses Mal blieb Yüo mit seinen Gedanken bei sich.

„Mein Lieber“,

sprach der Gastgeber und beugte sich wieder zu dem Yüo vor.

„Lasse mich dir noch eine Frage stellen und dann will ich dir zum Schluss etwas aufzeigen. Ich bin auch sicher, du wirst mir in dieser Sache zustimmen: War es so, dass die Ma in der Familie die Stärkere war und der Vater ihr unterlegen? Ich meine nicht körperlich gesehen, sondern...“

„Ja gewiss, genauso war es.“

Yüo berichtete nun von den Zornesausbrüchen seines Vaters, von seinen Ungerechtigkeiten und seinem Eigenwillen. Auch von der schweren Erkrankung des Vaters und seiner Drohung der eigenen Frau und den Kindern gegenüber. Wie die Mutter oft helfend eingreifen musste und wie durch sie, durch ihre Behutsamkeit und Nachgiebigkeit wieder alles zur Ruhe kam. Er sprach aber auch – weil es ihm weh tat, so über den Vater berichten zu müssen – von den Vorzügen des Pas. Wie unermüdlich er für die Familie arbeitete und sorgte, wie gut er Geschichten erzählte und wie oft er die Kinder herzte. Doch der Heiler schien die letzten Worte überhört zu haben denn er sprach jetzt so:

„Deine Ma war ganz offensichtlich beherrschter als der Vater es war. Vielleicht wolltest du der Ma gegenüber den Vater verteidigen.“

Yüo nickte mit dem Kopf und presste dabei seine Lippen gegeneinander. Niedergeschlagen wirkte er und nicht ermutigt. Zhiliao beugte sich noch mehr hinüber, fasste den Yüo sanft bei den Schultern, richtete ihn auf und sprach:

„Bedenke, du hattest diesen schrecklichen Unfall. Die Geborgenheit wurde dir genommen und dein Leben wäre dir auch fast genommen worden. Es ist nicht deine Schuld. Aber weil dein Leben nun einmal so verlaufen ist, hast du dich schon als kleiner Junge entschieden, aus ihm ein Kampffeld zu machen. Und das ist doch recht so! Ich hätte es sicher auch so getan, wenn...“

Yüo sah erstaunt auf und hörte weiter, was der Weise zu sagen hatte. Zhiliao hatte seine Hände weggezogen und sich nun zurückgelehnt.

„Durch deine Abwehr, deine Schutzwälle, die du um dich herum errichtest hast, durch dein Blenden, durch dein Bestreben, immer der Erste sein zu wollen, immer das Meiste haben zu wollen, nie zufrieden zu sein und womöglich immer nur alles schwarz oder weiß zu sehen, ist genau das entstanden, was du heute bist und was du heute empfindest.“

Yüo schien erleichtert und sprach.

„Du bist sehr weise. Wie kann ich dir das nur entlohnen?“

Ein Lächeln huschte über des Anderen Gesicht. Statt aber darauf einzugehen, meinte der Heiler:

„Du musstest dich so behaupten und du musstest dich so scharf gegen das Weibliche abgrenzen, um ein Mann zu werden. Nur sieh zu, dass du es für die Zukunft nicht bei diesen Waffen belässt ... dass du nicht in deiner Kindheit stehen bleibst.“

Yüo nickte und Zhiliao sprach:

„Du bist jedenfalls auf dem Wege, ein Mann zu werden. Das hat dir auch der Traum gezeigt. Ich freue mich mit dir.“

„Danke, lieber Zhiliao.“

Einen letzten Schluck nahmen sie von dem Tee.

„Es gibt da noch etwas, wo de peng you.“

Yüo war zumindest erfreut über die Vertraulichkeit, die in der Wortwahl lag.

„Herr, es ist nun schon soviel, was du mir Wahres vor Augen geführt hast. Aber nur zu. Der Weg zu dir war weit und wer weiß, wann ich wieder nach Qarhan komme...“

„Oh, du musst wieder kommen. Denn wir sollten noch ausführlich über deinen Unfall reden.“

„Ja, das wäre nicht schlecht, aber was wolltest du mir jetzt noch sagen?“

„Ah ja, natürlich. Ich wollte sagen, dass du deinen Wert aus dir selbst heraus erkennen solltest und nicht, indem du die Menschen um dich herum niedermachst, in Worten oder auch in Gedanken. Das meinte ich mit den Waffen, die ich eben erwähnte. Du verstehst sicher, was ich meine.“

„Ja, oh Zhiliao.“

„Glaube mir. Das alles habe ich dir auch deshalb gesagt, damit du verstehst, warum du dich in deiner Kindheit so und nicht anders verhalten hast. Ich wollte dir etwas gegen dein schlechtes Gewissen in die Hand geben, wollte deinen inneren Vorwürfen damit entgegentreten und ich wollte dir den Weg für eine bessere Zukunft aufzeigen.

Satt wirst du nur, wenn du bereit bist, zu verzichten. Zur Ruhe kommst du nur, wenn du wartest, anstatt zu erwarten.“

Das waren mächtige Worte. Yüo bedankte sich mit einem

„Xie, xie.“

„Nun mein Freund, ich hoffe sehr, dir geholfen zu haben.“

Der Seelenkundige hatte sich erhoben und Yüo tat es ihm gleich. Sie klopften ihre Kleider zurecht und richteten diese. Yüo wusste nicht, wie er seinen Helfer entlohnen sollte und sprach deshalb erneut so: „Herr, wie nun kann ich dir es danken?“

Der Sohn des Bauern Ku fasste verlegen an seine Gewandtaschen. „Komme in einem Jahr wieder. Genau an diesem Tag und zu dieser Stunde. Dann gebe mir, was du meinst, dass meine Ratschläge wert gewesen sind. Möge es in deiner Seele arbeiten. Mag sein, ich bin nicht der Erste, der dir dies sagt: Lebe dein Leben, lebe aus, was du begehrst. Du musst beide Seiten kennen lernen, damit du in der Mitte zur Ruhe kommst. Ich wünsche dir von Herzen, dass es dir gelingt. Doch bei allem bedenke, niemandem zu schaden und bringe dich selbst nicht in allzu große Gefahr.“

Der Seelenarzt schaute gütig und doch irgendwie streng und sprach: „Diesen Rat gebe ich dir nun noch: Achte darauf, dass du die Frau, der du begegnen wirst ... oder mögen es auch mehrere sein ... nicht so behandelst, wie du es mit deiner Mutter getan hast. Deine Ma war die erste Frau in deinem Leben ... aber lasse sie nicht auch noch die Letzte sein.“

Ende Teil 1

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